Neun von zehn Unternehmen in Deutschland rechnen laut einer Umfrage des Ifo-Instituts vom Dezember 2010 für das kommende Jahrzehnt mit einem Fachkräftemangel. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit rechnet bis 2025 mit einem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials (EPP) um 6,5 Millionen Personen, davon rund 5,4 Millionen Fachkräfte.
Auch wenn heute noch niemand von einer "flächendeckenden Unterversorgung mit Fachkräften" in Deutschland spricht: Schon jetzt fehlen nach Angaben der Bundesregierung rund 36.000 Ingenieure und 66.000 Computerspezialisten. Und 37 Prozent der Unternehmen diktieren dem Ifo-Institut in die Umfrageergebnisse, dass sie schon heute "mittel bis stark" vom Fachkräftemangel betroffen sind, weitere 37 Prozent bereits "gering". Ein Viertel gibt an, "gar nicht" betroffen zu sein, was sich bis ins Jahr 2020 signifikant ändern wird: Hier werden bereits 71 Prozent der Unternehmen "stark oder mittel" unter fehlenden Fachkräften leiden und 20 Prozent "gering". Nicht einmal jedes zehnte (neun Prozent) Unternehmen wird nach eigener Einschätzung dann nicht betroffen sein.
Kampf um die Besten weitet sich aus
Die Experten der Unternehmens- und Strategieberatungsfirma McKinsey bewerten in ihrer Studie "Wettbewerbsfaktor Fachkräfte" die Aussichten als "für Deutschland ein kritisches Szenario". Der neue "War for Talent" beziehe längst nicht mehr nur, wie zu Beginn des neuen Jahrtausends, die Topabsolventen der Hochschulen ein, sondern alle für den Erfolg der Unternehmen kritischen Mitarbeitergruppen. Aber es gibt bei den Studienautoren von McKinsey auch Anlass zur Hoffnung: "Unternehmen, die heute vorausschauend handeln, können die negativen Folgen eines verknappten Angebots an Fachkräften mindern - und zugleich den Wettbewerbsfaktor Personal zu ihrem Vorteil nutzen", schreiben Katrin Suder und Nelson Kilius.
Auch die Öffentliche Hand soll helfen, dem Fachkräftemangel zu begegnen, fordert McKinsey: Mehr Zuwanderung, mehr Kinderbetreuung und mehr Lebensarbeitszeit sind nach Auffassung der Personalberatung drei Mittel, um dem demografischen Wandel zu begegnen. Dazu sollten Veränderungen im Steuer- und Abgabensystem kommen, etwa bei der steuerlichen Progression und beim Steuererhebungsverfahren zum Beispiel für Rentner. "Mit einem Bu?ndel sinnvoller Mehrausgaben in allen genannten Bereichen im Umfang von jährlich zirka 18 bis 25 Milliarden Euro kann die öffentliche Hand einen wichtigen Beitrag zur Abwendung des Fachkräftemangels leisten", findet McKinsey.
So vernehmbar der Ruf nach staatlicher Unterstützung auch ist: "Die staatlichen Organe können das Fachkräfteproblem nicht für die Unternehmen lösen, sondern nur mit ihnen", weiß auch McKinsey. Die Hauptaufgabe für Arbeitgeber sei stattdessen eine "strategische Personalplanung als zentraler Erfolgsfaktor", deren Entwicklung McKinsey in fünf Schritten aufzeichnet.
Im ersten Schritt geht es um Transparenz durch das Erfassen aller Mitarbeiter nach Standorten, Alter, Hierarchiestufe, Vertragsstatus (etwa Voll- oder Teilzeit), Dauer der Betriebszugehörigkeit und Qualifikation. Auf dieses Basis müssen Unternehmen im zweiten Schritt eine Prognose zur künftigen Personalentwicklung erstellen. Dabei sind Faktoren wie Alterung, Kündungen, Beförderungen und Mobilitätswünsche zu berücksichtigen.
Im dritten Schritt sollen Unternehmen den konkreten Personalbedarf ermitteln. "Aufgrund strategischer Szenarien der einzelnen Fachbereiche oder des gesamten Unternehmens schätzen Fach- und Personalabteilungen gemeinsam zunächst grob den Personalbedarf. Ein erster Abgleich mit der Personalentwicklungsprognose lässt bereits annäherungsweise erkennen, ob das Szenario überhaupt realistisch ist. Die Zusammenschau mehrerer Szenarien hilft dem Unternehmen schließlich, verschiedene Projekte anhand ihres Personalbedarfs zu priorisieren", schreibt McKinsey.
Ermitteln, wer wo gebraucht wird
Schritt vier im Fünf-Punkte-Plan der Berater widmet sich dem Ermitteln von Personalstruktur und -lücken. Dadurch wird deutlich, an welchen Standorten zu welchem Zeitpunkt wie viele Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen benötigt werden. Auch diese Analyse muss mit der Prognose abgeglichen werden, um mögliche Lücken und Abweichungen erkennen zu können.
Im letzten Schritt schließlich geht es dann um konkrete Maßnahmen, wie Löcher in der Personaldecke und unpassende Qualifikationen möglichst vermieden oder ausgeglichen werden können. Dabei geht es im wesentlichen um drei Aktivitäten: vorhandene Potenziale im Unternehmen besser nutzen, die Wettbewerbsposition als Arbeitgeber verbessern und in kritischen Bereichen den Bedarf an Fachkräften senken.
Um die vorhandenen Potenziale besser nutzen zu können, rät Katrin Suder, Leiterin des Beratungsbereichs Öffentlicher Sektor bei McKinsey, die Konzentration auf Frauen und ältere Mitarbeiter: "Mitarbeiterinnen besser zu fördern und ihre Chancengleichheit sicherzustellen, ist ebenso Bestandteil einer erfolgreichen Fachkräftestrategie wie die Vermeidung von Frühverrentung." Allein die Ausweitung der Arbeitszeiten von Teilzeitkräften könnte nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit 1,2 Millionen zuästzliche Fachkräfte bringen.
Dienstleistungszentrum kann Standort retten
Gelänge es, mehr Frauen Vollzeitarbeit zu ermöglichen und zusätzlich die Erwerbsbeteiligung von Frauen insgesamt zu erhöhen, könnte sogar ein Potenzial von bis zu zwei Millionen Fachkräften aktiviert werden, rechnet McKinsey. Deshalb empfehlen die Berater Unternehmen, flexiblere Modelle für Frauen weiterzuentwickeln, beispielsweise das Instrument der Lebensarbeitszeit, und gezielte Lösungen für Teilzeitbeschäftigte aufzusetzen, um ihnen höhere Wochenstundenzahlen zu ermöglichen. Die verstärkte Einbeziehung älterer Arbeitnehmer über 55 Jahre, etwa durch verbessertes Gesundheits-Management, könnte weitere 1,2 Millionen Arbeitskräfte bringen, so Suder.
Eine verbesserte Wettbewerbsposition im Kampf um qualifizierte Mitarbeiter erreichen die Unternehmen laut McKinsey unter anderem durch mehr Weiterbildungsmöglichkeiten sowie durch "Kooperationen und Partnerschaften mit branchenübergreifenden Netzwerken zwischen Unternehmen". Vor allem Mittelständler sollten sich - gemeinsam mit der Öffentlichen Hand - auch um die Verbesserung von Rahmenbedingungen für regional wenig attraktive Standorte bemühen, rät McKinsey.
Und wenn das alles nicht hilft, den Bedarf an qualifizierten Fachkräften auf Dauer zu befriedigen, bleibt nur noch eins: "Unternehmen müssen je nach individueller Situation auch darüber nachdenken, in kritischen Bereichen ihren Fachkräftebedarf zu senken", stellt McKinsey fest.
Das könne über Outsourcing und Dienstleistungszentren, so genannte Shared Services, gehen. "Wenn es beispielsweise einem Unternehmen in einer strukturschwachen Region nicht gelingt, wichtige Stellen im IT-Bereich zu besetzen, könne eine Verlagerung dieser Funktion helfen, den Standort und damit die Arbeitsplätze der übrigen Beschäftigten zu sichern", schreibt Katrin Suder.
Mit Outsourcing und Shared Services kennen sich die IT-Abteilungen in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen meist schon gut aus. So haben etwa die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen einen gemeinsamen Dienstleister für Informations- und Kommunikationstechnik der öffentlichen Verwaltungen gegründet. Dataport, so der Name der Unternehmung, betreibt mittlerweile nicht nur die IT der drei Länder, sondern zudem für Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen auch ein gemeinsames Rechenzentrum für die Fachverfahren der Steuerverwaltung.
IT kann helfen
Bislang, heißt es in der McKinsey-Studie, nutzten Unternehmen Outsourcing vor allem, um Kosten zu sparen. Das (auch projektbasierte) Auslagern ganzer Geschäftsbereiche könne aber genau so gut dabei helfen, Fachkräftemangel insgesamt oder temporäre Engpässe beim Personal zu überbrücken. Offshoring, das Verlagern von personalintensiven Dienstleistungen ins (ferne) Ausland, etwa nach Brasilien, Russland, Indien oder China (die so genannten BRIC-Staaten), ist ein weiterer Weg, um Engpässe durch ausländische Fachkräfte auszugleichen. Anders als beim Zuzug ausländischer Arbeitskräfte müssen diese beim Offshoring ihren gewohnten Lebensmittelpunkt nicht nach Deutschland verlagern.
"Der Fachkräftemangel ist eine reale Herausforderung" schreiben die McKinsey-Autoren in ihrer Studie. Alle Experten seien sich einig, dass sich das Problem angesichts des demografischen Wandels in Deutschland in den kommenden Jahren noch verschärfen wird. Aber es sei für die Unternehmen möglich gegenzusteuern. "Der Fachkräftemangel ist abwendbar - wenn alle mitmachen" - die Unternehmen genauso wie Wirtschaft und Politik.
Aus Sicht von McKinsey erfordere die Bewältigung des Fachkräftemangels einen "Kraftakt der Unternehmen und der Öffentlichen Hand - mit koordinierten, in die gleiche Richtung weisenden Strategien und Maßnahmen." Dann, sind die Strategieberater überzeugt, lohnt sich die gemeinsame Anstrengung.