Da ist viel Wandel im Jahr 2021 - sei es in Medien, Politik oder Sport. Bei "Deutschland sucht den Superstar" hört Dieter Bohlen nach mehr als 18 Jahren als Chefjuror auf. Nach 17 Jahren wird die Samstagabendshow "Willkommen bei Carmen Nebel" abgesetzt. Und, weiter gefasst: Nach 16 Jahren tritt Kanzlerin Angela Merkel im Herbst ab, nach 15 Jahren im Sommer Bundestrainer Joachim "Jogi" Löw. Welche Gewissheiten kommen bei alledem unter die Räder?
Diese Abschiede sind ja nicht alles an gesellschaftlichem Wandel, den es zu verarbeiten gilt: Schon zum zweiten Mal nach der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 reden manche in Deutschland von einem Staatsversagen - nun geht es ums Impfen gegen das Coronavirus. Die Parteienlandschaft und die Koalitionen werden immer bunter. Debatten im Netz beschäftigen sich mit Geschlechtergerechtigkeit, was Gegner gern als "Gender-Gaga" bezeichnen. Gerade in der Coronakrise scheint sich bei vielen das Gefühl festzusetzen, nicht mehr mitzukommen.
"Veränderungen in Fernsehen, Sport und Politik sind nur Teil des viel umfangreicheren Wandels, in dem wir gerade leben", meint Joan Bleicher von der Universität Hamburg. "Da gerade die großen Bezugspersonen, für viele auch Vorbilder, uns verlassen, verstärkt sich das Gefühl der Unsicherheit." Für die "Nachfolger*innen" von Merkel, Löw und Bohlen werde es besonders herausfordernd, sich als neue Konstanten zu etablieren, sagt die Medienwissenschaftlerin.
Am Tag der Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg kommentierte der 43 Jahre alte Autor und Moderator Micky Beisenherz bei Facebook ironisch das Lebensgefühl der Überforderung und die Flucht in Nostalgie: "Ich will meine deckenwarm-dumme BRD zurück!" Genau die - also die frühere Bundesrepublik - sieht der Münchner Historiker Andreas Wirsching jetzt tatsächlich am Ende.
"Im Grunde erleben wir - zeitversetzt - den endgültigen Übergang von der alten Bundesrepublik in die Berliner Republik, wobei paradoxerweise mit Angela Merkel eine Ostdeutsche den Weg wies", sagt der Professor für Neueste Geschichte. "Das Ende ihrer Kanzlerschaft im Jahre 2021 ist ein starkes Symbol dafür, dass nun das 20. Jahrhundert wirklich zu Ende ist und dass wir einer Zukunft mit vielen Unbekannten entgegen sehen."
Vom geordneten Drei-bis-vier-Parteien-System sei eh nicht mehr viel übrig, führt Wirsching aus. Auch die einstige Übersichtlichkeit der Medienlandschaft, die Berechenbarkeit der Bildungseinrichtungen, die Stabilität der Arbeitswelt oder die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems gebe es nicht mehr wie früher.
Wo ist die deutsche Selbstgerechtigkeit?
Die Corona-Pandemie ende im Frühjahr 2021 wohl noch lange nicht, sagt Wirsching. Mit steigenden Inzidenzen und sinkenden Impfvorräten grabe sie sich immer tiefer ins Gewebe der Gesellschaft. "Was dagegen zu Ende geht, ist - endlich - diese deutsche Selbstgerechtigkeit, die immer davon überzeugt war, es besser als die Nachbarn zu machen." Die prekäre Gewissheit, effizienter zu sein als die anderen, technisch avancierter, besser organisieren zu können: "Das ist schon seit vielen Jahren schlicht zur Lebenslüge der Deutschen geworden."
Diese Lebenslüge habe dem Abstieg der Deutschen Bahn und dem Desaster um den Berliner Flughafen getrotzt, meint Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. "Die Bildungsmisere und der Digitalisierungsrückstand, sogar das Desaster der Fußball-WM 2018 konnten ihr nichts anhaben. Jetzt aber, im Jahre 2021, endet sie angesichts der dritten Corona-Welle, des Impfdebakels und mit Blick auf den Bürokratismus und die Hilflosigkeit, in der Politik und Gesellschaft zu versinken drohen." Nicht zufällig sprächen Medien schon zum zweiten Mal nach 2015 vom Staats- und Politikversagen.
Scheinbare Garanten von Erfolg und Stabilität
"Die scheinbaren Garanten von Erfolg und Stabilität verlassen 2021 die Bühne. Angela Merkel geht, Jogi Löw hat seinen Rücktritt angekündigt, und selbst Dieter Bohlen hört nach fast 20 Jahren auf, den Superstar zu suchen", sagt Wirsching - und spannt den Bogen: "Auch die SPD ist nicht mehr, was sie war, und wird 2021 wohl erstmals nicht mehr die zweitstärkste Partei im Bundestag sein. Vom Ende der "Volksparteien" ist ohnehin schon lange die Rede."
Vieles spreche also dafür, dass die Gewissheiten der "alten Bundesrepublik" nach drei Jahrzehnten zu Ende gehen, meint der Historiker. "Gewissheiten, die wie Überhänge aus einer anderen Zeit unsere Vorstellung prägten." (dpa/rs)