André Fischer nutzte die Gunst der Stunde: Als tausende Ostberliner nach dem Mauerfall vor 14 Jahren nur "raus, raus, raus!" riefen, wurde Fischer Kraftfahrer und karrte voll besetzte Busse in den Süden. Als die erste große Reisewelle vier Jahre später verebbt war, fand er eine neue Nische: Bei Spiele Max wurde die Stelle eines Computerfachmanns frei. Etwa 150 Mitarbeiter beschäftigte die Firma mit Sitz in Berlin-Lankwitz damals; in acht Filialen verkaufte die Einzelhandelskette ihre Produkte, darunter Fisher-Technik, Lego und Carrera-Bahnen sowie Babysachen von Sterntaler. Fischers Frau, damals bei Spiele Max beschäftigt, dachte sofort an ihren Mann. Der IT-Autodidakt und Pragmatiker ("Ick hab det nie jelernt") sollte ab sofort die Datenverarbeitung steuern - als Ein-Mann-Abteilung.
Niemand fragte - die EDV funktionierte
Fischer betreute eine betriebswirtschaftliche Lösung von KHK, eine Software für Zehn-Mann-Betriebe, und das Warenwirtschaftsprogramm IWS von Spitzer-Informationssysteme. Niemand fragte - die EDV funktionierte. Doch dann kam das Jahr 1998. Die Börseneuphorie erfasste Spiele Max; erste Überlegungen für die Gründung einer Aktiengesellschaft und einen Börsengang standen im Raum.
Zwei Kreditgeber sollten Spiele Max zur Seite stehen: die Deutsche Industriebank IKB aus Düsseldorf und die Mittelständische Beteiligungsgesellschaft MBG, Stuttgart. Beide forderten allerdings Transparenz in Sachen Budget und Planung. Eine Neustrukturierung der IT war nötig, ein reifes und ausbaufähiges ERP-System musste her. Nach dessen Einführung im Januar 1999 war nichts mehr wie vorher: "Die Warenumsätze hatte keiner mehr unter Kontrolle, es gab Rückstände in der Buchhaltung - die Umsätze sind eingebrochen", so beschreibt der heutige Vorstand für Vertrieb, Organisation und Kaufmännisches, Jan Hinrichs, im Rückblick die "geräuschvolle Einführung von ERP". Das chaotische Projektmanagement machte es noch Mitte vergangenen Jahres äußerst schwierig,ein Customer-Relationship-Projekt oder den E-Shop auf den Weg zu bringen.
Nach den Erfahrungen von Eibo Krahmer, Berater bei Cap Gemini Ernst & Young (CGEY) und Mitverfasser der Studie "ERP im Mittelstand" (2002), ist Spiele Max kein Einzelfall. Selten seien die eingesetzten Systeme an missglückten Projekten schuld. "Oft fühlt sich der interne Projektleiter nicht für die Umsetzung der Planung zuständig; Mitarbeiter der Fachabteilungen sperren sich gegen eine ERP-Einführung und akzeptieren die nötigen organisatorischen Veränderungen nicht", sagt Krahmer.
Rückblick: Um kein Risiko einzugehen, vertraute sich das Unternehmen 1998 der Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse-Coopers an. "PWC sollte Systeme auswählen und ein Feinkonzept erstellen", erzählt Selfmade-Mann Fischer. Hinzu kam Cabus, ein IT-Dienstleister aus Kiel. "Von unserer Seite wurde der damalige Finanzvorstand als Projektleiter vergattert."
Zunächst analysierten die PWC-Berater die Strukturen im Unternehmen, um vier oder fünf Anbieter in die engere Wahl zu nehmen, darunter IWS, Navision und SAP. Die Anforderungen an das ERP-System waren klar: Mit einem Modul für die Finanzbuchhaltung im Einzelhandel sollte eine transparente Kostenstruktur geschaffen werden, mit einem Warenwirtschaftssystem eine Übersicht über die Produkte.
Schlecht geplantes Pilotprojekt
Mitte 2001 warnte der Deutsche Verband der Spielwarenindustrie Angaben von Branchenbrief International, dem Nachrichtendienst für die Spielzeugbranche, zufolge "nach Gerüchten über Liquiditätsprobleme" vor Geschäften mit Spiele Max. Einen offiziellen Grund nennt Wilfried Franz, Spiele-Max-Vorstand für den Einkauf: Zwei der Hausbanken seien in den Strudel der Bankenkrise geraten und hätten unabhängig voneinander ihre Kredite zurückgefordert. Nach Gesprächen mit anderen Banken habe das Liquiditätsloch gestopft werden können.
In der Gerüchteküche brodelte es dennoch weiter. Hinrichs gibt zu: "Die Einführung von Retail Backoffice hat zu Schwierigkeiten geführt." Das System musste kräftig nachjustiert werden, sodass die Anpassungskosten auf 50 Prozent der Gesamtkosten anwuchsen. "Die günstigen Konditionen, die wir aufgrund des gemeinsamen Piloten bekommen hatten, haben sich so wieder relativiert", so Hinrichs. Inzwischen sind die Anpassungen vollzogen, doch die Probleme mit dem ERP-Projekt haben sich so stark eingeprägt, dass neue Vorhaben von den Mitarbeitern äußerst skeptisch betrachtet werden.
"Die Dimension des Projekts wurde maßlos unterschätzt", sagt Hinrichs, der bei IBM in New York, als selbstständiger Berater und als Geschäftsführer desLederwarengroßhändlers und Fachhandelsdienstleisters Assima Erfahrungen mit IT und Warenwirtschaft gemacht hat. "Wichtige Prozesse im Vorfeld wurden nicht geklärt. Es gab kein Organisationshandbuch, geschweige denn Prozessbeschreibungen - nur rudimentäre Vorgaben."
CGEY-Berater Krahmer erkennt auch darin typisches Mittelstandsdenken: "Es gibt gar nicht das Budget und die Kapazitäten, um genügend Personal aus der IT oder den Fachabteilungen für IT-Projekte abzustellen." Sein Appell an die Geschäftsführer: Sie müssen die Strukturen dafür schaffen, dass die Firmen-IT in der Projektphase und danach in der Lage ist, das neue System eigenständig zu betreiben - oder den Betrieb lieber outsourcen.
Projektfinale ohne Berater
Der Schachzug von Vorstand Hinrichs: Er holte einen erfahrenen Chef für die IT. Wirtschaftsingenieur Marko Sobe, der zuvor bei Möbel Walter in Billigheim-Ingenheim das Warenwirtschaftssystem für 4000 User eingeführt hatte, sollte mit seinem Eintritt Mitte 2002 den Spiele-Max-Mitarbeitern die Angst vor neuen Projekten nehmen: In einem CRM-Projekt führte Sobe eine Kundenkarte ein, ein elektronisches Mailing- und Couponing-System - mit einem Budgetrahmen in fünfstelliger Höhe ein relativ kleines Projekt. "Doch es gab wenig Begeisterung; der Frust war noch groß", stellt Hinrichs fest.
Aber man hatte aus der Vergangenheit gelernt: "Wir entwickelten Ablaufpläne, erarbeiteten eine Prozessbeschreibung und definierten Ziele", sagt Sobe, der dabei auf die Erfahrungen von Kollege Fischer aufbauen konnte. Eine Konsequenz: Berater blieben außen vor. Lediglich Cabus als Dienstleister schickte zur Umsetzung bei Bedarf Programmierer. Fünf Monate investierte Spiele Max in die Vorbereitung, ehe Sobe die Implementierung des CRM-Moduls von August bis Ende November 2002 begleitete. "Schon 15 bis 20 Prozent unserer Kunden nutzen das neue Angebot", so Sobe. Die Kundenkarte, die Vielkäufern zehn Prozent Nachlass verspricht, ersetzt die alte Rabattkarte, die abgestempelt sein musste, ehe der Kunde sie einlösen konnte. Im vergangenen Jahr stieg der Umsatz von Spiele Max auf 75 Millionen Euro (von zuvor 69 Millionen Euro). Die schlimmsten Turbulenzen sind damit überstanden.
Fischers Frau, die ihrem Mann den Weg vom Busfahrer zum ITler gebahnt hatte, arbeitet inzwischen selbst in einem Beratungshaus - bei KPMG: "Nein, nein - nicht als IT-Beraterin", versichert Pragmatiker Fischer.