Bis zu 45 Prozent des Pharma-Marktes könnten Life-Science-Startups im Jahr 2030 besetzen, wenn große Konzerne den Change zu Pharma 3.0 nicht schaffen. EY (Ernst & Young) rät Konzernen, Ecosysteme aufzubauen. Vier Szenarien sind laut EY möglich.
Gesundheits-IT-Lösungen werden bis 2030 ein ähnliches Niveau wie klassische Pharmaverkäufe erreichen
Pharmakonzerne werden innerhalb der Ecosysteme als Piloten, Principals, Teilnehmer oder Profiteure agieren
"Über die Margen in der Pharmabranche wären nach wie vor fast alle anderen Branchen froh", erklärt Siegfried Bialojan, Leiter des EY Life Science Center in Mannheim. In Zahlen: Die Marge lag 2017 bei 26,5 Prozent. Das sind allerdings 1,8 Prozentpunkte weniger als 2016. Die wichtigste Aussage mit Blick auf den globalen Pharmamarkt ist für den Berater EY (Ernst & Young) aber die Entwicklung von Pharma 1.0 zu Pharma 3.0. EY schildert die Lage in dem Report "Ökosysteme in der Pharmaindustrie".
Zunächst ein paar Marktdaten: Die 21 größten Pharmaunternehmen der Welt erwirtschafteten 2017 einen Umsatz von 447,5 Milliarden Euro. Gegenüber dem Vorjahr entspricht das einer sehr leichten Steigerung von einem knappen halben Prozent. Den meisten Umsatz erzielten sie mit Krebsmedikamenten und sogenannten Blockbustern, also besonders erfolgreiche Präparate mit mehr als einer Milliarde Umsatz pro Jahr. Die deutschen Konzerne Bayer, Boehringer Ingelheim und Merck wuchsen laut EY überdurchschnittlich. Zusammengenommen setzten sie 36,5 Milliarden Euro um, das sind gut drei Prozent mehr als 2016.
Hoher Umsatz mit IT-Lösungen
EY analysiert die Veränderungen des Marktes durch die Digitalisierung. Stichworte lauten Gesundheits-IT-Lösungen wie Wearables und Smartphone-Apps. Noch spielen solche Anwendungen eine geringe Rolle, doch die Berater sehen hier viel Potenzial: Bis 2030 wird sich ihr Anteil von derzeit 8,5 Milliarden auf 27,6 Milliarden Euro mehr als verdreifachen. "Gesundheits-IT-Lösungen werden also ein ähnliches Niveau wie klassische Pharmaverkäufe erreichen", prognostiziert EY.
Ecosysteme kontrollieren
Daten spielen hier eine entscheidende Rolle. Statt der bisherigen Blockbuster wird "Patient Outcome" im Fokus stehen. Das heißt, dass Patienten, Ärzte, Healthcare-Dienstleister und weitere Player Informationen austauschen. Ziel ist, die Menschen individueller zu behandeln. Das bringt den Pharma-Unternehmen nur dann Gewinn, wenn sie die Ecosysteme kontrollieren, in denen diese Daten zusammenlaufen und verarbeitet werden.
Startups drücken in den Markt
Life-Science-Startups haben gegenüber den Konzernen in der Pharmabranche denselben Vorteil wie in allen anderen Branchen auch: Sie sind innovativer, weil schneller und beweglicher. Bis 2030 könnten die jungen Wettbewerber bis zu 45 Prozent des Marktes übernehmen, schätzt EY. Wie hoch dieser Anteil faktisch ausfallen wird - oder anders gefragt: welchen Marktanteil sich die etablierten Konzerne sichern können - das hängt von ihrem Verhalten ab. "Am meisten Anteile müssten die Pharmakonzerne abgeben, wenn sie sich rein auf Effizienzmaßnahmen konzentrieren und Innovationen von außerhalb der Branche übernehmen, statt sie selbst zu entwickeln", erklärt EY.
4 Ecosystem-Typen: Piloten, Principals, Participants und Profiteure
Die Consultants skizzieren vier Idealtypen eines künftigen Pharmaunternehmens in seinem Ecosystem:
1. Piloten
Diese Firmen verlassen sich immer noch auf ihr Kerngeschäft, haben aber bereits erste Initiativen und Testpiloten gestartet, um Umsatzwachstum zu generieren. Erfolg bedeutet für sie, über den klassischen Produktfokus hinaus Patientenlösungen zu entwickeln. Dabei kombinieren sie eigene Kompetenzen mit den Fähigkeiten externer Partner oder zugekaufter Firmen. Den Vorteil einer solchen Strategie sieht EY darin, dass die Piloten Risiken innerhalb des Ecosystems ausgleichen, indem sie Umfang und Tiefe ihrer Beteiligung steuern. Typischerweise verstehen sich Pilots als innovationsgetriebene Unternehmen, die ihre etablierten Geschäftsbeziehungen erweitern wollen.
2. Principals
Principals entwickeln eine starke Vision davon, wie sie Ecosysteme funktionsübergreifend nutzten können. Sie haben diese Vision in vielen Bereichen des Unternehmens auch bereits in Initiativen umgesetzt und messbare Erträge generiert. Erfolg besteht für sie aus drei Kenngrößen: Fokus auf Patientenbedürfnisse, stetige Innovation und durchgängig agile Strukturen im gesamten Unternehmen.
Die Top CIOs der Chemie- und Pharma-Branche
Markus Schümmelfeder Seit April 2018 ist Markus Schümmelfeder neuer CIO des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim in Ingelheim am Rhein. Er war zuvor Corporate Vice President IT im Unternehmen. Schümmelfeder berichtet an seinen Vorgänger im CIO-Amt, den CFO Michael Schmelmer.
Martin Richtberg Seit 1. Januar 2022 bekleidet Martin Richtberg die Position des Senior Vice President Information Technology, CIO und CDO von Wacker Chemie. Zuletzt war er dort Leiter des globalen Project-Engineering.
Annette Hamann Annette Hamann ist seit 2020 CIO bei der Hamburger Beiersdorf AG. Ihre Vorgängerin Barbara Saunier ist im Ruhestand.
Michael Nilles Henkel hat Michael Nilles am 1. Oktober 2019 zum Chief Digital & Information Officer (CDIO) ernannt. Er berichtet direkt an Carsten Knobel, CEO von Henkel. In seiner Position ist Nilles für die Bereiche Digital, IT, Geschäftsprozessmanagement und Corporate Venture Capital verantwortlich.
Abel Archundia-Pineda Abel Archundia-Pineda ist seit Mai 2017 Head of IT Business Partnering Pharmaceuticals bei Bayer im Geschäftsbereich Pharma bei Bayer. Zuvor war er Head of IT for Novartis Technical Operations and Global CIO der Sandoz Division, Novartis AG.
Michael Jud Michael Jud ist seit April 2017 Leiter IT beim Pharmahersteller InfectoPharm Arzneimittel und Consilium GmbH in Heppenheim im südlichen Hessen. Jud kommt vom Anlagenbauer Schenck Process in Darmstadt. Er berichtet bei seinem Arbeitgeber an den kaufmännischen Geschäftsführer. Neben dem Fokus-Thema IT-Sicherheit baut der gelernte Diplom Ingenieur SAP weiter aus und unterstützt das internationale Wachstum von InfectoPharm.
Alessandro de Luca Alessandro de Luca war bisher Interims-Group CIO beim Pharmakonzern Merck. Der Konzern hat sich entschieden, de Luca dauerhaft in dieser Position zu beschäftigen.
Hermann Schuster Seit 1. September 2021 ist Hermann Schuster Head of Information Technology bei der Lanxess AG. Er folgt auf Kai Finke. In seiner neuen Position will Schuster im Chemiekonzern ein Konzept für den Modern Workplace umsetzen und sich auf Cybersicherheit konzentrieren. Daneben steht der Rollout eines SAP S/4 Hana-Templates auf seiner Agenda. Schuster berichtet an den Lanxess-Finanzvorstand Michael Pontzen.
Bijoy Sagar Bijoy Sagar ist ab Juni 2020 neuer Leiter IT und Digitale Transformation der Bayer AG. Er löst den bisherigen CIO und CEO der IT-Tochter Bayer Business Services (BBS) ab, der seine Konzernkarriere beendet. Die BBS wird aufgelöst. Sagar soll die Digitalisierung des Pharmakonzerns vorantreiben und die begonnene Neuaufstellung der IT ans Ziel führen. Er berichtet an den Finanzvorstand Wolfgang Nickl.
Martin Wiedenmann Martin Wiedenmann ist seit Februar 2019 Head of Global IT/CIO der Atotech Group, einem weltweit agierenden Marktführer für Spezialchemie. Zuvor war er war seit Juli 2016 CIO bei Ledvance in München.
Andreas Becker Andreas Becker ist seit April 2017 Vice President Information Technology/CIO beim Pharmakonzern Daiichi-Sankyo Europe in München. Im Oktober 2014 kam der Diplom-Kaufmann mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik & EDV als Head of IT Strategy & Service Delivery ins Unternehmen.
Sandeep Sen Sandeep Sen ist CIO der Linde Group. In dieser Funktion hat er Büros in Singapur und München. Weltweit führt Sen rund 1.100 Mitarbeiter. Er kam 1993 zu Linde Indien (vormals BOC India). Zuvor war er in der IT auf dem Finance-Sektor tätig. Dabei arbeitete er sowohl in Indien als auch in Großbritannien.
Peter Buchmüller Seit Mitte Juni 2017 ist Peter Buchmüller IT-Leiter der Aenova Group, einem pharmazeutischen Auftragshersteller mit Sitz in Starnberg bei München. Der genaue Titel lautet: Senior Vice President Corporate IT Aenova Group. Buchmüller wechselte von der Molkerei Meggle in Wasserburg, wo er zuvor als Leiter IT tätig war.
Berthold Kröger Berthold Kröger hat im Juli 2015 die IT-Verantwortung bei der K+S AG in Kassel übernommen. Der neue Leiter Corporate IT berichtet an den Vorstand Thomas Nöcker. Der promovierte Informatiker hat sein Studium an der Universität-Gesamthochschule Paderborn absolviert. Er arbeitete danach mehr als drei Jahre im Forschungs- und Technologiezentrum der Deutschen Telekom und war später in verschiedenen Positionen bei der Hochtief AG und der Hochtief Solutions AG in Essen beschäftigt.
Alexander Bode Im Juli 2014 hat Alexander Bode den CIO-Posten beim Farbenhersteller DAW SE angetreten. DAW (Deutsche Amphibolin-Werke) ist vor allem bekannt durch Farbenmarken wie Caparol und Alpina. Bode kommt vom Pharmahändler Celesio, wo er seit 2013 als Global Head of IT Governance tätig war. Davor arbeitete der Wirtschaftsinformatiker viele Jahre bei der Freudenberg-Gruppe, wo er auch seine berufliche Laufbahn 2002 begann. Zuletzt verantwortete er dort von 2008 bis 2013 als Director ERP Europe das SAP Competence Center von Freudenberg Sealing Technologies.
Torsten Müller Seit November 2018 ist Torsten Müller Head of Information Technology (CIO) beim Pharma- und Laborzulieferer Sartorius AG mit Sitz in Göttingen. Zuvor war er Chief Digital Officer und Chief Information Officer sowie Mitglied der Geschäftsleitung der Versicherung Helvetia Deutschland in Frankfurt.
Stephan Heinelt Stephan Heinelt ist seit September 2018 Group CIO beim Spezialchemiekonzern Altana AG mit Sitz in Wesel. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker Heinelt war zuletzt Leiter Service Management Global IT Services bei der Evonik Industries AG in Essen.
Martin Kinnegim Martijn Kinnegim ist seit März 2019 CIO der STADA Arzneimittel AG mit Sitz im hessischen Bad Vilbel. Kinnegim arbeitete zuvor bei Jacobs Douwe Egberts (JDE). Dort war er als Global CIO tätig und leitete die Integration der Gesellschaften DE Masterblender 1753 und Mondelez International in den weltweit führenden Kaffeekonzern.
Walter Grüner Walter Grüner ist seit Mai 2019 Head of Information Technology beim Chemie-Unternehmen Covestro in Leverkusen. Zuvor war Grüner seit 2013 als Group CIO bei der KION Group AG tätig, einem Anbieter von Gabelstapler und Lagertechnik.
Tobias Günthör Der Pharmakonzern Stada hat mit Tobias Günthör seit Anfang April einen neuen IT-Chef. Der Titel des 53-Jährigen lautet CIO/Senior Vice President IT at Stada Group.
Carsten Priebs Zum 01.01.2024 wurde Carsten Priebs zum Digitalchef der Biesterfeld AG berufen.
EY führt aus: "Ein idealer Principal ist somit ein großes Pharma- und Gesundheitsunternehmen, das den Wert seiner Produkte und Dienstleistungen steigern kann, indem es sich innerhalb des Ökosystems besser vernetzt und Gesundheitsdaten nutzt, um die Kosten bei der Medikamentenentwicklung und bei der Bereitstellung personalisierter Dienstleistungen zu senken."
3. Teilnehmer (Participants)
Als Teilnehmer oder Participants bezeichnet EY Unternehmen, die "mit dem Strom schwimmen". Erfolg bedeutet für sie, sich auf ihr Kerngeschäft zu fokussieren. Sie verfolgen einen nicht-kapitalintensiven Ansatz, der eine Teilnahme am Ecosystem erfordert, ohne darin eine aktive Rolle zu übernehmen. Vorteil für sie: Diese Firmen bleiben flexibel und können sich schnell an neue Gegebenheiten anpassen. Freies Kapital und Managementkapazitäten ermöglichen die Konzentration auf andere Entwicklungsbereiche.
4. Profiteure
Innerhalb des Ecosystems konzentrieren sich Profiteure darauf, Geschäftsprozesse zu optimieren und Gewinne zu maximieren. Sie entwickeln Ecosysteme nicht selbst, sondern nutzen sie, um mehr Rentabilität zu erzielen. Sie verfügen über starke Managementfähigkeiten und ein Verständnis dafür, wie sie Elemente eines Ecosystems auswählen, nutzten und austauschen können, um bestehende Fähigkeiten zu ergänzen.
Diesem Typus entsprechen Generikahersteller und OTC-Anbieter (Over the Counter, Anbieter freiverkäuflicher Arzneimittel). Sie zielen innerhalb des Ecosystems auf Einsparungen in Handels- und Lieferkette ab.