In seinem Handbuch für IT-Projekt-Management vergleicht Autor Pascal Mangold Großprojekte mit einem Sprung vom Fünfmeterbrett: Den Springer plagt Schwindel, er weiß nicht, wohin er seinen Blick wenden soll - und wenn er schon einen Bauchklatscher hinter sich hat, kostet der Sprung noch mehr Überwindung. Bei DB Schenker hat sich dieses Unwohlsein mittlerweile gelegt. Seit einigen Jahren arbeiten die Logistiker am Großprojekt "Tango", das nach und nach 32 lokale Systeme ersetzen soll. Bereits vor Tango gab es ein Projekt mit diesem Ziel, doch "Salsa" brachte nicht den gewünschten Erfolg, bis IT-Vorstand Peter Schumann es schließlich abbrechen ließ.
Eric Schott, Geschäftsführer der Projekt-Management-Beratung Campana & Schott, lobt dieses Vorgehen: "Viele haben nicht den Mut, ein Projekt zu stoppen und radikal neu aufzusetzen." Häufig würde viel zu lange halbherzig nachgebessert, etwa durch den Austausch des Projektleiters oder das Streichen eines Teilprojekts. Da findet Schott es deutlich besser, gezielt auszusteigen und sich in einer Übergangsphase noch einmal gründlich Gedanken zu machen: "Wer das beherzigt, kann mit einem klaren Kopf das Redesign angehen." CIO Peter Schumann hat die Sprungpause außerdem dazu genutzt, eine Liste von zehn Erfolgsfaktoren für internationale Großprojekte zu erstellen:
1. Globales Commitment
Wenn ein Projekt zentrale Geschäftsprozesse im Unternehmen umkrempelt, dann muss die Business-Seite davon überzeugt sein. Die nahm vor Tango an, dass die Prozesse für Luft- und Seefracht einfach zu unterschiedlich wären, um sie in einer gemeinsamen Anwendung bearbeiten zu können. Bei den Vorbereitungen kam dann heraus, dass es eine Überlappung von 80 Prozent gab. Auf weltweiten Management-Meetings wurde das Commitment der Business-Seite erarbeitet. Dass die Geschäftsvision im Vorfeld von Tango akzeptiert wurde, ebnete dem Projekt den Weg. "Jeder muss anerkennen, dass das nun die Vision ist und dass alle in diese Richtung laufen. Sonst muss das IT-Projekt hinterher einen Streit der Business-Seite schlichten", sagt Schumann.
2. Ressourcen bereitstellen
Wer ein großes Projekt anschieben möchte, darf nicht an den falschen Stellen sparen. Personal, Geld, Räume und Tools sind Positionen im Großprojekt, die kosten. "Man muss Geld in die Hand nehmen und Aufwand sowie Zeit in Kauf nehmen", sagt Schumann. Der CIO weiß, wovon er spricht: "Beim Tango-Vorgängerprojekt Salsa haben wir den Low-Budget-Ansatz gefahren, das durfte alles nichts kosten. Keine externe Unterstützung, möglichst preiswerter Lieferant, die Low-Cost-Architektur." Die Salsa-Erfahrung habe ihn gelehrt, dass man beim Projekt-Management nicht an den falschen Stellen sparen dürfe.
3. Organisatorische Aufhängung
"Über die organisatorische Aufhängung von Tango haben wir lange diskutiert", erzählt Schumann. Ob Tango im Business oder in der IT verortet werden solle, wer der Sponsor sei und wer im Steering Committee sitze. Dabei ist auch zu bedenken, dass die nominierten Personen dranbleiben müssen. "Man sollte sich keinen Sponsor holen, der am Ende keine Zeit hat", empfiehlt Schumann. Deshalb sollte man unbedingt einen Sponsor ins Projekt nehmen, der am fertigen Produkt interessiert ist. Einen persönlich Betroffenen also.
Der Auftraggeber von Tango ist beispielsweise der Vorstand der Schenker AG für Luft- und Seefracht. "Er hat ein vitales Interesse daran, dass dieses Projekt erfolgreich ausgerollt wird, also ist er der richtige Sponsor. Wir haben seither eine Super-Unterstützung aus dem Business", sagt Schumann. Angehängt wurde das Projekt dann bei Schumann in der IT. Das habe man so entschieden, weil er mehr Zeit dafür aufbringen könne als der Sponsor. Das DB-Schenker-Team bestehe zu 80 Prozent aus Fachleuten, Spediteuren. Zählt man die Lieferanten mit, arbeiten zurzeit etwa 55 Fachleute und rund 120 ITler an Tango. Das geht dann bis zum Entwickler und Tester.
4. Projektteam aufsetzen
Projektleiter, technischer und fachlicher Architekt, Qualitäts-Manager und Change-Manager sind im Tango-Team ohne Ämterhäufung besetzt. "Bei Salsa haben wir einige dieser Rollen vergessen beziehungsweise hatten die alle in einer Person vereint. Der Projektleiter war zugleich der technische und fachliche Architekt und Change Manager, er war alles in einer Person", sagt Schumann. Dass das so nicht funktionieren konnte, habe man zu spät erkannt. "Das sind spezialisierte Rollen, die eine Person allein nicht erfüllen kann. Ich kann nicht ein guter Facharchitekt und ein guter technischer Architekt zugleich sein", weiß Schumann heute.
Der DB-Schenker-CIO ist selbst bis nach Australien gereist, hat dort Kandidaten interviewt und dem dortigen Landesleiter das Projekt schmackhaft gemacht. "Wir haben nun Mitarbeiter aus 20 Ländern im Projekt, die an verschiedenen Standorten arbeiten", sagt Schumann. Bei Tango ist ein großer Teil des internen Teams in Singapur. "Zwischen Essen und Singapur herrscht ein reger Reiseverkehr", sagt Projektleiter Jroslav Blaha. Wer nicht mobil ist, passt nicht ins Team.
Neben dem fachlichen Know-how war es Schumann bei der Auswahl der Kandidaten wichtig, dass diese
flexibel und international sind und die Projektsprache Englisch anerkennen. Projektleiter Blaha erklärt: "Es wäre unglaubwürdig gewesen, nur Deutsche ins Team aufzunehmen. Dann hätten andere Nationen geglaubt, sie bekommen ein deutsches System vorgesetzt." Ein entscheidender Vorteil liege auch darin, dass viele Mitarbeiter nach dem Roll-out mit dem notwendigen Know-how in ihr Land zurückkehren und sich mit dem Projekt auskennen. Schumanns Fazit: "Finden Sie gute Leute, die hinterher auch mit diesem Programm arbeiten müssen. Die haben die größte Motivation."
5. Projektmethoden verabreden
"Die meisten Projekte scheitern, weil die Leute denken, sie können all die Dinge die im Lehrbuch stehen, überspringen", sagt Projektleiter Blaha. Wer bei einem so großen Projekt aber etwa beim Change-Manager oder beim Risk-Manager spart, wird auf die Nase fallen. Deshalb habe man sich bei Tango bewusst dafür entschieden, es so zu machen, wie es im PM-Lehrbuch steht. Dabei ist es kein bestimmtes Buch zum Projekt-Management, das bei Blaha auf dem Schreibtisch liegt, gemeint. Der Tango-Projektleiter rät: "Nehmen Sie irgendein Lehrbuch. Hauptsache, Sie nehmen es und tun das, was da drinsteht." CIO Schumann tat sich mit diesen Methoden anfangs schwer. "Wir sind ein Logistikunternehmen. Da fällt es schwer, wenn zum Beispiel einer kommt und sagt, wir brauchen jetzt ein Risk Board. Jeder Mitarbeiter konnte Risiken einstellen, und da waren schnell Hunderte drin, die dann behoben werden mussten. Solche Prozesse kannten wir nicht."
6. Lieferantenauswahl
"Sie müssen einen Lieferanten finden, der für ein so großes Projekt geeignet ist", weiß Schumann. Bei Salsa wurde der falsche Lieferant ausgewählt, aus diesem Fehler hat der DB-Schenker-CIO gelernt: "Nachdem wir beim ersten Mal in die billige Kiste gegriffen hatten, haben wir für Tango doch eher den BMW gewählt." Der BMW ist die Capgemini-Tochter sd&m, ein Lieferant mit ausreichend Referenzen, Erfahrung und Größe. Größe soll heißen: Für ein globales Projekt muss mit einem globalen Lieferanten gearbeitet werden. Ein weiterer Erfolgsfaktor beim Umgang mit den Lieferanten ist die Integration ins Projektteam. Bei Tango nehmen Vertreter der großen Lieferanten an den alle sechs Wochen stattfindenden Steering Committees teil. Auch in den Projektbüros selbst findet keine Aufteilung statt. Ein Rundgang durch die Essener Tango-Büros verrät, dass hier in jedem Büro DB-Schenker-Mitarbeiter gemeinsam mit Lieferanten sitzen.
7. Technische Architektur verabreden
Bei einem so großen Projekt wie Tango darf die technische Architektur nicht nur für den Moment geeignet sein. Deshalb bewertet Schumann die Auswahl eines geeigneten Architekten als essenziell: "Bei so einem großen Projekt brauchen Sie einen Architekten im Haus, der ein gutes Gespür dafür hat, wo die IT in fünf Jahren stehen wird." Wenn so ein Architekt nicht im Haus verfügbar ist, dann müsse er zugekauft werden. Zumal die technische Architektur von Tango eine Herausforderung ist. "Man muss die Software aus allen Ländern weltweit nutzen können, hat also Latenzen von bis zu 300 Millisekunden zwischen dem Anwender und dem System", sagt Schumann. Das System des gescheiterten Vorgängerprojektes Salsa sei im Vergleich zum Tango-System sehr geschwätzig gewesen. So etwas gehe bei hohen Latenzen im Netzwerk nicht. Deshalb wurde die alte technische Architektur komplett verworfen.
8. Vertragsgestaltung
Ist der geeignete Lieferant für ein Großprojekt ausgewählt, geht es daran, den Vertrag zu gestalten. Bei DB Schenker entschied man sich dafür, einen Festpreisvertrag auszuhandeln. Keine einfache Aufgabe, berichtet Peter Schumann: "Es ist schwer, über solche Summen und eine solch lange Laufzeit einen Festpreisvertrag abzuschließen." Der DB-Schenker-CIO weiß: "In diesem Fall müssen Sie die Spielregeln genau festlegen." Allgemein sollte gelten: Die vereinbarten Methoden müssen zum Projektvorgehen passen. Agile Methoden wie zum Beispiel Scrum passen nicht zwingend zu einem Festpreisumfeld.
9. Umsetzung des Projekts
Geht es an die Umsetzung eines so großen Projekts wie Tango, ist Konstanz ein großer Erfolgsfaktor. "Man muss dafür sorgen, dass die Leute bei der Stange bleiben. In drei Jahren gab es bei Tango kaum personelle Veränderungen", sagt Projektleiter Blaha. Die anfangs beschriebene Vision des Projekts sollte so angelegt sein, dass es die Mitarbeiter mit Stolz erfüllt, an diesem Projekt beteiligt zu sein. CIO Schumann ergänzt: "Besonders wichtig ist es auch, dass der Support von Seiten des Business über die Jahre aufrechterhalten bleibt."
Scope Control ist für Schumann und Blaha ein bedeutendes Instrument bei der Umsetzung eines Großprojektes. Sie beeinflusst den Projekterfolg, da so gewährleistet ist, dass Scope-Änderungen kommuniziert, vorgelegt und gemanagt werden. Bei DB Schenker bekommen Projekte ab einem Umfang von 2,5 Millionen zusätzliche Aufmerksamkeit. Dann schaltet sich die in Berlin ansässige Gruppe Project Assurance mit in den Projektverlauf ein. Ein Vertreter nimmt am Steering Committee teil und gibt eine zweite Meinung ab. Die Second Opinion dient nicht als Kontrolle, sondern als Feedback. "Das ist bei großen Projekten ein sehr nützliches Element, auch wenn wir es am Anfang zunächst als Überwachung empfunden haben", sagt Schumann.
10. Roll-out
Beim Roll-out gilt: nicht zu lange warten. "Die Leute draußen müssen relativ schnell etwas vom Projekt zu sehen bekommen", sagt DB-Schenker-CIO Schumann. Es sei dabei auch nicht die Frage, wie lange so ein Großprojekt insgesamt dauern darf, sagt Projektleiter Blaha. "Man muss sich vielmehr fragen, wie lange das Projekt brauchen darf, bis es die erste nutzbringende Funktionalität bietet", erläutert er. Die Prämisse bei Tango sei es gewesen, nach einem gewissen Anlauf einmal im Jahr in einem großen Block Funktionalität zu liefern. "Sie können nicht drei Jahre im stillen Kämmerlein sitzen und dann präsentieren Sie die Überraschung. Das hält draußen keiner so lange aus", sagt Schumann.
Tango wurde in vier Ausbaustufen unterteilt: Luftfracht-Import, Seefracht-Import, Seefracht-Export, Luftfracht-Export. Anfang 2010 wird das dritte Modul in Singapur und Deutschland eingeführt. Mit dem vierten Modul ist das Projekt dann komplett, und man werde parallel in allen globalen Regionen den Roll-out fortsetzen.
Viel auszusetzen hat Projekt-Management-Experte Eric Schott nicht an den zehn Erfolgsfaktoren, die DB-Schenker-CIO Peter Schumann aufgestellt hat. Ein Punkt, der ihm besonders gut gefällt, ist Schumanns enge Anbindung ans Business: "Die verzahnte Zusammenarbeit mit den einzelnen Fachbereichen ist ein zentraler Punkt. Eine gesondert organisierte Projektkommunikation muss permanent die sich verändernden Erwartungshaltungen und resultierenden Entscheidungsbedarfe erfassen", sagt er.
Einen Verbesserungsvorschlag hat Schott dann aber doch. "Gerade mit Blick auf künftige Projekte würde ich einem Großkonzern empfehlen, sich an einem der beiden wichtigen Projekt-Management-Standards zu orientieren", sagt Schott. Ob man sich dabei für die Richtlinien des Project Management Institute (PMI) oder der International Project Management Association (IPMA) entscheiden soll, hängt für den Projekt-Management-Experten letztlich von der jeweiligen Unternehmenskultur ab. "Die Umsetzung solcher Standards, mit Augenmaß angepasst an die Belange des eigenen Unternehmens, erscheint mir wichtiger als die Frage nach dem richtigen Lehrbuch", so Schott.
Veränderungen bei Schenker
Betrachtet man in diesem Zusammenhang noch einmal Pascal Mangolds Bild vom Springer auf dem Fünfmeterbrett - wie hat er sich verändert? Bei DB Schenker bewegen sich die Teammitglieder mittlerweile galant durch die Höhe. Der Blick wandert nicht mehr unsicher umher. Durch die sorgfältige Vorbereitung und eine klar strukturierte und professionell kommunizierte Vorgehensweise scheint es den Kollegen sogar Spaß zu machen, ins kalte Nass zu springen.