Seit einem halben Jahrhundert nutzt die Wirtschaft die Informationstechnik, um die Entwicklung und Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu erleichtern oder dem Menschen ganz abzunehmen. Millionen Business Engineers, also Organisatoren oder Software-Entwickler, arbeiten daran, leistungsfähigere Arbeitsplätze, effizientere Geschäftsprozesse, erfolgreichere Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen zu gestalten.
Das Internet und vielfältige Endgeräte, vom Smartphone über Spielkonsolen und Fernseher bis zu Navigationsgeräten und Haussteuerungen, eröffnen weit mehr als zwei Milliarden Menschen den Zugang zu E-Mail und Chat, zu sozialen Netzwerken und Foren, zur Informationssuche und zum Informationsabruf, zum Shopping und Banking.
Miniaturisierte Sensorik erfasst viele Daten automatisch, in Echtzeit und in großer Detaillierung und Genauigkeit. Haussteuerung, Autos, Roboter und andere Geräte setzen diese Daten teilweise autonom in Aktivitäten um. Das Wissen im Internet, das Computer Aided Design, die Visualisierung und Simulation von Produkten, die maschinelle Befundung in der Medizin und ähnliche Services unterstützen und erweitern die kognitiven Fähigkeiten der Menschen.
All diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen werden über das Geld gesteuert. Der Gewinn entscheidet über die Lebensfähigkeit von Unternehmen, die Rentabilität über die Verwirklichung von Ideen, der Preis über den Kauf von Produkten und Dienstleistungen und die Produktivität über die Karriere der Mitarbeiter. Die Steuerung über das Geld hat vielen Staaten einen hohen Lebensstandard im Sinne einer reichlichen Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gebracht. Immer mehr Länder sind auf dem Weg dahin.
Life-Management à la Google
Die fortschreitende Konsumerisierung wird die nächsten Jahre prägen. Die erwähnten technologischen Möglichkeiten auf der einen Seite und die Millionen von Entwicklern in zahllosen Jungunternehmen auf der anderen Seite haben ein brodelndes Labor für neue Geschäftsideen entstehen lassen. Die historisch einmalige Ballung von Intelligenz lotet jeden Winkel menschlicher Bedürfnisse nach Marktchancen aus. Die Digitalisierung im Privatbereich produziert bis vor Kurzem kaum vorstellbare Volumina an elektronisch erfassten Daten aus allen Lebensbereichen. Google, Amazon oder Facebook, aber auch Banken und Automobilhersteller oder innovative Start-ups nutzen Big Data, um den Konsumenten mehr und lohnendere Produkte und Dienste zu verkaufen. Die Forschung in Informatik, Psychologie, Marketing oder Design unterstützt sie dabei.
Konsumentenportale wie Google haben sich zum Ziel gesetzt, einzelne erfolgreiche digitale Dienste zu umfassenderen Services und schließlich zum Life-Management zu integrieren. Sie wollen den Menschen bei der Auswahl des Restaurants, bei der Gesundheitsvorsorge und bei der finanziellen Altersvorsorge beraten. Sie fungieren dabei als Matchmaker, analysieren anhand von Big Data die Bedürfnisse und Präferenzen der Konsumenten und stellen diesen die passenden Angebote aufgrund ihres Zugangs zur Anbieterseite gegenüber. Wenn ein Konsumentenportal dem Reisenden für eine Stadt ein Hotel vorschlägt, das seinen bisherigen Präferenzen und Bewertungen von Hotels entspricht, ist das für den Konsumenten ein Komfort- und Effizienzgewinn.
Diese Entwicklung könnte man als Einstieg in ein Life Engineering bezeichnen, das von den Bedürfnissen des Menschen ausgeht, Lebenssituationen und Konsumentenprozesse verstehen lernt und schließlich viele dezidiert isoliert existierende digitale Services zu umfassenden persönlichen Assistenten zusammenführt.
Wenn Automobilhersteller oder Bahnbetreiber anfangen, Mobilitätslösungen, bestehend aus Autos, öffentlichen Verkehrsmitteln und vor allem vielen Daten über den Konsumenten, aufzubauen, sind dies Zeichen für einen grundlegenden Wandel im Denkansatz. Der Schwerpunkt wechselt vom Unternehmen, das Produkte und Dienstleistungen an Kunden in einem unbekannten Kontext verkauft, zum Konsumenten, der die Angebote von vielen Unternehmen zu einem Kundenprozess kombinieren will. Unternehmen entwickeln dazu Portale für bestimmte Kundenprozesse (zum Beispiel Fitness) oder bauen ihre Produkte und Dienstleistungen in umfassendere Konsumentenportale ein, seien es globale und universelle Portale wie Google oder regionale wie gelbeseiten.de beziehungsweise prozessspezifische wie grosseltern.de oder care.com.
Ray Kurzweil ist zu optimistisch
Geschieht dies alles zum Wohle des Menschen, so ist das vorbehaltlos zu begrüßen und verheißt ein goldenes Zeitalter, wie es Ray Kurzweil und andere Vertreter der Singularity geradezu euphorisch beschwören. Wenn allerdings die Konsumentenportale die Kunden allein mit dem Ziel ihrer Gewinnmaximierung beraten, werden die Werbe- und Provisionserlöse und nicht die Bedürfnisse der Menschen die Empfehlungen leiten.
Mit der Technologie und dem Informationsstand von heute lässt sich ein digitaler Vorsorgeassistent entwickeln, der bessere Lösungen vorschlagen kann als die betroffenen Menschen selbst. Die Frage bleibt dann, ob dieser Assistent im Interesse der Finanzdienstleister oder der Konsumenten (zum Beispiel finanzielle Sicherheit im Alter) agiert. Möglicherweise entscheidet der Wert der Menschen für die Unternehmen, nicht der Wert der Unternehmen für die Menschen.
Schwerwiegender als die Treiber der Konsumentscheidungen könnte sich die mit der Konsumerisierung einhergehende Beschleunigung und Komplizierung der Welt herausstellen. Diesen Befürchtungen wird entgegengehalten, dass der Konsument noch nie derart nützliche Produkte und Dienstleistungen, eine derart breite Information und eine derart große Wahlfreiheit hatten und dass er sein Geld nur für Dinge ausgibt, die es ihm wert sind. Statusgetriebene Einkäufe von Edelmarken, intransparente Mobilfunkverträge oder Bankprodukte, private Verschuldung, Spielsucht, Drogen- und Alkoholsucht oder Adipositas lassen die Gleichsetzung von Konsum und Lebensqualität äußerst fraglich erscheinen. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen deutet in die gleiche Richtung.
Macht gewinngesteuerter Konsumentenportalen nicht ohne Alternative
Die Bündelung der Macht bei den gewinngesteuerten Konsumentenportalen ist nicht ohne Alternative. In einer idealen Welt ist vorstellbar, dass es anbieterneutrale digitale Konsumentenassistenten gibt, die sich nicht am Umsatz, sondern an der Lebensqualität ihrer Herren orientieren, also die dazu passenden Angebote im Netz abgreifen und im Sinne der Menschen organisieren.
Es fragt sich, wer den langen Atem und die enorm hohen Investitionen für die Entwicklung derartiger Assistenten aufbringt, denn selbst bei einer Monetarisierung über die gigantische Zahl der vernetzten Konsumenten müsste der Einzelne einen spürbaren Preis für diese Super-App bezahlen. Geht man vom derzeitigen Konsumentenverhalten aus, werden die Menschen lieber den über die Absatzvermittlung finanzierten Gratisdienst eines mächtigen Konsumentenportals in Anspruch nehmen, als für einen Lebensassistenten zu bezahlen.
Ermutigende Signale bürgerschaftliches Engagement
Es gibt allerdings einige ermutigende Signale wie etwa ein zunehmendes bürgerschaftliches Engagement in hoch entwickelten Gesellschaften, in denen die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt sind und diese nach Werten und Lebenssinn über den Konsum hinaus suchen. Tausende von Freiwilligenorganisationen, Tauschbörsen, Zeitbörsen und nicht zuletzt politische und religiöse Organisationen sind Belege dafür.
Wo immer die maschinelle Intelligenz die menschliche übertrifft, stellt sich die Frage nach den Steuerungsmechanismen von Wirtschaft und Gesellschaft, also auch nach der Priorität von Unternehmenserfolg oder Lebensqualität, in besonderem Maße. Wahrscheinlich werden alle Leser dieser Zeilen spontan für Lebensqualität statt Geschäftserfolg plädieren, doch ist damit noch lange nicht gesagt, wie das gelingen soll.
Die Beherrschung der Technologie sowie die Fähigkeit und der Wille zu Spitzenleistungen sind eine Voraussetzung dafür, die Digitalisierung zur Steigerung der Lebensqualität mitzugestalten. Da wir noch keinen erfolgreicheren Selektionsmechanismus der gesellschaftlichen Evolution haben als das Geld, bleibt der Gewinn, also das Geld, ein notwendiges Selektionskriterium, aber sinnvollerweise nicht das einzige. Ein Ausstieg aus dem globalen Wettbewerb ließe die Produkte und Dienstleistungen binnen Kurzem nicht mehr wettbewerbsfähig werden.
Die Wissenschaft ist gefordert, die tatsächlichen und langfristigen Bedürfnisse der Menschen zu verstehen und mit Lösungsvorschlägen zu einer sinnvollen Digitalisierung beizutragen. Die Politik muss einerseits technologische Spitzenleistungen zulassen beziehungsweise fördern, andererseits aber negativen Entwicklungen wie Monopolen, der Überforderung der Menschen oder dem Missbrauch von persönlichen Daten entgegenwirken.
Selbstbestimmtes Leben im Alter
Als kleinen, aber konkreten Beitrag zu dieser Entwicklung arbeitet das Kompetenzzentrum Independent Living der Universität St. Gallen am Konzept des digitalen Dorfes. Dieses soll physische und logische Nähe so verbinden, dass Menschen einerseits die Vorteile der räumlichen Nachbarschaft und andererseits die Chancen digitaler Nachbarschaft, also beispielsweise in sozialen Netzwerken oder in der Telekommunikation, ortsunabhängig wahrnehmen können.
Das digitale Dorf baut auf vier Säulen auf: Digitale Inhalte wie Stadtteilnachrichten, Fotos zu Ereignissen im Quartier oder Foren für bürgerschaftliche Initiativen stärken die Transparenz im Dorf und helfen, den Bezug zur Heimat zu halten. Digitale Kommunikation wie Instant Messaging, E-Mail oder Videokommunikation erleichtert die lokale Kommunikation etwa in Vereinen und erhält die sozialen Beziehungen zu weit entfernten Bekannten und Freunden. Soziale Netzwerke bieten einen Ersatz oder eine Ergänzung zum Klatsch und Tratsch auf dem Dorfplatz oder in der Quartierskneipe, lokal wie global. Digitale Koordination schafft flexible und effiziente Versorgungsstrukturen in allen Lebenslagen.
Ein lokaler Dienstleistungsmarktplatz versorgt die "Dorfbewohner" mit allen Leistungen des täglichen Bedarfs, vom Friseur über den Physiotherapeuten bis zum Taxi- und Bringdienst. Er bietet geprüfte Dienstleister, einen einfachen Bestellvorgang bis hin zur Bezahlung und Bewertung. Die digitale Koordination unterstützt auch das bürgerschaftliche Engagement beispielsweise in Senioren- und Tauschbörsen durch Abnahme von administrativen Aufgaben. Erste Pilotprojekte zeigen, dass diese Angebote von jungen berufstätigen Eltern noch mehr als von Senioren nachgefragt werden.
Das Kompetenzzentrum Independent Living ist gerade dabei, zusammen mit einem Softwarehaus auf Basis des Dienstleistungsmarktplatzes ein Wohnungsportal zu entwickeln, das die Bedürfnisse von Mietern und Wohnungseigentümern abdeckt und so Wohnungen und Wohnquartiere aufwertet.
Wodurch unterscheidet sich der Ansatz des Independent Living von Portalen wie Taskrabbit, Amazon oder Google? Ausgangspunkt von Independent Living sind die Bedürfnisse der Menschen nach einfacher, vertrauter und sicherer Umgebung (Heimat), nicht die Deckungsbeiträge oder Werbeeinnahmen. Trotzdem funktioniert auch das digitale Dorf nur dann, wenn es nachhaltig wirtschaftlich selbstständig ist. Diese Verbindung von Lebensqualität und wirtschaftlicher Lebensfähigkeit wird für viele Lebensbereiche von der Gesundheit bis zum Sport zu einer großen Aufgabe hoch entwickelter Gesellschaften. Ihr Anspruch ist die Weiterentwicklung des Kapitalismus.
Vita - Professor Hubert Österle |
Hubert Österle studierte BWL an den Universitäten Innsbruck und Linz, promovierte an der Universität Erlangen-Nürnberg und habilitierte an der Universität Dortmund in Software Engineering. Seit 1980 lehrt er an der Universität St. Gallen. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gründete Hubert Österle im Jahr 1989 das Beratungsunternehmen The Information Management Group (IMG) und 2003 das Business Engineering Institute St. Gallen. Österle setzt sich seit einigen Jahren für eine praxisnahe Ausbildung und Forschung mit umsetzbaren Ergebnissen ein. Er wirkte in entsprechenden Organisationen mit, so etwa in der Jury zur Wahl des „CIO des Jahres“. |
Forschung - Independent Living |
Mehr zum Thema selbstbestimmtes Leben im Alter unter: http://il.iwi.unisg.ch oder www.amiona.com |