Jahreswechselzeit ist - besonders in der IT - auch Glaskugelzeit. Immer spannend ist es dabei, ältere Prognosen hervorzukramen und auf ihrer Treffschärfe abzuklopfen. Vor ziemlich exakt vier Jahren beispielsweise äußerte sich Gartner mit einer klaren Botschaft zum Geschäftsprozessmanagement. Bald schon werde Business Process Management (BPM) für die führenden Unternehmen auf dem Planeten keine "Nice-to-have"-Angelegenheit sein.
Die Kluft zwischen exzellenten Firmen und Nachzüglern wachse bis Ende 2014 immer weiter. "Diejenigen, die BPM annehmen, können Dinge anstellen, die andere nicht können", sagte John Dixon, Research Director bei Gartner, voraus. "Das stimmte schon 2010, aber 2014 wird sich BPM-Kompetenz klar auszahlen."
Trend zu umfassenden Werkzeugen
Nachdem 2014 nun vergangen ist, lässt sich festhalten, dass sich BPM seither tatsächlich enorm entwickelt hat. Das Angebot an Lösungen ist gleichwohl unübersichtlich, in hohem Maße. Passend zum damals von Gartner reflektierten Zeitfenster erscheint, dass das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) in den Jahren 2010 und 2011 einen Marktüberblick zu BPM-Tools vorlegte und das nun nach längerer Pause wieder tut. Selbstredend wird in der Studie analysiert, was sich seither getan hat.
"In der Vergangenheit standen beim Geschäftsprozessmanagement oft abgegrenzte Zielstellungen wie zum Beispiel die Dokumentation und das Verständnis der Abläufe im Fokus", heißt es in der Studie. "Heute haben die Aktivitäten und Maßnahmen direkte Auswirkungen auf nahezu alle Aspekte des Unternehmens und zunehmend ist die gesamte Organisation betroffen, einschließlich der Zusammenarbeit mit externen Partnern."
Die Anbieter hätten diesen Trend aufgegriffen, indem sie zunehmend umfassende Werkzeuge lieferten. "Diese ermöglichen es den Kunden, integrierte Ansätze für das Geschäftsprozessmanagement in den Unternehmen zu implementieren", führt das Institut weiter aus. "Dadurch ist es aber auch schwieriger geworden, die am Markt verfügbaren Werkzeuge zu verstehen, sie miteinander zu vergleichen und zu beurteilen, welches Werkzeug den gestellten Anforderungen am besten gerecht wird."
Selbstdarstellungen der Anbieter
Zur Lösung dieses Problems hat das Fraunhofer IAO - das vorneweg - einen wertvollen Beitrag geleistet. Wer sich die Basis-Studie zu Gemüte führt, kann sich über 28 BPM-Angebote informieren. Das im Übrigen in aller Ausführlichkeit, wenngleich nicht nur aus dem berufenen Munde des Autoren-Trios unter Federführung von Jens Drawehn. Denn das Gros der 272 Seiten sind Selbstdarstellungen der untersuchten Anbieter. Die eigentliche Untersuchung ist eher knapp und prägnant gehalten, wobei das Institut zu einzelnen Aspekten weitere Spezialuntersuchungen erstellt.
Drei Dinge sind zur Studie anzumerken. Erstens, dazu gleich, ermöglicht die Studie tatsächlich einen schnellen Überblick und Vergleich zum Funktionsumfang der untersuchten 28 Lösungen - das jedoch nicht anhand eines klassischen Rankings. Zweitens ist im Zusammenspiel mit den Produktvorstellungen durch die Anbieter selbst eine Fülle vorhanden, die Anwendern die bestmögliche Grundlage zur Auswahl der passenden Lösung aus diesem Tool-Paket bieten sollte. Drittens ist damit aber leider nicht gesagt, dass es im Markt nicht womöglich noch eine bessere Lösung geben könnte.
Studie von Fraunhofer IESE
Präsentiert werden nämlich ausschließlich jene Anbieter, die an der Studie auch teilnehmen wollten. Das ist ein gängiges Problem im BPM-Segment. Vor etwa einem Jahr beispielsweise veröffentlichte ein anderes Fraunhofer-Institut einen Test von BPM-Suites. Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE verglich in Zusammenarbeit mit dem Beratungshaus SP Consulting acht BPM-Tools hinsichtlich ihrer Mächtigkeit und ihres Komforts in aller Ausführlichkeit.
"Das Starterfeld spiegelt damit nicht die aktuelle Marktlage wieder, weil bedeutende Lösungen etwa von IBM, Tibco und der Software AG fehlen", schrieb CIO.de über die Studie des Fraunhofer IESE. "Gerne hätten die Tester eigenen Angaben zufolge mehr Pakete ins Labor geschickt." 55 BPM-Anbieter mit Vertriebsniederlassung in Deutschland wurden damals vom Fraunhofer IESE teils mehrfach angeschrieben, 20 von ihnen reagierten, am Ende konnten nur acht Testergebnisse veröffentlicht werden.
Zur Einordnung erscheint es sinnvoll, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der älteren und der aktuellen Studie hinzuweisen. Das Fraunhofer IAO gibt selbst einen detaillierten Überblick über diverse andere Vergleichsuntersuchungen und Datenbanken. Wie vom Fraunhofer IESE werden gut 50 Anbieter als für den deutschen Markt relevant erachtet. 28 Stück davon konnten unter die Lupe genommen werden - einerseits also nur gut die Hälfte der Kandidaten, andererseits ergibt das nach Lage der Dinge auf jeden Fall eine der breitest angelegten Analysen, die bisher hierzulande veröffentlicht wurden.
IBM und Tibco fehlen - Software AG ist dabei
Von den seinerzeit beklagten Leerstellen fehlen auch in der neuen Studie die Lösungen von IBM und Tibco, dafür beteiligte sich die Software AG. Aus dem Top-Trio der Fraunhofer IESE-Studie fehlt beim Fraunhofer IAO Bizagi, dafür sind Axon Active und Bosch SI mit dabei. Mit Prologics gilt das für einen weiteren Teilnehmer der älteren Studie, dafür fehlen SAP, Camunda, Vitria und Adobe. Kurz und gut: Nur drei der acht der vor einem Jahr analysierten Anbieter sind auch im 28er-Pack.
Die untersuchten Werkzeuge sind zum Teil seit den 1970er- und 1980er-Jahren auf dem Markt, wobei Namen und Anbieter zum Teil wechselten. "Einige der bekannteren Fälle sind die Übernahme der IDS Scheer durch die Software AG im Jahr 2010, die Übernahme von iGrafx durch Corel im Jahr 2001 und die im Jahr 2011 erfolgt Ausgliederung in das eigenständige Unternehmen iGrafx und die Übernahme von inubit durch Bosch SI im Jahr 2011", erläutert Autor Drawehn. "In der Vergangenheit haben die Anbieterwechsel aber nicht dazu geführt, dass die Produkte im großen Stil umgestaltet bzw. neu ausgerichtet wurden, in der Regel wurde die Geschäftstätigkeit der ursprünglichen Anbieter weitergeführt."
Sechs Funktionsbereiche
Das erste zentrale Ergebnis der Studie ist die Antwort auf die Frage, ob grundlegende Funktionsbereiche von BPM-Werkzeugen unterstützt werden. "Ein Großteil der GPM Produkte verfügt heutzutage über Funktionen zur Ausführung von Management-Prozessen wie der Freigabe von Prozessmodellen und Dokumenten, der Abwicklung von Änderungsanträgen und dem Ausfüllen von Formularen", heißt es in der Studie. "Es gibt aber auch Produkte, die die Implementierung von Workflows auf Basis der Prozessmodelle in umfassender Form unterstützen." Gecheckt wurden vom Institut sechs Funktionsbereiche, deren Aufgaben vom Fraunhofer IAO so definiert wurden:
1. Modellierung: Erstellen von (Prozess-)Modellen, Verwendung geeigneter Notationen und Modellierungsleitfäden, Modellprüfungen, Verfügbarmachung der Modelle, Erstellung von Dokumentationen
2. Analyse: Erfassen von Kennzahlen und weiteren Attributen, Durchführen von Analysen der Modelle, der hinterlegten Kennzahlen und der Attribute, Erstellen von Berichten
3. Simulation: Betrachtung des Laufzeitverhaltens von Prozessen, ggf. mit Untersuchung von Ressourcenauslastung und Warteschlangen
4. Prozessausführung: Ablaufsteuerung von "Management-Prozessen" mit Abarbeitung von Aufgaben durch Akteure
5. Workflow-Implementierung: Erzeugung von Prozessinstanzen modellierter Prozesse, Ausführung der Instanzen mittels Workflow-Engine und weiterer Komponenten wie Postkörbe bzw. Arbeitslisten, Workflow-Formulare, Abarbeitung von Aufgaben durch Workflow-Teilnehmer oder Fremdsysteme, vorgefertigte Adapter für Fremdsysteme
6. Überwachung: Erfassung von Ist-Kennzahlen, Überwachung der Einhaltung von Vorgaben für die Kennzahlen, Auslösen von Nachverfolgen von Maßnahmen
Alle sechs Funktionsbereiche sind als Komplettpaket lediglich in vier Produkten enthalten: ARIS von der Software AG, Axon.ivy BPM Suite von Axon Ivy, BIC Platform von GBTEC/arvato Systems und inubit von Bosch SI. Im Vergleich dazu unterstützen einige Produkte nur zwei Funktionsbereiche, beispielsweise Business Process Navigator Analyse und Überwachung, ViFlow von ViCon Modellierung und Analyse.
"Die Unterstützung eines Funktionsbereichs durch ein Produkt haben wir dabei immer nur dann als vorhanden bewertet, wenn diese Unterstützung auch durch das Produkt selbst (ggf. mittels Ergänzung durch Zusatzmodule oder weitere Produkte) erfolgt", erläutert das Institut. "Bei Produkten, die einzelne Funktionen nur indirekt durch den Export in andere Werkzeuge unterstützen und keine darüber hinausgehende Integration mit diesen anderen Werkzeugen aufweisen, haben wir den Funktionsbereich als nicht abgedeckt angesehen."
Repository ist Standard
Ferner stellt die Studie fest, dass ein Repository, in dem die Modelle, die Modellierungsobjekte und alle weiteren Informationen zentral abgelegt werden, für BPM-Produkte zum Standard gehört. "Die einzige Ausnahme im Teilnehmerfeld stellt ProcessGold dar, deren Produkt die Prozessmodellierung nicht unterstützt und daher kein eigenes Repository benötigt", heißt es in der Studie.
Drei Notationen geprüft
Ein weiterer Untersuchungsgegenstand des Fraunhofer IAO sind die von den Tools unterstützten Notationen. Ausgewertet wurde neben den von der Object Management Group (OMG) betreuten, standardisierten Notationen Business Process Model and Notation (BPMN) und Unified Modeling Language (UML) aufgrund der großen Verbreitung auch die Unterstützung für die Ereignisgesteuerte Prozesskette (EPK).
Alle drei Notationen werden von fünf Produkten unterstützt: erneut ARIS von der Software AG und BIC Platform von GBTEC/arvato Systems sowie ADONIS von BOC, SemTalk von Semtation und Signavio Process Editor von Signavio.
Demoversionen und Einstiegspakete
Vertraut machen können sich die Anwender mit dem meisten Produkten über Demo-Versionen, die in der Regel zwischen 14 Tagen und zwei Monaten nutzbar sind. Manchmal gibt es auch funktionale Einschränkungen oder es gibt eine Beschränkung des Modellumfangs. Daneben gibt es laut Studie zum Teil Einstiegspakete, die kostenpflichtig sind und dafür im Gegensatz zu den Demo-Versionen dauerhaft und produktiv genutzt werden können.
"Der Funktionsumfang dieser Einstiegspakete variiert stark", so Autor Drawehn. "Dementsprechend bewegen sich die Kosten der Einstiegspakete zwischen 500 und knapp 10.000 Euro." Einige Anbieter böten Ihre Produkte auch als SaaS gegen eine monatliche Gebühr pro Benutzer an.
Trend Social BPM
Als Trend-Thema benennt Fraunhofer IAO neben Compliance und Überwachung von Geschäftsprozessen explizit Social Business Process Management (Social BPM). Der Einsatz von Werkzeugen und Methoden aus dem Bereich Sozialer Software für das Geschäftsprozessmanagement habe sich in vergangenen Jahren rasant entwickelt.