Seit Jahren beschweren sich die IT-Verantwortlichen über die steigende Komplexität ihrer Anwendungslandschaft. Wer bestimmt eigentlich den Grad der Komplexität? Welche Auswirkungen hat eine zu hohe Komplexität für ihr Unternehmen? Lassen sich durch das Beherrschen der Komplexität Wettbewerbsvorteile erzielen?
Es gibt viele Fragen, die das Thema in unterschiedliche Richtung treiben können. Einige wesentliche werden wir hier vereinfacht betrachten können.
Definition der Komplexität
Zwar hat zwar vermutlich jeder ein gutes Gespür für Komplexität und die wesentlichen Zusammenhänge. Trotzdem will ich vorweg eine kurze Definition von Komplexität liefern.
Das Gabler Wirtschaftslexikon gibt uns nachfolgende Definition mit auf dem Weg: Komplexität ist die Gesamtheit aller voneinander abhängigen Merkmale und Elemente, die in einem vielfältigen aber ganzheitlichen Beziehungsgefüge (System) stehen. Unter Komplexität werden die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der Elemente und die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe verstanden.
Wer für Komplexität eine simple Definition erwartet hat, wird naturgegeben enttäuscht sein.
Grad der Komplexität und Unternehmenstyp
Bei gleicher Ausgangslage bezogen auf Anzahl Benutzer und Anzahl Systeme wird man im Konzern und im Mittelstand den gleichen Komplexitätsgrad erzielen. Die Vergleichsgrößen im Konzern, die man zur Betrachtung isolieren müsste, hinken aber in der Regel. D.h. im Konzern hat man üblicherweise andere Stabstellen, die helfen können, die Komplexität besser zu beherrschen. Es ist also nicht nur die Komplexität in ihren Auswirkungen zu betrachten, sondern auch die Mittel, mit denen man sie kontrollieren kann.
1. Komplexitätstreiber ERP
Tausend Anwender in einem ERP-System sind erheblich leichter zu betreuen als jeweils hundert (10 x 100) Anwender in zehn gleichen ERP-Systemen. D.h. die Anzahl der betreuten ERP-Systeme ist immer noch per se eines der größten Komplexitätstreiber. Wenn sie die Power und das Potenzial haben, können sie diese Komplexität über die Anzahl ihrer Legal Entities am gravierendsten beeinflussen. Das reduziert nicht nur die IT-Anwendungskomplexität, sondern beeinflusst auch die administrativen Standardprozesse überwiegend positiv. Wettbewerbsvorteil 1.
2. Komplexitätstreiber fehlende ECM-Plattform-Strategie
Während die meisten Unternehmen in den letzten Jahren ihre ERP-Landschaft weitgehend harmonisiert haben, ist das auf der ECM-Seite noch nicht vergleichbar fortgeschritten. Wie viele Systeme haben sie mit einem Embedded DMS oder Workflowsystem? Sie werden es oft gar nicht wissen, so umfangreich kann es sein. Natürlich immer mit eigenen Berechtigungskonzept - es lebe die Vielfalt.
Positionieren sie also ein führendes ECM-System in ihre strategische IT-Landschaft und fangen sie auch hier mit einem Harmonisierungsprozess an. Wählen sie den ECM-Hersteller, mit dem sie erfolgreich eine modulare Plattformstrategie aufbauen können. Wettbewerbsvorteil 2.
Der Druck auf die bestehenden ECM-Hersteller, auch eine ausgereifte Suchmaschine, Communities, Projekträume oder Reportingansätze (BI) zu schaffen, ist kontinuierlich gewachsen und nimmt im ungünstigsten Fall gravierende "Schatten-IT" Dimensionen an.
3. Komplexitätstreiber Integration oder fehlende Integration?
Upload und Download oder Copy and Paste sind immer noch die verbreitetsten Schnittstellentechnologien in Unternehmen. Immer fehlen ein paar Daten und der Ad-hoc-Datenbedarf wird auch gerne schleichend verstetigt. Vergessen sie nicht das Thema Big Data, d.h. das Datenwachstum in ihrem Umfeld werden sie nur begrenzt beeinflussen können.
Möglicherweise laden ihre Anwender laufend neue Apps, auch ich habe gerade eine tolle Knowledge-Management-App installiert. Sie liefert mir Modellierungsmöglichkeiten, die ich vorher noch nicht hatte. Fleißig erzeuge ich neue Daten, bis ich auf die geniale Idee gekommen bin, diese Daten unbedingt mit anderen Wissensdaten verflechten zu wollen. Sie ahnen schon das Resultat? Meine App tut sich schwer beim Datenaustausch - Glück gehabt. Es bleibt bei der Ad-hoc-App, die einen begrenzten gekapselten Nutzen spendet.
Es gibt aber auch immer mehr kleine Softwareprogramme oder Apps, die sich mit anderen Anwendungsdaten vernetzen wollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn das ein gesteuerter Prozess in ihrem Unternehmen ist, dem eine IT- oder Prozessstrategie zugrunde liegt. Ansonsten könnten sie schnell im Datenchaos landen.
Entscheidend wird bleiben, den richtigen Regelungs- und Integrationsbedarf zu erkennen und dementsprechend umzusetzen. Je komplexer sie ihr Regelwerk aufbauen, je weniger wird es funktionieren, weil ihre Anwender jeden Umweg kennen und dann auch nutzen werden. Wettbewerbsfaktor 3.
4. Komplexitätstreiber Prozessharmonisierung
Die Antwort der größeren Unternehmen auf ihre Anti-Komplexitätsstrategie mündete in vielen Fällen in einer Prozessharmonisierung. Schnell wurde zwischen lokalen und globalen Prozessen differenziert und Prozess-Offiziere durften neu erdachte Prozessstandards, sogenannte "Best Practice", um- und durchsetzen.
Transparenz war und ist eine Voraussetzung und Konsequenz der Prozessharmonisierung. Globales Key-Account Management bedeutete plötzlich auch eine globale Key-Account Price Policy über Systemgrenzen hinweg. In der Anfangsphase dieses Prozesses steigt für ihre IT-Anwendungslandschaft die Komplexität der Anforderungen durch Dimensionen, die sie früher nicht betrachten mussten. Nach dem Umbau oder der Anpassung der Landschaft auf die Anforderungen der Prozessharmonisierung dürfte man sich im günstigsten Fall über weniger Komplexität durch ihre Standardisierungsbemühungen freuen.
Dieser Trend hat nur einen Haken und der liegt in der Marktdynamik der Geschäftsmodelle ihrer Kunden. Strukturieren ihre wesentlichen Kunden ihr Geschäft um, in dem sie zum Beispiel ihre Geschäftseinheiten umbauen, dann dürfen sie ihre Prozessarchitektur neu darauf abstimmen. Das ist mindestens dann der Fall, wenn der erfolgreiche Umbau eines Kundengeschäftsmodells sich als Trend in ihrem Zielmarkt etabliert.
Versuchen sie also die Abhängigkeit ihrer Prozessarchitektur von ihren Kundensegmenten zu erkennen, um mögliche Entkopplungspunkte einzubauen, die die Robustheit ihrer eigenen Prozessarchitektur erhöhen werden. Wettbewerbsvorteil 4.
Die Wechselwirkung zwischen Prozessarchitektur und Anwendungs-Systemarchitektur dürfen sie getrost als äußerst relevanten Wettbewerbsfaktor in ihrem Unternehmen betrachten. Auch hier muss es Ihnen gelingen, ein möglichst robustes Beziehungsgeflecht zu implementieren. Eine erste Hilfestellung, wie sie das positiv gestalten können, sei nachfolgend angebracht.
Sie treffen beispielsweise gerade eine Entscheidung für ein neues Supply-Chain-Management-System in ihrem Unternehmen. Ihr Lastenheft fordert kein System mit der Funktionalität zur Multi-Fabrikplanung, da ihre Fabriken rein dezentral und autonom planen. Wenn sie sich in ihren Systemauswahlprozessen zu sehr auf ihr bestehendes Geschäftsmodell beschränken, verbauen sie sich eindeutig die Robustheit ihrer Anwendungslandschaft. Wettbewerbsvorteil 5.
In diesem Sinne bestimmt auch die nicht genutzte Funktionalität ihrer bestehenden Anwendungslandschaft den Robustheitsgrad ihrer Anwendungsarchitektur.
5. Benutzer als Anforderungstreiber
Der Benutzer hat sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Er ist es gewohnt im Internet schnell an diverse Daten zu gelangen. Auch ist er nicht mehr damit zufrieden, sich auf bestimmte mobile Geräte einzuschränken. Privat ist er bereits der Branchen-Treiber der Mobilität geworden und wird das zunehmen beruflich einfordern. Entscheidend ist hier, dass sie hier die Dynamik dieser Entwicklung im Auge behalten. Je weniger sie im Augenblick bestimmten Forderungen nachgeben können, je mehr müssen sie für den Sinn ihrer Beschränkungen werben. Kosten-/Nutzenbetrachtungen müssen nicht Begeisterung hervorrufen, aber zumindest überzeugen.
6. Kunde als Anforderungstreiber
Hier muss und kann man übrigens Kunde und Benutzer gleichstellen. D.h., zum einem hat sich auch das Verhalten und die Dynamik der Kundenanforderungen deutlich entwickelt, wie bereits beim Benutzer erläutert.
Wie viele Kundenportale pflegen ihre Kollegen bereits? Wie viele werden es wohl in fünf Jahren sein? In einigen Ländern wird bereits ein Vielfaches der Kundenportale gepflegt, als wir es hierzulande gewohnt sind. D.h. es ist zu befürchten, dass wir hier das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht haben. Sicherlich war und ist die gute alte E-Mail-Kommunikation Fluch und Segen zu gleich. Sie haben aber deutlich mehr Möglichkeiten die Transparenz selbst zu bestimmen, da sie es intern selbst in der Hand haben, den Kreis der Informanten einfach und schnell zu erweitern.
In fremden Kundenportalen benötigen sie immer einen eigenen Benutzer, die Kommunikation ist also gekapselt zu betrachten. Solange die Integration in eigene Portale ein Fremdwort ist, werden ihre Kommunikationsprozesse komplexer und intransparenter werden. Der Vorteil liegt bei dem, der das Design und damit die Kommunikationsgrenzen bestimmt. Verfahren sie genauso wie bei ihren Benutzern. Überwiegen die Vorteile beim Kunden, dann müssen sie mitziehen. Dort wo erhebliche Risiken lauern und keine Chancen das ausgleichen, müssen sie ihre Bereitschaft auf ein Minimum beschränken.
Das Dilemma, was ich ihnen jetzt ans Herz lege, liegt wahrscheinlich auf der Hand. Gleichen sie den Mehraufwand, der Ihnen auf der Kundenseite entsteht auf der Lieferantenseite mit eigenen Portalen aus. Sie wissen ja, wer das Design bestimmt, der kann auch die größten Vorteile generieren. Wettbewerbsvorteil 6.
7. Komplexitätstreiber Produktvielfalt
Auch die Erwartungshaltung an die Produktinnovationsgeschwindigkeit hat sich dramatisch erhöht. Im B2B Geschäft werden neben neuen Produktinnovationen aber auch gerne möglichst lange Ersatzteilbevorratungen erwartet. Wächst der Umsatz nicht proportional zur Breite des Produktkataloges mit, sind sie wieder in der Komplexitätsfalle gelandet. Diese Prozesse entwickeln sich gerne schleichend und werden im guten Konjunkturzyklus möglicherweise überlagert, um im Abwärtstrend umso unangenehmer wieder aufzutauchen. Bewerten sie ihr Produktportfolio und handeln sie dementsprechend. Wettbewerbsvorteil 7.
Wenn sie ihre Produktvarianz über eine Plattformstrategie orchestrieren können, dann beherrschen sie bereits die große Klaviatur der Komplexitätsbeherrschung à la Volkswagen. Wenn nicht, dann machen sie sich auf den Weg, auch Volkswagen hat mit kleinen Schritten angefangen.
8. Komplexitätstreiber Datenvielfalt
Daten sind der Rohstoff ihrer Informationsgewinnung - oder nicht? Können sie ihre Informationen beliebig verdichten und damit die Granularität ihrer Entscheidungen bestimmen? Natürlich reicht das nicht aus, d.h. sie benötigen auch Metadatenstrukturen, um ihre Daten gezielt anzureichern. Und sie müssen auch noch in der Lage sein, ihre internen Informationen mit den externen Informationen zu kombinieren, um daraus neues Wissen zu generieren.
Das klingt wirklich komplex und ist es auch. Die Informatiker werden ihnen jetzt schnell belegen können, das sie nur genügend Faktoren kombinieren müssen, um feststellen, dass auch unsere heutigen Systeme schnell überfordert sein werden.
Begrenzen sie also ihre zu betrachtenden Systemwelten und konzentrieren sie sich auf die entscheidungsrelevanten Faktoren und das sind oft nur sehr wenige. Wettbewerbsvorteil 8.
Es werden noch viele Jahre ins Land gehen, bis die Kunst des Rechnens die Kunst des Abstrahierens in den Schatten stellen wird.
9. Komplexitätstreiber Technologie
Industrie 4.0 ist ein Zauberwort. Die Möglichkeiten, die wir alle damit verbinden, sind bestechend, sie fallen uns aber nicht in den Schoß. Um technologische Grenzen zu überwinden, muss man sich mit diesen Technologien auseinandersetzen. Maschinen mit sehr langen Lebenszyklus sollen technologisch mit anderen Prozessen vernetzt werden, die viel kürzeren Lebenszyklen unterworfen sind.
Anforderungen an die man sich früher nie gewagt hätte, stehen jetzt auf der Agenda. Unsere Industrie-Unternehmen werden damit deutlich komplexer werden. Bis wir diese technischen Nüsse geknackt haben und die Daten wie von Geisterhand zwischen den unterschiedlichen Geräten transferieren, müssen wir diese Komplexität beherrschen lernen. Der Lohn wird am Ende vom Anwender geerntet, denn für ihn wird der Datenzugriff geräte- und technologieübergreifend einfacher werden.
Wir haben es hier mit einem wiederholten Phänomen zu tun. Zuerst steigt die Komplexität, weil wir unsere Möglichkeitswelt erweitern. Das hält solange an, bis wir die Komplexität beherrschen und den Nutzen aus den neuen Möglichkeiten generieren können. Nun sinkt die Komplexität, da die Möglichkeiten zu Realitäten werden und die Breite der Möglichkeiten sich nach und nach als Normalität verstetigt.
Peter Klukas ist CIO von der Vulkan Gruppe in Herne. Die Unternehmensgruppe gliedert sich in die drei Divisionen marine Antriebstechnik, industrielle Antriebstechnik sowie Klima- und Kältetechnik. Die Hackforth Holding Verwaltungsgesellschaft mbH erwirtschaftete laut Bundesanzeiger im Jahre 2013 einen Umsatz von 158 Millionen Euro. Das 1889 gegründete Unternehmen beschäftigt rund 1300 Mitarbeiter an weltweit 20 Standorten. Dazu gehören fünf Produktionsstätten in Deutschland, Brasilien, USA, China und Indien sowie 48 Vertretungen in 51 Ländern.