Auf die Frage, wie sich agile Vorgehensmodelle einführen und im Unternehmen skalieren lassen, finden viele Betriebe derzeit keine Antwort. Sie bewegen sich in betonierten Siloumgebungen mit starken Hierarchien und starren Berichtswegen. Um den notwendigen Befreiungsschlag hinzubekommen, heuern die Verantwortlichen agile Coaches, Scrum-Master und Entwickler an. Die Verantwortung für den Change-Prozess selbst möchten sie als "strategische Aufgabe" in den eigenen Reihen halten.
Zu diesen und weiteren Ergebnissen kommt die Lünendonk-Studie "Scalable Agility", die gemeinsam mit dem Partner bridgingIT umgesetzt wurde. Im September 2018 befragten die Marktforscher dazu CIOs und Manager rund um die "agile Transformation" aus 26 Großunternehmen mit mindestens einer Milliarde Euro, in 13 Fällen sogar mehr als zehn Milliarden Euro Jahresumsatz.
Die Betriebe berichten überwiegend, dass sie mit der Umstellung auf agile Prozesse nicht so schnell vorankommen wie erhofft, weil ihnen die richtigen Mitarbeiter fehlen. Oft sind es die Mitarbeiter aus IT-Abteilungen, Digital Labs oder Fachbereichen, die den digitalen Change-Prozess anstoßen, weil sie den Druck zur Digitalisierung hautnah erleben. Ihnen fehlt aber das Koordination- und Durchsetzungsmandat entsprechender Maßnahmen, weshalb die Veränderungsprozesse im Bottom-up-Ansatz länger dauern als wenn sie von oben eingeleitet werden.
HR-Abteilungen müssten sich stärker beteiligen
Die Befragten sähen auch gerne ihre Personalabteilungen tiefer involviert, wenn es um Veränderungsprozesse rund um Agilität geht. Der Umbau habe vielfältige Auswirkungen auf personalpolitische Themen. Beispielsweise gilt es, die Arbeitszeiten zu flexibilisieren und neue Incentivierungs-Systeme für die Teams einzuführen, da diese sich nun weniger an klassischen Projektvorgaben wie "in time" und "in budget" orientieren, sondern an den positiven Auswirkungen ihres Projekts auf das Unternehmen gemessen werden.
Agilität bedeutet zudem einen signifikanten Kulturwandel: Dazu zählt, die Eigenverantwortung der Mitarbeiter und Führungskräfte zu stärken und immer wieder "Communities of Practice" zu bilden, in denen sich Mitglieder verschiedener Teams zu bestimmten Fragestellungen, die alle betreffen, austauschen und voneinander zu lernen. Solche Communities of Practice sind den Befragten zufolge eine wichtige Kommunikationsplattform, die in zwei Dritteln der Unternehmen bereits eingeführt wurde.
Die meisten Betriebe setzen agile Methoden noch punktuell und eher themenspezifisch ein. Aus Sicht der Befragten skalieren diese Ansätze noch nicht in der Form, dass es Sinn gegeben hätte, Frameworks und neue Organisationsstrukturen zur besseren Koordination von agilen Teams einzuführen. Allerdings gab knapp die Hälfte der Befragten an, dass sie zumindest punktuell auf agile Frameworks wie Scrum@Scale, SAFe oder LeSS zurückgreifen.
Hindernis Nearshore und Offshore
Die agile Vorgehensweise sieht vor, dass die Teams räumlich nah zusammenarbeiten und Barrieren abgebaut werden. Tatsächlich setzen laut Umfrage aber 48 Prozent der Großbetriebe auf viele verteilt nebeneinander her arbeitende Teams. Dafür gibt es mehrere Gründe, einer besteht darin, dass gerade Konzerne ihre Anwendungsentwicklung teilweise in Near- und Offshore-Regionen verlagert haben, um Kosten zu senken. Damit ist die Kernforderung, möglichst alle Beteiligten an einem Ort arbeiten zu lassen, nicht zu erfüllen. Auch der Mangel an Softwareentwicklern verhindert eine flächendeckende Umsetzung von agilen Projekten.
Diese erschwerten Voraussetzungen gilt es zu berücksichtigen, wenn agile Vorgehensweisen gewählt werden. Die Entwickler brauchen gute Kommunikationsstrukturen und eine angemessene Pflege der sich verändernden Anforderungen (Product Backlogs) durch den Product Owner. Schwierigkeiten haben auch Unternehmen, die historisch aus einer starren, zentral gesteuerten Organisation kommen, in der Software ausschließlich in Eigenleistung entwickelt wurde. Diese Betriebe öffnen sich nun zunehmend und verlagern Entwicklungsteams aus der Unternehmensorganisation heraus, um neue Ideen in einem Grüne-Wiese-Ansatz zu fördern.
Einen Engpass verspüren die Befragten beim agilen Coaching. Fast alle (96 Prozent) greifen auf externe Unterstützung zurück, um Mitarbeiter und Führungskräfte in agilen Modellen zu trainieren. Auch der Bedarf an Scrum Mastern ist enorm: 71 Prozent der befragten Unternehmen können dafür keine internen Mitarbeiter bereitstellen. Häufig übernehmen externe Scrum-Master gleichzeitig auch die Rolle des agilen Coaches, der in Vorgehensmodellen schult und beim Organisationsumbau unterstützt.
Product Owner kommen aus den eigenen Reihen
Dagegen ist der Product Owner eine Rolle, die in aller Regel intern besetzt wird. Er vertritt die Fachseite und verantwortet damit die Einhaltung der Ziele eines Vorhabens. Seine Aufgabe ist es, die Ergebnisse im Hinblick auf Funktionalität, Usability, Performance und Qualität zu bewerten. Allerdings gibt knapp ein Drittel der Befragten an, auch die Product Ownership in einigen Fällen mit externen Experten zu besetzen.
Wenig überraschend besteht der größte Personalengpass in der agilen Softwareentwicklung selbst. Da die Zahl der Digitalisierungsprojekte stark zunimmt, kommen die IT-Abteilungen oft nicht mit der Umsetzung hinterher. Auch im IT-Infrastrukturbereich halten agile Vorgehensmodelle Einzug, wenn Legacy-Systeme modernisiert und digitale Services integriert werden sollen. Die Lage spitzt sich zu, weil mit zunehmender Digitalisierung immer kürzere Release-Zyklen verlangt werden. Folglich benötigen die Unternehmen jede Menge Unterstützung durch externe Entwickler und Softwaretester.