Wir kennen sie alle, die Berichte über sogenannte "Steh-Auf-Menschen". Menschen, die nach schweren Schicksalsschlägen und Krisen wieder aufgestanden und im besten Fall gestärkt daraus hervorgegangen sind. Leistungssportler, die nach einem Unfall ganz von vorne anfangen mussten, um dann Jahre später bei den Paralympics an den Start zu gehen. Prominente, die nach schweren Krebsleiden den Weg zurück ins Rampenlicht schaffen. Menschen, die im Laufe ihres Lebens viele persönliche Krisen erleben und eben nicht daran zerbrechen, sondern sie bewältigen. Diese Menschen bezeichnen wir als widerstandsfähig, krisenfest, "hart im Nehmen" - als resilient.
Wie viele Berichte über komplexe Projekte kennen Sie, die sich durch Krisenfestigkeit und Steh-Auf-Mentalität auszeichnen? Keinen? Genau, wir lesen und hören von Großprojekten in der Öffentlichkeit nur, wenn sie ins Schlingern geraten. Wenn Stuttgart 21 um zig Millionen Euro teurer wird, die Gesundheitskarte massive Sicherheitslücken aufweist oder der neue Flughafen Berlin-Brandenburg wieder nicht eröffnet wird.
Das, was dann stattfindet folgt häufig einem bestimmten Schema: Es wird nach den kausalen Zusammenhängen gesucht, der oder die Schuldigen gefunden, Fehlerquellen benannt, neue Termine gesetzt und Häme ausgehalten. Es wird analysiert und festgestellt, wie man diese und ähnlich komplexe Projekte robuster machen kann. Damit sollen Fehler, Krisen und Turbulenzen am besten ganz vermieden werden.
Ursache-Wirkungsdenken versus Wechselwirkungsdenken
Also wird ein umfassenderes Risikomanagement aufgesetzt, den Fehlern auf den Grund gegangen (soweit möglich) und dabei immer wieder Kausalität und Korrelation verwechselt. Wir haben so lange und gut gelernt in Ursache-Wirkungszusammenhängen zu denken und über Analyse bestehende Probleme anzugehen, dass uns das Umstellen auf "Wechselwirkungsdenken" schwer fällt. Ansätze, die allein auf Robustheit und Fehlervermeidung setzen, greifen zu kurz. In einem komplexen Kontext herrscht immer ein Grad an Ungewissheit, herrschen Unwägbarkeiten und Unvorhergesehenes. Es braucht daher eher einen Blick für das, was Projektorganisationen resilienter macht.
Resilienz bedeutet hier die Fähigkeit Fehler und Turbulenzen früh zu erkennen, schnell mögliche Lösungsstrategien zu identifizieren und damit zeitnah aus einer krisenhaften Situation heraus zu kommen. Eine resiliente Projektorganisation passt sich adaptiv an sich ändernde Gegebenheiten an.
Dass wir keine Veröffentlichungen zu den Erfolgsgeschichten resilienter Projekte hören, bedeutet nicht automatisch, dass es sie nicht gibt. Sie existieren sehr wohl und wir sollten aus und von ihnen lernen, um auch in dynamischen komplexen Projekten die Faktoren zu stärken, die ein Projekt krisenfester und adaptiver machen. Denn genau diese Faktoren lassen sich finden und benennen. Sie stecken in jedem Projekt, sind dort nur mehr oder weniger ausgeprägt.
Das Modell Hoch-Adaptiver-Projekte
Wenn nun im Folgenden das Modell Hoch-Adaptiver-Projekte (H.A.P.) vorgestellt wird, so ist dies ganz klar auf der Basis komplexer Systeme zu verstehen und nicht als ein Ursache-Wirkungs-Gefüge. Das Wirken eines jeden Individuums in einem komplexen Projektsystem beeinflusst das System und wird selbst wiederum durch die Restriktionen und Regeln im System begrenzt und beeinflusst.
H.A.P.-Modell
Daraus ergibt sich eine kontinuierliche Interaktion, die eine klare Voraussage der zukünftigen Situationen und Systemzustände ausschließt. Dieser Umstand, die Unwägbarkeiten und das Unvorhersehbare machen das Managen komplexer Gefüge für uns nach wie vor herausfordernd. Das H.A.P.-Modell beschreibt die Eigenschaften und Fähigkeiten eines adaptiven Projektes, die als Stellschrauben seiner Resilienz dienen können.
Die Hauptdimensionen, in denen die Adaptivität eines Projektes beeinflussbar ist, sind:
Ausrichtung
Umfeld
Sensitivität
Gestaltung
Teaming
Wissen
Jede Dimension besteht aus verschiedenen Facetten, von denen einige exemplarisch hier vorgestellt werden. Jedes Projekt hat seine Ausprägungen in den Dimensionen und Facetten, die Frage ist nur, wie sehr. Es gibt keine nicht-resilienten oder unadaptiven Projekte, es gibt nur mehr oder weniger resiliente. Da Resilienz keine Eigenschaft ist, die einmalig erworben wird oder verloren geht, kann zu jedem Zeitpunkt an den Stellschrauben gedreht werden. Resilienz ist ein Prozess.
Was beinhalten nun die sechs Dimensionen?
1. Ausrichtung
Die erste Fragestellung ist die nach der zeitlichen Orientierung im Projekt. Jedes Projekt, so wie auch jedes Individuum, hat seine eigene Repräsentation von Zeit. Manche leben mehr in der Vergangenheit, manche sehr in der Gegenwart, wieder andere in der Zukunft. Steckt Ihr Projekt eher fest in Problemen der Vergangenheit oder gestaltet es aktiv seine Zukunft?
Aspekte der Eigenverantwortung und Zielorientierung spielen hier mit. In fast jedem Projekt ist die Antwort auf die Frage nach der Zielorientierung unisono: "Aber natürlich sind wir zielorientiert." Ok, aber was und wie diskutieren Sie in den Projektmeetings? Die aktuelle Situation und ihre Problemstellungen oder das "Wie" der Zielerreichung? Das ist vermeintlich nur ein feiner Unterschied, der in den alltäglichen Diskussionen einen wesentlichen Einfluss auf die Orientierung der Denkrichtung hat.
Wie ist in diesen Diskussionen die Grundhaltung des Projektteams? Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Selbstverständlich braucht jedes Leistungsteam seine Pessimisten. Schließlich sorgen die für eine gewissen Grad an Wachsamkeit gegenüber Problemen und drohenden Krisen. Die Grundstimmung aber sollte optimistisch sein. Ein Projektteam, das in der Lage ist seinen eigenen Anteil an Misserfolgen anzuerkennen und Erfolge mit den eigenen Kompetenzen und Handlungen in Verbindung zu bringen, wird sich schneller aus einer Krise herausarbeiten können.
2. Umfeld
"Einer für alle, alle für einen." In einem System, wie ein komplexes Projekt es darstellt, ist jeder Einzelne verantwortlich für die Qualität der Zusammenarbeit. Damit dieses systemische Grundprinzip seine Wirkung entfalten kann, braucht es Vertrauen als Basis. Die gilt es seitens der Verantwortlichen durch Kommunikation und Transparenz aufzubauen. In adaptiven Projekten geht Kooperation vor Konkurrenz.
Bei einem dynamischen komplexen Umfeld ist Kooperation der Mechanismus, der die Vernetzung der Beteiligten unterstützt und damit den Informationsfluss, den Austausch und die Zusammenarbeit sichert. Es bildet sich das Sozialkapital des Projektes. Denn es gilt für Individuen und Projekte gleichermaßen: Wenn es turbulent wird, brauchen sie tragfähige Beziehungen, um die Krise gut zu überstehen.
3. Sensitivität
Der Begriff der Achtsamkeit wird zurzeit recht inflationär verwendet, trifft aber für diese Dimension der Adaptivität den Punkt sehr genau. Wie aufmerksam wird in Ihrem Projekt auf schwache Signale geachtet? Wie lange werden sie möglicherweise überhört oder ignoriert? Bis die Krise da ist?
Leider passiert genau das sehr oft. Es gibt eigentliche keine Projektturbulenzen, die sich nicht ankündigen. Erste Gerüchte, der Flurfunk, ein Bauchgefühl - all das sind oft erste Indikatoren für "es kommt etwas auf uns zu". Aber wird es beachtet? Oftmals zu selten. Dabei bedarf es ja nicht der akribischen Recherche zu jedem Gerücht, das Ihre Tür passiert.
Ausreichend ist ein kurzes Innehalten im Team, ein Entscheiden, ob diesem Signal nachgegangen wird oder nicht. Und stecken wir dann drin in der Projektkrise, ist Akzeptanz der Schlüssel zur schnellen Bewältigung. In adaptiven Projekten sind die Phasen des "Nicht- wahrhaben-wollens", des Zorns und der möglichen Verhandlung kurz, die Krise wird akzeptiert. Hier hat der Projektmanager einen wesentlichen Einfluss (wie so oft) auf die Dauer und damit auf die Handlungsfähigkeit des gesamten Projektteams.
4. Gestaltung
Frage: "Wie wird in Ihrer Projektorganisation mit Fehlern umgegangen?" Antwort: "Ja, also eigentlich darf man bei uns Fehler machen…" Schaut man dann in ein Projektmeeting, so werden dort Fehler sanktioniert und damit deutlich, dass keine Fehlerkultur im Sinne der Resilienz existiert. Dabei ist sie essenziell.
Gute Beispiele dafür liefern uns die sogenannten High-Reliability-Organisationen (HRO) wie Feuerwehren, Flugzeugträger oder Notaufnahmen. Fehler können in diesen Organisationen leicht fatale Folgen haben, weshalb die Mitarbeiter ihre ganz besondere Aufmerksamkeit darauf legen. Fast-Fehler werden hier nicht als Bestätigung des Erfolges genutzt, sondern als Hinweis darauf, dass im System etwas "unrund" laufen könnte. Fehler werden als Lernfeld genutzt, die Quellen und die Aussagen über das System betrachtet.
Reden wir über die Fehlerkultur, sind wir auch gleich wieder beim Punkt des Vertrauens. Nur in einem vertrauensvollen Arbeitsklima wird es möglich Fehler und Fast-Fehler zu melden, ohne dafür an den Pranger gestellt zu werden. Anderenfalls lernen die Mitarbeiter schnell, dass Fehler nicht erlaubt sind und kehren sie im schlimmsten Fall unter den Teppich. Eine gute Strategie zur Fehlervermeidung übrigens ist die Aufmerksamkeit für schwache Signale und die Gewissheit, dass stets etwas Unvorhergesehenes geschehen kann, was flexibles Handeln erfordert.
5. Teaming
"Gleich und gleich gesellt sich gern" ist ein Motto, das sich in vielen Projektteams spiegelt. Wir fühlen uns am wohlsten im Kreise von Gleichgesinnten. Die Chemie stimmt, es gibt nicht soviel zu diskutieren, wir müssen uns nicht mit unseren Bewertungen und Standpunkten auseinandersetzen. Das ist bequem, aber nicht Resilienz fördernd.
Das Zauberwort heißt Diversität. Ein adaptives Projekt besteht aus Menschen mit verschiedenen Meinungen, Ideen, Erfahrungen, Hintergründen und Kompetenzen. Mit der Vielfalt steigt auch die Anpassungsfähigkeit. Generalisten ergänzen ein Projektteam in der Regel um Themen übergreifende Übertragungen und gutes konzeptionelles Denken. Die Unterschiedlichkeit zeigt sich vor allem in Diskussionen und dort kommt es auf die Sprache an.
Der Wissenschaftler Marcial Losada hat festgestellt, dass High-Performance-Teams in einem 6:1 Verhältnis von "positiver Sprache" zu "negativer Sprache" miteinander kommunizieren. Das richtige Verhältnis also von unterstützenden zu kritischen Beiträgen gewährleistet die Balance zwischen Abheben und Am-Boden-bleiben und damit auch die Resilienz. Das erfolgreiche Umsetzen von Diversität im Projektmanagement gelingt nur, wenn die Basis der Zusammenarbeit Vertrauen und Wertschätzung sind. Dann findet Diversität einen Spiegel in der von den Menschen benutzten Sprache.
6. Wissen
Ein Merkmal komplexer Systeme ist die Intransparenz. In einem hochgradig vernetzten Projekt mit vielen Wechselwirkungen schafft es selbst der erfahrene Projektmanager nicht mehr das Gesamtsystem kognitiv zu erfassen. Er braucht eine Fähigkeit, die jeder Mensch besitzt, die aber leider selten trainiert wird: die Intuition. Gemeint ist hier aber nicht allein seine eigene Intuition, sondern die kollektive.
Sich auf die Intuition eines Einzelnen zu verlassen, kann schnell zu Fehlentscheidungen führen. Die kollektive Intuition dagegen ist ein mächtiges Instrument, um in komplexen Kontexten Entscheidungen treffen und damit das Projekt managen zu können. An der Stelle, an der wir über Komplexität reden, müssen wir uns auch mit Freiraum und Innovation beschäftigen. Wenn die Entscheidungen nicht mehr allein durch Analysen der Experten vorbereitet werden können, dann sind neue Lösungswege möglich und nötig. Innovation also.
Was hat das jetzt mit Freiraum zu tun? Benötigen Sie neue Ideen, Konzepte, Lösungen, dann brauchen die Mitarbeiter dazu den Freiraum diese auch denken zu dürfen. Das bedeutet zum einen, dass auch Ungewöhnliches, Quergedachtes vom Team eingebracht werden darf. Zum anderen brauchen die Mitarbeiter auch einen zeitlichen (ggf. örtlichen) Rahmen, in dem "außerhalb der Ordnung denken" gewünscht ist. Je mehr und öfter das erlaubt ist und trainiert wird, desto schneller werden im Falle von Projektkrisen verschiedene Lösungsszenarien entstehen können.
Es gibt keine Richtwerte für Resilienz
Jetzt wäre es wahrscheinlich sehr nett und praktikabel, wenn für jede Dimension ein Richtwert für resilient / nicht resilient existieren würde. Daraus ließe sich dann der eigene Projektwert ermitteln und ablesen, wie gut oder schlecht es um die Adaptivität gerade steht. Hier muss ich Sie enttäuschen. Jedes Projekt bewegt sich auf einer Achse innerhalb jeder Dimension. Eine Aussage über die "Güte" der Platzierung und die Möglichkeiten zur Steigerung der Resilienz lassen sich nur im jeweiligen Projektkontext machen.
Damit Sie die aktuellen Standpunkte Ihres Projekts dediziert bestimmen können, finden Sie die ausführliche Beschreibung des H.A.P.-Modells, dessen grundlegender Konzepte und einen (individuell zu interpretierenden) Selbsttest im Buch "Resilienz im Projektmanagement".