Software-Implementierung

Atos: Das Projekt "Zero-Email" startet

02.10.2012 von Werner Kurzlechner
Der Dienstleister will alle internen E-Mails abschaffen. Im Oktober beginnt der Software-Rollout in Frankreich und Indien. Danach folgen alle anderen Länder.

Großbritannien kann Gold. „GB“ kann sportliche und außergewöhnliche Leistungen vollbringen, perfekt organisieren und mittlerweile sogar wieder Tennis. Das haben die Olympischen Spiele in London der Welt eindrucksvoll demonstriert. Olympia hat nebenbei Traditionen in Erinnerung gerufen: Großbritannien ist nicht nur das Mutterland des modernen Sports, sondern auch eine Nation mit Leidenschaft für mutige und manchmal durchgeknallte Wetten. Und weil mit derartigen nationalen Zuschreibungsschablonen zum Beispiel die besondere Rivalität mit Frankreich seit Ewigkeiten am Leben gehalten wird, war es schon 1873 kein Zufall, dass der französische Autor Jules Verne ausgerechnet einen englischen Gentleman zum Gewinn einer Wette in 80 Tagen um die Welt reisen ließ.

Wie einst Phileas Fogg: Robert Shaw, Weltreisender im Kampf gegen die E-Mail.
Foto: Atos

So fügt es sich, dass der olympische IT-Dienstleister Atos ausgerechnet einen Briten mit der sportlichsten Aufgabe im Unternehmen betraut hat. Und dass CEO Thierry Breton, Franzose wie Schriftsteller Verne, einen Engländer zum Protagonisten jener Mission machte, auf deren Scheitern längst das Gros der IT-Welt Wetten abgeschlossen hat.

Der altgediente Atos-Manager Robert Shaw hat seit Januar den Job, den es so garantiert nur einmal auf der Welt gibt: Er ist Global Program Director für das Projekt "Zero Email", mit dem Atos seit fast zwei Jahren die kalkulierten und erhofften Schlagzeilen produziert. Anfang 2011 hatte Breton mit einigem Getöse angekündigt, dass Atos – zumindest intern – die E-Mail abschaffen will. Zwar nicht in 80 Tagen, aber doch bis Ende 2013.

Bis Ende 2013 - oder 2014

Shaw, der direkt an Breton berichtet, trägt nun weltweit die Verantwortung dafür, dass das ehrgeizige Vorhaben wie anvisiert umgesetzt und zum Erfolg gebracht wird. Den engen Zeitrahmen relativiert er dabei etwas. Ob Zero Email nun Ende 2013 oder erst 2014 verwirklicht ist, lasse sich derzeit noch nicht sicher sagen. In jedem Fall hat nun aber die Phase begonnen, in der es ernst wird und auch die nötige Software-Implementierung auf den Weg gebracht ist.

Atos-CEO Thierry Breton: Die Null-E-Mail ist für den Dienstleister auch Chefsache.
Foto: Atos

Der Brite bringt dabei auch die für seine Landsleute typische Abgeklärtheit mit, um die Dimension des Projekts trocken und klar einzuordnen. Er erzählt von seinen Studententagen, als er seine Eltern noch über ein Münztelefon anrief. Schnurloses Telefonieren? „Das war damals Science Fiction“, sagt Shaw. Zukunftsmusik war in diesen noch nicht allzu fernen Tagen auch die Kommunikation via E-Mail, die Atos nun zum aussterbenden Relikt stempeln will.

11 Software-Lösungen im Test

Zero Email ist in den ersten Reaktionen auf die Ankündigung ja auch als PR-Geschichte bezeichnet worden. Das ist sie mit Sicherheit. In den Fokus der Berichterstattung rückten naturgemäß die vielen Nachteile dieses Kommunikationskanals. Dass laut Breton nur 15 Prozent der elektronischen Post wichtige und nützliche Informationen enthalten. Und dass deshalb das E-Mailen zu jeder Menge Verschwendung von Zeit, Geld und Konzentration führt, Mitarbeiter unter permanenten Beantwortungsdruck setzt und mitunter sogar krank machen kann.

Die Realität dürfte indes so aussehen: Die E-Mail hat sich nicht ohne Grund als ein bevorzugter Kommunikationsweg durchgesetzt – sie hat ohne Zweifel ihre funktionalen Vorzüge. Gleichzeitig wirft sie die genannten Probleme auf, die viele Unternehmen kennen und die sich nach Einschätzung von Experten auch ohne ihre Abschaffung eindämmen lassen – zum Beispiel durch zeitliche Zugriffsbeschränkungen oder gestückeltes Auffüllen des Postfachs. Atos nun geht erkennbar aufs Ganze: damit nicht nur Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt reist, sondern viele in seiner Spur folgen.

Entscheidung für BlueKiwi

Der konkrete Beweis dafür heißt BlueKiwi. Shaw berichtet, dass Atos von rund 200 Lösungen auf dem Markt 47 Stück grundsätzlich in Erwägung zog, elf ernsthaft testete und sechs lange in der Verlosung hatte. Am Ende entschied man sich für Enterprise Social Software von BlueKiwi.

Praktischerweise übernahm Atos den visionären Collaboration-Start-Up aus Paris im vergangenen April komplett, so dass im Falle einer gewonnenen Wette das Zero Email-Paket gleich selbst vertrieben werden kann. Entsprechend betont Shaw, dass ab Mitte Oktober intern nichts anderes implementiert werde als die im Sommer auf den Markt gebrachte aktuellste Version der BlueKiwi-Software. Keine maßgeschneiderte Individual-Lösung also, sondern allgemein erhältliche Software aus dem Regal.

Eine einfach zu handhabende Lösung wollte man laut Shaw haben, mit der Mitarbeiter gerne arbeiten. Die Wette zielt auch darauf ab, die Mitarbeiter schnell von den Vorzügen von Social Media-Elementen gegenüber der gewohnten E-Mail zu überzeugen. Wie Facebook biete BlueKiwi Tools, die jeden über das Geschehen in der Firma auf dem Laufenden halten, berichtet Shaw. Wie von Twitter bekannt, werden Mitarbeiter zum Microblogging animiert.

Weil Briten bekanntlich nicht zu Fantastereien neigen, streitet Shaw aber auch nicht ab, dass es zumindest ein E-Mail-Surrogat braucht. Die Lösung enthalte auch die Möglichkeit, Informationen One-to-One, One-to-Group oder One-to-All zu verschicken.

Der Projektfahrplan

Der Fahrplan bei Atos sieht vor, dass der auf mehrere Monate angelegte Roll-Out jetzt erst einmal in Frankreich und Indien startet. Innerhalb der kommenden sechs Monate sollen alle anderen Regionen folgen, sagt Shaw. Flankiert werde die Implementierung durch Video-Clips à la Youtube, die den Mitarbeitern den Umgang mit der neuen Lösung näher bringt. Denn Schulungen im Stile von Frontalunterricht im Klassenzimmer sind laut Shaw in etwa so out wie Münztelefone.

Ansonsten reist der 41-Jährige momentan tatsächlich um die Welt wie einst sein fiktiver Landsmann Fogg. Es gilt, regionale und kulturelle Besonderheiten und Schwierigkeiten auszuloten – Zero Email lässt sich nicht jeder Geschäftseinheit nach Schema F überstülpen.

Rücksicht auf Rechtslage und Mitarbeiterrechte in Deutschland

Mitte September etwa war Shaw in München und Frankfurt am Main. Der Global Program Director sagt, es sei eine der ersten Stationen seiner Tour gewesen. Deutschland ist für Atos ein wichtiger Markt, was nach der Übernahme von Siemens IT Solutions and Services im vergangenen Jahr ohnehin auf der Hand liegt. In der Bundesrepublik müsse aber bei Zero Email besondere Rücksicht auf rechtliche Vorgaben und Mitarbeiterrechte genommen werden, berichtet Shaw. Deshalb seien hierzulande erst einmal Geschäftsführung und Belegschaftsvertreter damit beauftragt worden, gemeinsam einen akzeptablen Implementierungspfad zu finden.

Shaw ist pragmatisch und nüchtern genug, um mit internen Widerständen zu rechnen. Wie begeistert die Mitarbeiter die Social Media-Offensive Zero Email aufnähmen, hänge selbstverständlich von kulturellen Faktoren ebenso ab wie von der Altersstruktur. In Indien verlaufe der Übergang vermutlich reibungsloser als etwa in Frankreich, wo es eine länger gewachsene und komplexere Mitarbeiter- und Altersstruktur gebe.

Digital Natives sollen fürs Projekt werben

Überhaupt weigert sich der von einem fünfköpfigen Kernteam unterstützte Manager, künftigen Ergebnissen jetzt schon vorzugreifen. Auch über den seit Bretons Ankündigung schon erreichten Rückgang an elektronischer Post will Shaw nicht spekulieren. Man werde in Bälde derartige Entwicklungen exakt messen und dann auch der Öffentlichkeit belastbare Zahlen liefern.

Fest stehe allerdings: „Wir brauchen Botschafter, um unser Ziel zu erreichen.“ Mitarbeiter also, die die Vorgabe verinnerlichen und Zero Email im Kollegenkreis propagieren. Atos setzt auch darauf, dass jüngere Mitarbeiter der Generation Digital Natives den Älteren beim Umgang mit der neuen Social Media-Software helfend unter die Arme greifen.

E-Mail-Aufkommen halbiert

Shaw nennt in diesem Zusammenhang auch ein Beispiel aus Deutschland: Ein Beraterteam sei sofort Feuer und Flamme für das Projekt gewesen und habe aus eigenem Antrieb in kürzester Zeit das E-Mail-Aufkommen um die Hälfte gesenkt. Es handle sich wohlgemerkt nur um ein Team innerhalb von Atos Deutschland, das aber eine wichtige Botschafter-Rolle spiele.

Es klingt alles nachvollziehbar und plausibel, was der Global Program Director berichtet. Er verweist auch auf die lange, wissenschaftlich begleitete Vorlaufphase und das programmatische Whitepaper, das Atos zum Thema erarbeitet habe. Darin enthalten ist viel Aufschlussreiches über die Nachteile des Mediums E-Mail und den Weg, den Atos beschreitet.

Es werden aber auch Zahlen präsentiert, die zum Teil arg märchenhaft wirken. Ein Drittel der Mitarbeiter verbringt demnach täglich drei Stunden des Arbeitstages allein mit elektronischer Post. 69 Prozent unterstützen Zero Email demnach vorbehaltlos, kein einziger Mitarbeiter lehnt die Initiative ab. Diese Tendenz mag sehr wohl stimmen, aber selbst auf kommunistischen Parteitagen gab es Gegenstimmen.

Der CFO ist wichtigster Mitstreiter

Ein Schuss englischer Pragmatismus tut da sicherlich Not, zumal ein weiteres Atos-Argument für Zero Email sehr nach französischer Romantik klingt. Die Mitarbeiter sollen wieder mehr direkt miteinander kommunizieren und sich am Sprudelautomaten miteinander austauschen. Erstrebenswert gewiss, aber wohl nur schwerlich eine automatische Folge der Eliminierung elektronischer Post.

Shaw wirkt durchaus beseelt von seiner Aufgabe, aber ist in jedem Fall mehr Ökonom als Ideologe. Beim Projekt Olympische Spiele hat Atos bereits erfolgreich ohne E-Mail-Unterstützung gearbeitet. Das lag laut Shaw nahe, weil E-Mail-Kommunikation immer für Effizienzverlust sorge. „Deshalb ist mein wichtigster Champion auch der CFO“, so Shaw. Champion ist in diesem Falle als Mitstreiter zu verstehen, nicht als Sieger.

Der dürfte am Ende nämlich Robert Shaw heißen – denn diese Wette ist für Atos zu wichtig, um verloren zu gehen. Fraglich wird nur bleiben, wie viele Unternehmen am Ende dieser Spur folgen.