Niemand setzt sich immer sofort an den Schreibtisch und steht erst wieder auf, wenn die Steuererklärung fertig ist. Jeder hat sich schon mal den zweiten Kaffee geholt und danach vielleicht einen dritten, bevor er endlich den unangenehmen Anruf beim Kunden zustande bringt.
Vor allem aus Studienzeiten können wir uns an ritualisierte Prokrastination (lateinisch: Vertagung) erinnern. Haben alle gemacht. Obwohl es damals noch kein Youtube, kein cio.de, vielleicht noch nicht mal Internet gab.
Heute sind die vielen Ablenkungen die Hölle; und wem der Chef das Internet gesperrt hat, der hat ja noch sein privates Smartphone. Problematisch daran ist, dass Ablenkung von wichtigen Aufgaben wirkt wie Drogenkonsum: macht erst ein sehr gutes Gefühl und hinterher ein sehr schlechtes.
Leichtere Fälle sind dabei jene Aufschieber, die in letzter Sekunde die Kurve kriegen. Die, wenn sie eine Woche Zeit haben für die Präsentation, am letzten Tag anfangen.
Zwar kommt dann meist die folgende Nacht hinzu, aber wenn es am Ende erledigt ist, gewinnt diese Sorte von Prokrastinierern dem Ablauf noch was Positives ab. Motto: Je größer der Druck, desto besser bin ich eben.
Am Ende kommt es zur Handlungsstörung
Dass sie den Druck ohne Not selbst erzeugt haben und am Ende - ebenfalls ohne Not - übernächtigt und total fertig sind: Schwamm drüber.
Wesentlich schlechter geht es jenen Betroffenen, die wiederholt gar nichts hinkriegen. Die den Abteilungsleiter anrufen, gestehen, für Verständnis werben, um Aufschub bitten müssen. Obwohl eigentlich Zeit genug da war. Obwohl sie dieses Mal total entschlossen waren und voller Energie.
Aufschieberitis wird zum ernsten Problem, wenn sie den Aufschieber unglücklich macht. Was sehr oft der Fall ist. Laut Untersuchungen der Freien Universität Berlin leiden ca. 20 Prozent der Bevölkerung unter einem bedenklichen Maß an Prokrastination.
Behandlungsbedürftig ist das, wenn Aufschieben zum Normalfall wird, wenn das Gefühl dominiert, alle Aufgaben lägen ständig vor uns statt hinter uns.
Was dann entsteht, nennt der Berliner Psychotherapeut Hans-Werner Rückert eine "Handlungsstörung": Wir wissen, was wir tun müssen, kriegen es aber nicht hin. Zum Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, kommen Scham und schlechtes Gewissen, wir fühlen uns als Looser.
Nicht nur Freiberufler sind betroffen
Betroffene, denen es nicht gelingt, diesen Kreislauf zu durchbrechen, entwickeln im schlimmsten Fall Angststörungen und Depressionen.
Prinzipiell ist der Wunsch, Dinge aufzuschieben, aber normal, auch das sollte niemand vergessen. Weil der Mensch evolutionsbiologisch nicht darauf vorbereitet ist, langfristig und vorsorglich zu handeln.
Als Jäger und Sammler musste er sich ständig kurzfristig Nahrung besorgen, die er sofort verzehrt hat. Jedes Aufschieben wäre lebensbedrohlich gewesen. Wer Hunger hat, geht morgens sofort in den Wald, um irgendein Beutetier zu erlegen.
Im übertragenen Sinne gilt das noch heute: Niemand, der ein Leben voller Fremdbestimmung und Druck führt, wird zum Aufschieber; am Fließband gibt es keine Prokrastination.
Umgekehrt sind Freiberufler, Künstler oder Studenten besonders oft davon betroffen. Sie können ihre Zeit weitgehend frei einteilen, Zielvorgaben sind flexibel und veränderbar.
Doch weil mittlerweile auch keine Arbeitsplatzbeschreibung von Festangestellten ohne die Zauberworte Flexibilität, Freiheit und Selbstbestimmung auskommt, könnte auch unter Büroangestellten die Aufschieberitis immer mehr um sich greifen. Frei zu sein und gleichzeitig Ziele erreichen zu wollen, das geht eben nur mit Disziplin.
Disziplinlosigkeit muss man sich erlauben können
Oder mit so viel intrinsischer Motivation, mit so viel Spaß an der eigenen Tätigkeit, dass trotz phasenweisen Aufschiebens alles Wichtige fertig wird.
Was aber sollte man tun gegen das Prokrastinieren? So wenig möglich, sagt zum Beispiel der Autor und Blogger Sascha Lobo in seinem Buch "Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin" (zusammen mit Kathrin Passig).
Lobo, bekennender Aufschieber, sagt, es brauche manchmal einfach den richtigen Zeitpunkt, um Dinge zu erledigen. Und er lehnt es ab, sich zu verändern, um in die heutige Gesellschaft mit ihren strengen Anforderungen zu passen.
Diese Haltung muss man sich erlauben können. Bei den allermeisten Angestellten, die mit starren Terminplänen, aufgebrachten Chefs und schlecht organisierten Kunden leben, dürfte das nicht der Fall sein.
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich und ihren Arbeitsstil den herrschenden Verhältnissen anzupassen.
8 Tipps gegen Aufschieberitis
1. Den Schreibtisch aufräumen: Klingt banal, ist aber sehr hilfreich. Denn Chaos lenkt ab und verhindert Fokussierung.
2. Wer daheim arbeitet: Office und Privatleben soweit es geht organisatorisch trennen. Das verhindert, ständig vom einen Bereich in den anderen zu wechseln und umgekehrt.
Störfaktoren ausschalten: Wenn man für einen Job das Internet nicht braucht kann man das drahtlose Netzwerk auch ausschalten. Gleiches gilt für Telefone und Smartphones. Alle diese Geräte haben - kaum zu glauben - einen Aus-Schalter.
3. Im Büro gilt das gleiche: Bei den allerwenigsten Jobs geht die Welt unter, wenn das E-Mail-Programm mal drei Stunden aus ist. Oder das Telefon umgeleitet auf den AB. Hilfreich ist, eine Situation herzustellen, in der es keinen Grund und keine Ausrede mehr dafür gibt, das Vorgenommene jetzt NICHT zu erledigen.
4. Sichtbarkeit: Räumen sie die Steuerunterlagen nicht in den Schrank, sondern legen sie sie auf den Tisch. Damit sie mit ihrer ständigen Ermahnung irgendwann so sehr nerven, dass…
Möglichst keine To-do-Listen
5. Belohnung: Manchmal hilft es, sich selbst so zu behandeln wie ein Kind, dem man sagt: Wenn du bis morgen dein Zimmer aufgeräumt hast, gehen wir übermorgen in den Zoo. Beziehungsweise analog dazu: Wenn du (selbst) dieses und jenes erledigt hast (und erst dann), darfst du nächste Folge der TV-Serie aus der Online-Videothek schauen.
6. Sinnvoll planen: Viele Menschen kriegen deshalb zu wenig fertig, weil sie sich zu viel vornehmen. Erscheinen Aufgaben groß und deshalb bedrohlich, sollte man sie in kleine Einheiten zerhacken. So wie sich der Marathonläufer das Ankommen erleichtert, indem er immer nur bis zum nächsten Versorgungspunkt denkt.
7. (Wenn möglich) keine Listen: Zu viele To-do-Listen erzeugen gerne das Gefühl, Aufgaben, die darauf notiert sind, innerlich schon als erledigt zu betrachten. Schließlich hat man sie ja geplant.
Nicht selten wandert aber Unangenehmes von Liste zu Liste zu Liste - Papier ist geduldig. Was wirklich dringlich ist und getan werden muss, wissen wir sehr gut ohne Liste.
8. Nicht zu streng sein mit sich selbst: Der Wunsch zu verschieben ist menschlich und im besten Wortsinne normal. Es geht deshalb nicht darum, den Wunsch loszuwerden, sondern richtig damit umzugehen.