Rüdiger Bräuling, studierter Mathematiker und Ex-Programmierer, ist als einer von zwei Geschäftsführern der AOK Systems für kaufmännische Themen zuständig, das bedeutet für Personal und Organisationsentwicklung sowie Planung und Controlling. Aufgrund historisch gewachsener Entscheidungen in Sachen Arbeitsteilung ist die AOK Systems nur für die Software-Entwicklung zuständig, während der Betrieb der Anwendungen den AOK-Rechenzentren zugeordnet ist.
Von diesen gibt es noch vier eigenständige Einrichtungen, die die IT der gesamten Landesorganisationen der AOK – heute zusammengefasst in elf Regionen – durchführen. Wie Bräuling berichtet, ist seine Organisation zuständig für die sogenannte "Alt-Software" und die permanenten Neuentwicklungen. Die Alt-Software stammt teilweise noch aus den 70er Jahren und wird in einem jahrelangen Prozess auf der Basis von SAP-Modulen schrittweise abgelöst.
Die Trennung in die vier Rechenzentren und in eine abgetrennte Software-Abteilung war laut Bräuling "schon immer so". In den Zeiten vor der Wende 1991 besaß die AOK sogar einmal 90 Rechenzentren bundesweit. Diese wurden dann zentralisiert, so dass ihre Zahl nach 2000 auf neun sank, bis zum heutigen Stand von vier. Die Software-Entwicklung war früher auf die verschiedenen Rechenzentren verteilt, wobei ein Teil schon recht früh beim AOK Bundesverband angesiedelt war, der sich um die Koordination zwischen den verschiedenen regionalen und lokalen Kassen kümmerte.
Mit der Zeit ist daraus, berichtet Bräuling, der Komplex der Alt-Software der AOK entstanden, mit unterschiedlichen Programmen und Versionen. Um die Entwicklung der Software besser zusammenzuführen und einen Übergang zu Standard-Programmen auf SAP-Basis zu erreichen, kam es 1999 zur Ausgründung der AOK Systems aus dem Bundesverband heraus. Man startete mit 80 Mitarbeitern, während man heute einen Personalstand von etwa 500 erreicht hat.
Die von Anfang an geplante Entwicklungsvereinbarung mit SAP ist dann 2001 offiziell besiegelt worden. Seit diesem Zeitpunkt entwickelt man Software-Module auf SAP-Basis, die in verschiedenen Stufen und schrittweise in der gesamten AOK zum Einsatz gekommen sind. Der ganze Prozess der Ablösung der Alt-Software ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Ab 2015 soll es dann nur noch die SAP-basierten Anwendungen geben.
Oscare für alles
Die neue Software ist in drei große, sogenannte Oscare-Module aufgeteilt. Oscare 1.0 bildet alles ab, was die Firmenkunden betrifft, zum Beispiel den Arbeitgeberbeitragseinzug, und weitere allgemeine Finanzthemen. Oscare 2.0, das umfangreichste Modul, kümmert sich um das Leistungsmanagement der Pflichtversicherten, und bei Oscare 3.0 geht es um das Privatkundenmanagement. Das erste Modul ist schon seit 2006 in der gesamten AOK im Einsatz, das zweite und dritte befinden sich noch im Roll-out-Prozess.
Die Umstellung dauert deshalb so lange, weil man die komplexen Programme in den jeweiligen Regionen nur stufenweise einführen kann. Nur so lässt sich laut Bräuling der Tagesbetrieb mit etwa 24 Millionen Versicherten (etwa ein Drittel der versicherungspflichtigen Bevölkerung) aufrechterhalten. Der ganze Umstellungsprozess kann sogar in der jeweiligen regionalen AOK mit einem Vorprojekt und mit einer Nachbetreuung bis zu einem Jahr dauern.
SAP stellt für die Software-Entwicklung der AOK Systems Basis-Module zur Verfügung, deren Funktionalität für die spezifischen Krankenkassenaufgaben genutzt und erweitert wird. Man könne sich das, so Bräuling, wie das Chassis eines Autos vorstellen, das die Grundlage für verschiedene Modelle liefert. Das Chassis und Teile des Motors würde SAP liefern, während alles darüber hinaus wie Elektronik oder Innenausstattung von der AOK Systems hinzugefügt wird. Bezogen auf die Aufgaben einer Krankenkasse sind das dann vor allem Software-Abbildungen der gesetzlichen Ausprägungen in ihrem permanenten Wandel.
Im Bereich Leistungsmanagement zum Beispiel kennt die SAP das Thema "Verträge" und die damit verbundenen Pflichten und Rechte beider Seiten, einschließlich der finanziellen Abrechnungen für bestimmte Aufgaben. Aber SAP hat das in dieser Allgemeinheit für sämtliche möglichen Verträge formuliert – von Unfallversicherungen bis zu Kfz-Versicherungen, ohne Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten. Das muss für jede Branche ergänzt werden. Bei den AOKs laufen diese Ergänzungen unter dem Titel "GKV-Add-on", die man entweder selbst oder in Kooperation mit SAP sowie Systemhäusern in Software gießt.
Mit der Entwicklung sämtlicher Add-ons und dem Ausrollen der Programme in allen AOK-Regionen seien die Aufgaben der AOK Systems keineswegs zu Ende, betont Bräuling. Erstens sei die Entwicklung der spezifischen Software für die Kassen nie abgeschlossen. Dafür sorge schon allein der Gesetzgeber, der ständig neue Verordnungen und Gesetze für das Gesundheitswesen erlasse. Viele davon seien in der Öffentlichkeit gar nicht bekannt, trotzdem erfordern sie aber immer wieder Anpassungen in der Software.
Das gelte zum Beispiel auch für den "Sozialausgleich": Mit dem Gesundheitsfonds hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, dass die Kassen Zusatzbeiträge erheben können. Dabei gibt es eine Regelung der "sozialen Überforderung", mit der die Krankenkasse prüfen kann, ob die Zuzahlung den Versicherten eventuell finanziell überfordert. Ist dies der Fall, wird ein Sozialausgleich durchgeführt, der laut Bräuling recht kompliziert angelegt ist und mit großem Aufwand in die Add-ons integriert werden muss. Nachdem man die notwendigen Programmänderungen durchgeführt hatte, musste man erfahren, dass die Bundesregierung für den Gesundheitsfonds noch keinen flächendeckenden Zusatzbetrag festgelegt hatte. Jetzt ist in dieser Angelegenheit erst einmal Abwarten angesagt.
Ärgerliche Verzögerungen bei der Gesundheitskarte
Weitere Themen, die gegenwärtig Software-Anpassungen erfordern, sind SEPA oder die elektronische Gesundheitskarte. Momentan sind die neuen Karten fast flächendeckend – auch innerhalb der AOK – ausgegeben worden. Bräuling berichtet, dass jetzt die Vorbereitungen für die nächste Ausgabe der Karte (eGK 2) laufen, die Online-Zugriffsmöglichkeiten bieten soll. Auch für die AOK Systems ist die gegenwärtige Situation nicht zufriedenstellend, da die neu verteilten Karten mit Foto der Versicherten auch nicht mehr können als die alten.
Mit dem neuen Chip auf der Karte seien eigentlich die Voraussetzungen dafür gegeben, endlich die ursprünglichen Zielsetzungen einer weitgehenden Digitalisierung der Patientendaten zu realisieren. Vermutlich fehle es aber an dem politischen Willen, mit der eGK voranzugehen. Vermutlich seien die unterschiedlichen Interessen der Träger der Gematik-Organisation, die die Umsetzung der eGK schon vor Jahren bewerkstelligen sollte, zu groß. Man könne sich oft genug nicht auf gemeinsame Ziele, Vorgehensweisen und Fristen einigen.
Man spricht bei der AOK Systems nicht umsonst von einer „Branchenlösung", wie Bräuling erläutert, weil man schon recht früh an einen Weiterverkauf der Module gedacht hatte. Das Abkommen mit der SAP von 2001 sah dies sogar direkt vor: Es sollte eine Lösung für die gesamte Branche entwickelt werden, nicht nur für die AOK. Durch die Zusammenarbeit mit anderen Kassen wie der Barmer GEK, der HEK, der Knappschaft und den Betriebskrankenkassen lassen sich Synergien bei Entwicklung und Wartung erreichen..
Bräuling gibt sich optimistisch, da das Marktpotenzial noch nicht erschöpft sei: Von den 25 größten Krankenkassen hat man erst 14 als Kunden, die Oscare einsetzen. Die zweitgrößte Kasse, die Techniker Kasse (TK), hat allerdings eine eigene Lösung entwickelt, und die DAK hat sich mit den Betriebskrankenkassen zusammengeschlossen und arbeitet mit dem IT-Dienstleister Bitmarck zusammen. Dort wird ebenfalls an einer Umstiegslösung gearbeitet. Insgesamt wird es wohl bei heterogenen Programmen bleiben, zumal die AOK-Branchenlösung für Kassen mit weniger als etwa 300.000 Mitgliedern wegen der langen Umstellungszyklen nicht wirtschaftlich sei.
Standards für die Zukunft
Was die Zukunft angeht, sei mit Oscare erst die Basis für weitere Anwendungen gelegt, um Standardprozesse abzuwickeln. Neue Herausforderungen für die Krankenkassen werden laut Bräuling im Kundenbeziehungs- und im Versorgungsmanagement entstehen. Es gehe darum, eine optimale Versorgung der Mitglieder zu erreichen, ihren Gesundheitsstatus zu erhöhen bei gleichzeitiger Senkung der Krankheitskosten. Die Kontakte zu den Versicherten müssten ausgebaut werden, gleichzeitig sollten die vorhandenen Datenmengen besser für Prävention genutzt werden. Ein Hauch von Big Data auch im Gesundheitssektor.