Als sich Rüdiger Zarnekow vor zwei Jahren ein schlankes Subnotebook ohne optisches Laufwerk leistete, legte er "zur Sicherheit" noch einen externen DVD-Brenner für den USB-Port in den Warenkorb. Dass alle Daten und Installationsdateien ab sofort aus dem Netz kommen, "konnte ich mir damals einfach nicht vorstellen", räumt der IT-Experte ein. Einmal habe er das Peripheriegerät in den zwei Jahren noch angeschlossen, "um eine Foto-CD einzuspielen".
So sei sein persönliches Vertrauen in die Cloud allmählich gewachsen, berichtet Zarnekow, der den Lehrstuhl für Informations- und Kommunikationsmanagement an der TU Berlin leitet, und prognostiziert: "In zehn Jahren kommt der Großteil der privaten Anwendungen als Service aus dem Netz."
Klassischer Desktop und Laptop haben ausgedient
Damit liegt der Berliner Wissenschaftler zumindest grundsätzlich auf einer Line mit Ralf Schneider, dem CIO der Allianz-Gruppe. Dieser hatte vergangenes Jahr mit dem CIO-Magazin gewettet, dass "in zehn Jahren 90 Prozent aller Applikationen aus dem Netz kommen". Schneider ging es allerdings primär um geschäftliche Anwendungen, die in einer Private Cloud im Unternehmen laufen. Der Schlüssel zum Erfolg sei hier die Virtualisierung - "und der Desktop oder Laptop mit Daten und Anwendungen, wie wir ihn heute kennen, hat ausgedient".
Durch die Applikationen aus dem Netz könnten Firmen flexibler auf die Anforderungen der vernetzten Welt reagieren, so der CIO. "Auch im geschäftlichen Umfeld ist der Trend zur Cloud klar erkennbar", sagt der Berliner Professor Zarnekow, "aber ich bin skeptisch, dass wir in zehn Jahren den Umfang von 90 Prozent erreichen werden."
"Was sind 90 Prozent?", fragt sich auch Gunter Dueck, ehemaliger Chief Technology Officer von IBM und promovierter Statistiker. Bezogen auf die Vorgänge, also die Anwesenheitszeit eines Menschen in Anwendungen, könnten 90 Prozent schon stimmen, so der Publizist. Beziehe man jedoch die 90 Prozent rein auf die Anzahl der Enterprise-Anwendungen, sei das eine ganz andere Frage. Schließlich gründe die Geschwindigkeit einer neuen Technologie laut Dueck darauf, wie oft Ersatzbedarf bestehe. Bei Fernsehern könne man alle paar Jahre ("und mit der Ausrede einer Fußball-WM") eine neue Gerätegeneration kaufen. "Doch das Beharrungsvermögen von geschäftlichen Anwendungen scheint mir noch größer zu sein als von Fernsehern."
Programme Cloud-fähig machen ist immens aufwändig
Gerade bei Versicherungen würden Basissysteme eingesetzt, die vor geraumer Zeit für Millionen von Euros entwickelt worden seien. Die Programme Cloud-fähig zu machen sei ein immenser Aufwand, so Dueck. "Wenn es schnell gehen soll, muss das Unternehmen viel Geld in die Hand nehmen." Dies geschehe jedoch nur, wenn die Anwendungen ohnehin geändert werden müssten und daher Investitionen fällig werden. Allerdings kommt von Gartner eine gute Nachricht für die Cloud: Laut einer aktuellen Anwenderumfrage sollen in den kommenden zwei Jahren 18 Prozent der geschäftlichen Applikationen in den Ruhestand geschickt werden, 35 Prozent erhalten ein Upgrade, und 24 Prozent werden ersetzt beziehungsweise modernisiert. Dass die Cloud für viele IT-Organisationen dann als alternatives Bereitstellungsmodell zumindest in Betracht kommt, überrascht nicht.
Dieter Kempf, Vorstandsvorsitzender der Datev in Nürnberg, Präsident des Branchenverbands Bitkom und "bekennender Cloud-Fan", äußert leichte Zweifel an den von Schneider gewetteten 90 Prozent. Es sei unbestritten, dass der Allianz-CIO mit dem Trend und dem inhaltlichen Teil der Aussage recht habe, aber wer einmal am Flughafen Tegel versucht habe, mobil im Unternehmensnetz zu arbeiten, "der bringt seine eigenen Daten künftig immer offline mit". Gerade seine Kunden wie Wirtschaftsprüfer und Steuerberater seien vor Ort bei ihren Mandanten zu 100 Prozent von einer verlässlichen TK-Infrastruktur abhängig. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Kunden die Anwendungen gerne lokal vorhalten, wenn sie unterwegs sind", berichtet Kempf. Schließlich sei es immer noch kein Vergnügen, seine Daten hierzulande aus einem fahrenden Auto zu übertragen.
Zudem ließen sich einige Bedenken gegen die Cloud aus dem Bereich Sicherheit nicht wissenschaftlich beeinflussen, "weil sie etwas mit dem Bauchgefühl zu tun haben". In zehn Jahren könne sich das alles noch entwickeln, ist sich Kempf sicher, "aber angesichts der gewetteten 90 Prozent würde ich keinen hohen Einsatz wagen". Zwar sei in der IT-Branche die grundlegende Absicht vorhanden, Vorbehalte bezüglich der Sicherheit und der TK-Infrastruktur aus dem Weg der Cloud zu räumen. Ob es jedoch gelinge, alle Einzelmaßnahmen wie geplant umzusetzen und alle Eventualitäten zu berücksichtigen, sei in der IT immer fraglich. "Ein Großteil der Anwender", so Kempf, "wird in der Übergangsphase Hosenträger und Gürtel kombinieren."
Die Wette ist realistisch, springt aber "zu kurz"
Der Saarbrücker Wissenschaftler und Unternehmer August-Wilhelm Scheer hält die Wette für realistisch, wenn auch für "zu kurz gesprungen". Mit der Betonung der Virtualisierung habe sich Allianz-CIO Schneider stark auf die Infrastruktur bezogen sowie auf die finanziellen Skaleneffekte der Cloud durch die höhere Auslastung der Server. "Aber spannend ist doch, wie sich die Architekturen verändern werden unter dem Einfluss nicht nur der Cloud, sondern auch durch mobiles Computing, neue Datenbanktechnologien, Interfaces durch Consumerization sowie Social Media." Diese Treiber seien genauso stark wie die reine Infrastruktur, sagt der ehemalige Bitkom-Präsident und Gründer von IDS Scheer. Schneiders expliziter Verweis auf die Virtualisierung wirke jedoch so, als wolle er alle Altsysteme weiterverwenden und nur die Kostenvorteile nutzen, kommentiert Scheer: "Private Cloud - das klingt ja fast ein bisschen innovationsfeindlich."
Softwareanalyst Frank Niemann von Pierre Audoin Consultants (PAC) will sich nicht auf eine konkrete Zahl festlegen, aber auch er geht wie Schneider davon aus, dass "in Zukunft viele Anwendungen aus dem Netz kommen werden - auch aus einer Cloud". Dies sei dringend nötig, so Niemann: "CIOs müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Anwender über stationäre und mobile Geräte auf miteinander vernetzte Applikationen zugreifen können." Es gelte, die heute üblichen Anwendungen für spezifische Aufgaben abzulösen und konsequent in Richtung einer umfassenden Prozessunterstützung zu denken. Einschränkungen bei der Vernetzung sowie bei Funktionen und Geräten müssten aufgebrochen werden, um das Ziel zu erreichen: "Kunden, Partner und Mitarbeiter können sich künftig mit allen Geräten an allen vorgesehenen Prozessen beteiligen."
Technische Komplexität kapseln
Zudem biete auch die Private Cloud noch direkte Vorteile für IT-Verantwortliche, sagt Niemann. "Durch vorgefertigte Private-Cloud-Systeme werden sie in die Lage versetzt, die technische Komplexität von Storage, Netzwerken, Servern oder Datenbanken zu kapseln und als kompletten 'Technologieblock' zu steuern." Ähnlich wie der Wartungstechniker, der seinen Rechner ans Auto anschließt und diagnostiziert, ohne die einzelnen Komponenten zu kontrollieren. "Das IT-Management wird deutlich einfacher", sagt PAC-Analyst Niemann, "und IT-Manager haben die Chance, sich auf Themen zu konzentrieren, die ihr Unternehmen voranbringen."
Der ehemalige IBM-CTO Dueck unterstützt die Aussage, auch wenn er nicht daran glaubt, dass IT-Verantwortliche jemals dauerhaft Ruhe haben werden. "Alles driftet auseinander, wird eingefangen, und schließlich zerfließt es wieder." Neue Technologien würden ausbrechen und sich in mehrere Wettbewerbssysteme aufteilen, die eine Weile gleichzeitig vorgehalten werden. Letztlich folge die Konsolidierung, bevor es an anderer Stelle wieder von vorne losgeht. "Zur New Economy war ein Web-Shop noch ein gewaltiger Aufwand - heute gibt es ihn als Softwarepaket inklusive Paypal gratis zur Domain dazu", sagt Dueck. Diese "Großbausteine" würden immer mächtiger, und viele stets wiederkehrende Fragen - "die grauenhaften Routinen" - seien in ihnen bereits geklärt. Handlungsbedarf entstehe dann an anderer Stelle.
Auch August-Wilhelm Scheer warnt vor der Hoffnung, durch die Standardisierung und die Cloud als IT insgesamt weniger leisten zu müssen. Zwar werde die Standardisierung an der Schnittstelle zwischen den Services zunehmen, sodass die Services beliebig miteinander kombinierbar werden können. "Weil die Services kleinteiliger werden und ich die Leistungen zum Geschäftsprozess montieren kann, wird die Individualisierung zunehmen", argumentiert Scheer. Den Standard weiterzutreiben sei der falsche Ansatz, denn die meisten Benutzer seien hinterher doch unzufrieden: Entweder ist der Einzelfall zu kompliziert, oder sein Anwendungsfall ist nicht implementiert. "Erfolge erzielen wir künftig durch zunehmende Individualisierung", sagt Scheer.
Druck der Anwender auf die IT nimmt zu
So lässt sich zur Wette bilanzieren, dass kaum jemand mit dem Allianz-CIO Schneider wetten will (wegen der 90 Prozent) und kaum jemand dagegen (wegen des unverkennbaren Trends zur Cloud). "Ich bin überzeugt von den ökonomischen Vorteilen dieser netzbasierten Dienstleistungen", sagt der Berliner Wissenschaftler Zarnekow. Diese seien für Kunden wie für Anbieter von IT-Leistungen interessant. "Auch interne IT-Organisationen haben das Potenzial dazu, sofern sie eine kritische Masse erreichen." Ein flexibler Bezug, die Skalierbarkeit und die verbrauchsorientierte Abrechnung seien schlagkräftige Argumente, folgert Zarnekow: "Der Druck auf die IT-Organisationen vonseiten der Anwender wird kommen."
Und wenn die IT den Druck nicht aushalten kann oder will, wird die Fachabteilung einfach selbst im Netz aktiv. "Früher mussten Sie zum IT-Chef gehen und um einen Server betteln", sagt der Saarbrücker Unternehmer Scheer. "Heute müssen Sie nur an die richtigen Daten rankommen, dann können Sie sich alle Services selbst besorgen." Die Aufgabe der IT-Organisation in zehn Jahren - "sie wird schon noch da sein" - sei dann voraussichtlich, sich auf die rechtliche und architektonische Steuerung zu konzentrieren. "Damit die Individualisierung nicht zu einem fürchterlichen Wildwuchs wird", sagt Scheer. "Einatmen und Ausatmen", sagt Dueck, "das ist der Gang der Welt."
Schneiders Wette: Applikationen wandern ins Netz
"Ich wette, dass in zehn Jahren 90 Prozent aller Applikationen aus dem Netz kommen", schrieb Ralf Schneider, der CIO der Allianz-Gruppe, ins CIO-Jahrbuch 2012. Hintergrund für Schneiders Prognose ist die globale Vernetzung, die die Spielregeln der Zusammenarbeit und der Kommunikation verändert habe – "in unserer privaten wie auch in unserer beruflichen Welt, für den Einzelnen genauso wie für ganze Organisationen". Um als Firma flexibler auf die Anforderungen der vernetzten Welt reagieren zu können, müsse eine große Zahl der Applikationen aus dem Netz kommen: "Der Desktop oder Laptop mit Daten und Anwendungen, wie wir ihn heute kennen, hat ausgedient." Ein Schlüssel für den Erfolg liege in der Virtualisierung, und summa summarum ließen sich Geschwindigkeit (Daten, Anwendungen), Transparenz (Kosten, Ressourcen, Sicherheit) und Individualisierung (Rollen, Profile) verbessern. Auch wenn Schneider über das "Netz" schreibt – gemeint ist natürlich die Cloud. Für den Allianz-CIO bedeutet Cloud/Netz jedoch in erster Linie die private Version, denn „die Daten geben wir deshalb nicht aus der Hand“. Wichtigste Voraussetzungen, um die IT-Infrastruktur vorzubereiten, seien der Aufbau einer Cloud, die unternehmensweit Rechenleistung und Speicher bereitstellt, sowie der Aufbau eines globalen Netzwerks. Das klingt dann doch eher nach Evolution statt nach Revolution. Bleibt die Frage, welche Applikationen 2021 noch lokal auf dem Rechner des Mitarbeiters gestartet werden. |