Die meisten ERP-Applikationen deutscher Unternehmen haben schon etliche Jahre auf dem Buckel. Nach der Upgrade-Welle vor dem Jahr-2000-Wechsel waren die meisten CIOs froh, das teure und aufwendige Projekt über die Bühne gebracht zu haben, und hofften fortan auf einen möglichst störungsfreien ERP-Betrieb. Doch mit der Ruhe ist es spätestens seit dem Krisenjahr 2009 vorbei.
Denn die Ansprüche von der Business-Seite an die ERP-Anwendungen sind gestiegen: Neue geschäftliche Anforderungen, der Wunsch nach effizienteren Prozessen und geringeren Kosten sowie die Erkenntnis, dass Flexibilität und Agilität wichtiger werden, stellen die IT vor neue Herausforderungen. Die IT-Chefs müssen sich fragen, ob die anstehenden Aufgaben mit der bestehenden Lösung zu bewältigen sind, eine neue Software angeschafft werden muss oder das Unternehmen gleich auf ein alternatives ERP-Betriebsmodell wie Software as a Service (SaaS) wechseln sollte.
Automatisch, effizient, kostengünstig
Die Ziele der ERP-Anwender liegen auf der Hand, sagt IDC-Analyst Rüdiger Spies. Nach ihren Produktionsprozessen möchten Unternehmen nun auch die Verwaltung automatisieren, effizienter aufstellen und ihre Kosten senken. Dies mit der Einführung eines modernen ERP-Systems zu erreichen sei allerdings alles andere als trivial. Längst reiche Enterprise Resource Planning über die klassischen Anwendungsbereiche Finanzbuchhaltung, Personalverwaltung, Kunden-Management und Produktionsplanung hinaus. Um den eigenen Aufwand in Grenzen zu halten, suchten die Anwenderunternehmen deshalb nach integrierten Softwarepaketen, die den erforderlichen Funktionsumfang möglichst komplett in einem System böten. "Je fertiger, desto besser", meint Spies.
Einfach und intuitiv
"Moderne ERP-Lösungen müssen aus Sicht der Anwender einfach sein", bekräftigt Waldemar Metz, Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG). "Wir brauchen eine sichere, stabile, performante, einfach und intuitiv zu bedienende, flexible und einfach anpassbare sowie erweiterbare IT-Lösung zur effizienten und effektiven Durchführung aller Geschäftsprozesse mit einem vernünftigen Kosten-Nutzen-Verhältnis."
Die wenigsten ERP-Landschaften dürften diese Kriterien vollständig erfüllen. Gerade das in der Vergangenheit teilweise exzessiv betriebene Customizing der Business-Software bereitet den IT-Verantwortlichen heute Kopfzerbrechen. Kundenspezifische Anpassungen erschweren die Integration und machen den Betrieb der Softwarelösungen komplex. Außerdem tauchen oft Probleme auf, wenn es um Upgrades beziehungsweise den Ausbau mit zusätzlichen Softwaremodulen geht. Auch die Ablösung eines stark angepassten Systems ist alles andere als einfach. "Wenn Unternehmen eine neue Software einführen wollen, lässt sich meist wenig von den Anpassungen retten", meint Spies.
Anwender klagen über Komplexität
Speziell SAP-Kunden wissen davon ein Lied zu singen. Aus ihren Reihen waren in den vergangenen Monaten vermehrt Klagen zu vernehmen. Die Systeme seien zu komplex, und die Produktqualität sei auch schon einmal besser gewesen, kritisierten die DSAG-Verantwortlichen. Gerade rund um das ERP-System mit seiner nach wie vor guten Qualität seien viele Techniken entstanden, die teilweise zu Problemen geführt hätten, berichtet DSAG-Vorstand Marco Lenck. Aufgrund der Produktvielfalt und der Menge an Einsatzszenarien habe SAP Probleme, mit der gebotenen Gründlichkeit zu testen. "Diese Faktoren haben zu einer gefühlten schlechteren Qualität geführt", lautet Lencks Schlussfolgerung.
Außerdem, so zeigt eine DSAG-Umfrage, entwickeln sich fast zwei Drittel aller SAP-Projekte komplexer als ursprünglich erwartet. Das liege unter anderem an der großen Zahl von SAP-Systemen, die viele Unternehmen betreiben. Demzufolge hat jeder SAP-Kunde im Schnitt 17 SAP-Systeme im Einsatz, davon allerdings nur fünf produktiv. Die übrigen dienen der Qualitätssicherung und Entwicklung beziehungsweise sind Altsysteme oder fungieren als Sandbox zum Experimentieren.
Lenck will die entstandenen Probleme nicht allein SAP anlasten. Häufig würden Unternehmen die Software nicht so einsetzen, wie es ursprünglich gedacht war. "Viele Entwickler bei SAP sind im Nachhinein überrascht, was die Anwender ihrer Software machen", so der DSAG-Sprecher. Er empfiehlt klare Regeln, wie die Hersteller Software entwickeln und Anwender sie einsetzen sollten. Ein solches Leitbild, eine "System Landscape Governance", könne für alle Beteiligten einen Rahmen vorgeben.
Mehr Transparenz
Dafür müssten sich allerdings beide Seiten an zu vereinbarende Regeln halten. Die Softwareanbieter müssten für mehr Transparenz sorgen. Oft sei für die Anwender nicht zu verstehen, welche Folgen Veränderungen an der Software nach sich ziehen: "Viele schlechte Installationen passieren unbewusst, weil die Anwender falsch beraten werden oder über zu wenige Informationen verfügen." Die Anwender ihrerseits müssten mehr Ordnung in ihre Softwarelandschaften bringen.
Zwar steigt Lenck zufolge die Bereitschaft, sich angesichts des Leidensdrucks stärker an Standards und Regeln zu halten. Laufende Systeme zu vereinfachen, nur um ein künftiges Supportproblem aus dem Weg zu räumen, komme für die meisten aber nicht in Frage. Eine ERP-Governance könne nur dann greifen, wenn es um Neuinstallationen oder Änderungen an laufenden Systemen gehe. Aber kaum ein Anwender werde von heute auf morgen sein SAP-System umbauen.
Sorgen um Pflege und Support
ERP-Kunden, egal von welchem Anbieter, geht es in erster Linie darum, dass die bestehenden Geschäftsanwendungen laufen und gepflegt werden. Beispielsweise sorgen sich die Nutzer von Oracles Business-Applikationen, dass der Hersteller das Interesse verlieren könnte, bestimmte Produkte für den deutschen Markt zu unterstützen, weil die installierte Basis zu klein ist, berichtet Fried Saacke, Geschäftsführer der Deutschen Oracle Anwendergruppe (Doag). Das müsse nicht zwangsläufig bedeuten, dass Oracle Produkte einstellt. Es könne jedoch sein, dass der Softwarehersteller die Unterstützung einzelner Produkte etwas zurückfahre. "Es gibt zwar noch keine konkreten Signale, aber die Sorge ist einfach da."
Daran ändert auch Oracles Versprechen nichts, im Rahmen des "Applications-Unlimited"-Programms alle Produktlinien unbegrenzt weiterzuentwickeln und zu pflegen. Der Konzern hatte in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Softwareanbieter übernommen und in der Folge sein Supportversprechen gegeben, um verunsicherte Anwender der akquirierten Produktlinien zu beruhigen und zu halten. Saacke zufolge stellt sich jedoch die Frage, wie Oracle diese Zusage interpretiert. "Weltweit mag der Support da sein. Das garantiert mir als Kunde jedoch noch lange nicht, dass alle Anforderungen bezüglich des deutschen Marktes auch erfüllt werden."
Zukunftssicher
Zumal es durchaus Zeichen gibt, dass das Applications-Unlimited-Programm aufgeweicht werden könnte. Sprachen die Oracle-Verantwortlichen in den vergangenen Jahren immer von einer zeitlich nicht befristeten Initiative, nannte Konzernchef Lawrence Ellison in seiner Keynote zur Kundenkonferenz Open World im Herbst vergangenen Jahres erstmals ein Zeitlimit. Die betroffenen Anwendungen würden mindestens zehn Jahre unterstützt. "Wer genau hinhört, hat hier feststellen können, dass sich die Wortwahl ändert", meint Saacke. Erstmals gab Oracle eine Jahreszahl und damit eine Einschränkung an. "Vielleicht fällt bei der nächsten Open World das 'mindestens' weg", unkt der Anwendervertreter.
Saacke würde sich nach eigenem Bekunden nicht wundern, wenn Oracle versuche, das Programm einzuschränken. Ein Unternehmen, das eine operative Marge von 50 Prozent anstrebe, werde immer darauf achten, an welcher Stelle sich das Portfolio straffen lasse. Es sei nicht rentabel, ein Produkt für eine geringe Zahl von Kunden anzupassen. "Da schwindet sicher die Motivation des Herstellers."
Was die Entwicklungspläne ihres Lieferanten angeht, sind Oracle-Kunden weniger interessiert. Das Management hatte bereits vor Jahren unter dem Namen "Fusion" eine komplett neue Suite an Business-Applikationen angekündigt. Darin sollten die besten Funktionen der eigenen E-Business-Suite sowie der zugekauften Softwarepakete wie beispielsweise Peoplesoft, J.D. Edwards und Siebel zu einem neuen ERP-Paket "fusioniert" werden. Ursprünglich wollte der US-Konzern bereits 2008 mit den Fusion Applications starten. Doch bis auf einzelne Softwaremodule für das Kunden-Management ist bis heute wenig davon im Markt zu sehen.
Fusion ist für Oracle wichtig, aber nicht für die Anwender
"Oracle hat sich sicher keinen Gefallen getan, Fusion groß anzukündigen, dann aber nicht zu liefern", sagt Anwendervertreter Saacke. Die Verzögerung sei den Kunden aber gar nicht unrecht: "Fusion ist für Oracle wichtig, aber nicht für die Anwender." Zwar sei wenig transparent, was im Umfeld von Fusion geschehe und wo es hier hingehe, aber das sei für die Kunden auch nicht entscheidend.
Kein Anwender wolle gezwungen werden, auf eine neue Produktlinie zu wechseln, stellt Saacke klar. Entgegen allen Ankündigungen von Oracle werde der Umstieg auf Fusion aus Sicht der Anwender wohl einen Wechsel auf ein völlig neues Produkt bedeuten. Das sei für die Anwenderunternehmen jedoch immer mit erheblichen Aufwänden und Kosten verbunden. Wenn die Fusion Applications auf den Markt kommen, werden sich die Kunden das System ansehen und überlegen, ob sie wechseln sollen, prognostiziert der Doag-Geschäftsführer. Momentan warte aber niemand auf die Software.
Anwender stecken in der Komplexitätsfalle
Frank Schönthaler, strategischer Beirat der Deutschen Oracle Anwendergruppe (Doag), zu den aktuellen Entwicklungen im ERP-Markt:
Anforderungen an ein modernes ERP-System:
Aus Sicht der Anwender steht weiterhin die Usability an vorderster Stelle, wobei neben der möglichst weitgehenden Abdeckung der fachlichen Anforderungen die Präsentation der Funktionalität mit Einbindung in moderne Web 2.0-Oberflächen (Stichwort: Enterprise 2.0) zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das Management konzentriert sich auf die Themen Wirtschaftlichkeit und Investitionssicherheit; Letztere sowohl in puncto Bestandssicherheit des Herstellers als auch Zukunftsfähigkeit der Systemarchitektur.
Position der Softwareanbieter:
Hersteller wie Oracle genügen im Hinblick auf die Investitionssicherheit zweifellos höchsten Ansprüchen. Und auch bezüglich der Wirtschaftlichkeit werden mit unterschiedlichen Betriebsmodellen wie On Premise, SaaS, ERP on Demand, einer vollständigen Infrastruktur- und Applikationsplattform und flexiblen Preismodellen die richtigen Wege beschritten. Zudem deckt Oracle - als Ergebnis der Zukäufe in den vergangenen Jahren - heute auch funktionale Bereiche ab, in denen große ERP-Systeme in der Vergangenheit nicht anzutreffen waren, zum Beispiel Transport-Management in der Logistikbranche oder Vertrags-Management für Versicherer. Allerdings leidet die Usability nicht selten unter der Funktionsvielfalt, und viele Anwender sehen sich in der Komplexitätsfalle. Dass Oracle Fusion Applications Wege aus dieser Komplexitätsfalle weist, wird der Hersteller in den nächsten Monaten unter Beweis stellen müssen.
Agilität und Flexibilität aktueller ERP-Systeme:
Aktuelle ERP-Systeme sind zumeist mit leistungsfähigen Softwarewerkzeugen ausgestattet, die kundenspezifische Entwicklungen ermöglichen sowie die Integration mit Fremdsystemen. Angesichts der sich dramatisch verkürzenden Lebenszyklen von Geschäftsprozesse, Strategien, ja Geschäftsmodellen, sind die aktuellen ERP-Systeme jedoch nicht flexibel genug. Die meisten ERP-Hersteller versuchen diese Anpassungsfähigkeit in Service-orientierten Architekturen (SOA) zu erreichen. Oracle hat hier mit der Oracle Application Integration Architecture (AIA) bereits große Anstrengungen unternommen. In den neuen Oracle Fusion Applications wird Oracle aber nachweisen müssen, dass es gelingt, Anpassungsfähigkeit durch nahtlos integrierte Geschäftsprozesse, kontextsensitive Web 2.0-Oberflächen und eine bedarfsgerechte Einbindung von Business-Intelligence-Funktionalität in die Transaktionsverarbeitung zu erreichen.
IT-Verständnis auf Seiten des Managements:
Aus Sicht der Doag lässt sich eine abnehmende Bereitschaft des Managements beobachten, sich mit IT-Architektur- und -Betriebsthemen auseinanderzusetzen. Insofern werden im Zusammenhang mit IT stets Kostenüberlegungen in den Vordergrund gestellt. Geschäftschancen, die sich aus neuen IT-Systemen ergeben könnten, werden deshalb nicht selten übersehen und Usability-Verbesserungspotenziale vernachlässigt.
Die Komplexität von Business und IT:
Der von vielen ERP-Herstellern beschrittene Weg, den steigenden Anforderungen im Business mit zunehmend komplexeren IT-Systemen zu begegnen, wird unweigerlich in einer Komplexitätsfalle enden. Schon heute sind ERP-Einführungsprojekte nur schwer zu beherrschen. Und die Komplexität wird weiter zunehmen. Auch agile Einführungs- und Entwicklungsmethoden werden für ERP nicht weiterhelfen. Helfen können eine sauber definierte Lösungsarchitektur aus Geschäftsprozessen, Business Rules und Geschäftsobjekten (Master Data), die in einer Service-orientierten Architektur in Form von Web Services implementiert werden.
Neue Modelle wie SaaS oder ERP-on-Demand:
SaaS oder ERP on Demand leisten zweifellos einen Beitrag zur Beherrschung der Komplexität. Sie verlagern IT-Komplexität auf einen externen Serviceanbieter, wobei diese Aussage nur gilt, wenn nicht durch die Verlagerung im Gegenzug der Integrationsaufwand ansteigt. Und die Erfahrung lehrt, dass die Bereitschaft des Business, sich auf standardisierte Geschäftsprozesse und Funktionen einzulassen, mit SaaS steigt. Generell bildet also auch bei SaaS beziehungsweise ERP on Demand eine sauber definierte Lösungsarchitektur den Ausgangspunkt des Implementierungsprojekts und eine belastbare Entscheidungsgrundlage für die zu wählende IT-Architektur und das darauf aufbauende Betriebskonzept. (Computerwoche)