Für 340 Millionen Euro in bar

Atos kauft Unify von Siemens und Gores Group

04.11.2015 von Manfred Bremmer
Nach langer Suche haben die Gores Group und Siemens einen Käufer für ihr Joint-Venture Unify gefunden: Atos will den Spezialisten für Unified Communications für 340 Millionen Euro in bar kaufen. Gleichzeitig übernimmt der französische IT-Dienstleister 200 Millionen Euro an Pensionsverpflichtungen und 50 Millionen Euro Schulden.

Wie Atos bekannt gab, soll die Transaktion bereits im ersten Quartal 2016 abgeschlossen sein - die Zustimmung der Arbeitnehmervertreter sowie die Genehmigung durch die Kartell- und Aufsichtsbehörden vorausgesetzt. Der französische IT-Dienstleister, an dem Siemens mit zwölf Prozent beteiligt ist, beabsichtigt mit der Übernahme von Unify, seine Angebotspalette für die digitale Transformation zu erweitern. Gleichzeitig soll der Kauf des nach eigenen Angaben drittgrößten Anbieters für integrierte Kommunikationslösungen im Portfolio die Lücke zwischen Kommunikations- und IT-Dienstleistungen zu schließen.

"Unsere Kunden verlangen nahtlose Servicelösungen für ihr gesamtes digitales Portfolio und einen zuverlässigen Partner, der ihre Bedürfnisse aus einer Hand abdecken kann", erklärt Thierry Breton, Chairman und CEO von Atos, in einer Stellungnahme. Das Portfolio und die Kundenbasis von Unify würden die bestehenden digitalen Angebote von Atos dabei auf einzigartige Weise ergänzen. (Siehe auch Analystenstimmen zur Übernahme)

Mit der Übernahme nimmt das Schicksal von Unify eine neue Wendung. Das zunächst Siemens Enterprise Communications (SEN) genannte Unternehmen war im Oktober 2006 durch die Ausgliederung des Bereichs Communications aus der Siemens AG entstanden. Im Juli 2008 entstand daraus ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem US-Investor The Gores Group. Dieser brachte für einen 51-Prozent-Anteil an dem Joint Venture seine Firmen Enterasys und SER-Solutions, einen Hersteller für Call-Center-Software, ein. 2013 folgten dann der Verkauf von Enterasys an Extreme Networks und die Umfirmierung in Unify, um den Fokus auf UCC-Lösungen (Unified Communication & Collaboration) stärker herauszustellen.

UCC-Lösung mit Potenzial

Der Circuit-Launch von Unify vor knapp einem Jahr
Foto: Unify

Potenzial sehen Analysten insbesondere in dem aus Project Ansible hervorgegangenen Cloud-Lösung Circuit. Dabei handelt es sich um eine Plattform, die auf WebRTC basiert und die alle Aspekte der Business-Kommunikation vereint - also UC, Social Media, Business-Applikationen wie BI, ERP oder CRM sowie Cloud-basierte Informationsdienste unter einen Hut bringt. Mit einer inzwischen auf 5.600 Mitarbeiter geschrumpften Belegschaft und Geschäftsaktivitäten in mehr als 60 Ländern erwirtschaftete Unify zuletzt einen Umsatz von 1,2 Milliarden Euro.

Strategischer Kauf oder Resteverwertung?

Betrachtet man die näheren Umstände des Deals stellt sich jedoch die Frage nach den eigentlichen Hintergründen des Unify-Kaufs. Die ehemalige Communications-Tochter ist nämlich nicht die erste Siemens-Tochter, die nach langer Suche bei Atos landet. 2010 erwarben die Franzosen den kriselnden IT-Dienstleister Siemens IT Solutions and Services (SIS) für 850 Millionen Euro. Davon bezahlte Atos (Origin) aber nur 186 Millionen Euro in bar, der Rest wurde in Wandelanleihen und Anteilsscheinen beglichen, weshalb Siemens inzwischen mit zwölf Prozent größter Anteilseigner von Atos ist. Zu dem Deal gehörte damals außerdem ein rund 5,5 Milliarden Euro schwerer Outsourcing-Vertrag mit Siemens mit einer Laufzeit von sieben Jahren.

Die Geschichte von Atos und SIS
Die Geschichte von Atos und SIS
Mit der Übernahme von SIS durch Atos Origin endete eine lange Leidensgeschichte der einstigen Siemens-IT-Sparte. Ein Rückblick mit Bildern.
SIS Zentrale München-Perlach
SIS entstand 1995 aus der Ausgliederung von Siemens-internen IT-Abteilungen der Bereiche in eine eigene Gesellschaft namens Siemens Business Services GmbH & Co. OHG (SBS) unter Leitung von Friedrich Fröschl.
Friedrich Fröschl
Friedrich Fröschl wollte SBS unter die Top fünf der IT-Dienstleister bringen und die globale Expansion durch einen Börsengang finanzieren. Doch ein Outsourcing-Projekt in Großbritannien erwies sich als Fass ohne Boden. Nach Rekordverlusten musste Fröschl 2001 gehen.
Paul Stodden
Fröschls Nachfolger wird Paul Stodden, der zuvor bereits Fujitsu-Siemens Computers saniert hatte. Durch straffes Kostenmanagement mit Stellenabbau führt er SBS wieder in die Gewinnzone.
Adrian van Hammerstein
Doch die Situation für SBS blieb kritisch. Stoddens Nachfolger Adrian von Hammerstein strich bis Ende des Geschäftsjahres 2005 1.000 Stellen. Zusätzlicher Druck kam vom seit April 2005 amtierenden neuen Siemens-CEO Klaus Kleinfeld. Er verpflichtete SBS auf eine Marge von über fünf Prozent in genau zwei Jahren.
Christoph Kollatz
Im September 2005 folgte Christoph Kollatz auf von Hammerstein. Unter seiner Ägide kündigte SBS an, innerhalb von zwei Jahren 1,5 Milliarden Euro zu sparen und 5.400 Stellen zu streichen. Zudem verkaufte SBS den Geschäftsbereich „Produktnahe Dienstleistungen" (PRS) an den PC-Hersteller Fujitsu Siemens.
Siemens
In den folgenden Monaten forcierte Siemens den Umbau seines verlustreichen IT-Dienstleisters. SBS sollte noch enger mit dem sonstigen Siemens-Geschäft verzahnt werden. Nichtsdestotrotz häuften sich die Spekulationen über die Zukunft von SBS. Auch Atos Origin wurde 2006/2007 bereits als potenzieller Käufer genannt.
SIS-Niederlassung in Dubai
Im Jahr 2007 entschloss sich Siemens, SBS nicht zu verkaufen, sondern mit vier weiteren IT-Sparten unter dem Dach der neu geschaffenen „Siemens IT Solutions and Services“ (SIS) zusammenzulegen.
Peter Löscher
Im Dezember 2009 kündigte Siemens-CEO Peter Löscher an, SIS als eigenständiges Unternehmen aus dem Konzern auszugliedern. Der langjährige SIS-Chef Christoph Kollatz verließ das Unternehmen daraufhin im Streit.
Christian Oecking
Unter der Leitung seines Nachfolgers Christian Oecking wurde SIS als GmbH ausgegründet. Im Zuge der Ausgliederung strich SIS weltweit 4.200 der 35.000 Jobs. Der Weg für die Übernahme durch Atos Origin war bereitet.
Atos Origin – altes Logo
Atos Origin entstand im Jahr 2000 durch die Fusion von Atos und Origin.
Atos Origin Headquarter in Essen
Im Januar 2004 erwarb Atos Origin von Schlumberger die Sema-Gruppe und formte damit eines der größten europäischen Unternehmen für IT-Dienstleistungen.
Standort Atos Origin Meppen
In den Folgejahren sorgten Akquisitionen und Outsourcing-Deals für weiteres Wachstum. Atos Origin übernahm den Rechenzentrumsbetrieb von Itellium, die IT-Sparte von E-Plus, Teile der IT des Fernsehsenders Premiere und der Dresdner Bank.
Verlängerung Olympia-Vertrag mit dem IOC am 25.05.2009
Seit den Olympischen Winterspielen 2002 in Salt Lake City ist Atos Origin weltweiter IT-Partner des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Im Bild die Vertragsverlängerung bis zu den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro.
Thierry Breton
Thierry Breton ist seit Februar 2009 Vorsitzender und CEO des Atos Origin Konzerns. Unter seiner Ägide wird Atos Origin mit der Übernahme von Siemens IT Solutions & Services (SIS) zum zweitgrößten IT-Dienstleister in Europa.
Logo Atos
Seit 1. Juli 2011 ist Siemens IT Solutions and Services (SIS) vollständig in Atos Origin integriert. Das verschmolzene Unternehmen trägt den neuen Namen Atos.
Winfried Holz CEO Atos Detuschland
Winfried Holz ist CEO von Atos Deutschland. Einer seiner Schwerpunkte soll der Ausbau des Cloud-Computing-Angebots sein.
Für künftiges Wachstum ...
... hat Atos zudem weitere Schritte hin zum Cloud Computing-Unternehmen unternommen. Seit Anfang des Jahres gibt es Canopy, ein neues Unternehmen für Cloud Computing-Services, das aus der strategischen Allianz für Open Cloud Computing zwischen Atos, EMC und VMware hervorgegangen ist.
Ergänzend dazu ist Atos ...
... auch an Yunano beteiligt, einem Joint Venture, das im November 2011 aus einer Partnerschaft von Atos mit dem chinesischen Softwarehaus Ufida hervorging. Das Angebot von Yunano umfasst CRM- und ERP-Cloud-Computing-Services für mittlere und Großunternehmen in Europa, Afrika und dem Nahen Osten.
Bei Olympia 2012 aktiv
Seit 2002 ist Atos IT-Partner des IOC (hier ein Bild aus dem Kontrollzentrum der Olympischen Spiele 2012 in London). Mittlerweile laufen bereits die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2016 in Rio auf Hochtouren. Erstmalig bei Sommerspielen werden die zentralen Planungssysteme in Rio per Cloud bereitgestellt, einschließlich der Systeme für Akkreditierung, Sportanmeldung und Qualifizierung, Personalmanagement sowie für das Freiwilligenportal. Zu den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang sollen alle IT-Dienstleistungen über Canopy, die Atos Cloud-Tochtergesellschaft, verfügbar sein.
Kampagne 'Zero E-Mail'
Atos hat mit seinem im Jahr 2011 gestarteten „Zero-Emai“-Projekt weltweit für Aufsehen gesorgt. Ziel des Programms war es, binnen drei Jahren interne E-Mails durch moderne Collaboration-Anwendungen zu ersetzen. Das erfordert einen Wandel der Unternehmenskultur: Informationen sollen gemeinschaftlich erzeugt und weiter bearbeitet werden. Mittlerweile nutzen die Atos-Mitarbeiter E-Mails meist nur noch bei rechtlichen Vorgaben oder zur Kommunikation mit externen Kontakten. Im Mai 2014 erhielt Atos für Zero Email sogar den 'Forrester Groundswell Award' for Excellence in Social Collaboration in der Kategorie “Business-to-Employee: Employee Collaboration”.
Weiterhin gute Zahlen
Im ersten Halbjahr 2014 erfüllte Atos mit einem Umsatz von 4,176 Milliarden Euro und einem Netto-Ergebnis von 76 Millionen Euro seine Erwartungen. Das Unternehmen hat in diesem Zeitraum unter anderen den Börsengang von Worldline abgeschlossen, des Mitte 2013 ausgegliederten Tochterunternehmens. Worldline bündelt alle Zahlungs- und Transaktionstätigkeiten von Atos und ist der führende europäische Anbieter von e-Payment Transaktionsservices.
Übernahme von Bull
Eines der wichtigsten Ereignisse für Atos im Jahr 2014 war die Übernahme des französischen Wettbewerbers Bull für rund 620 Millionen Euro. Damit steigt Atos zu einem führenden Unternehmen für Cloud Computing, Cyber Security und Big Data auf. Gemessen am Cloud-Umsatz wird Atos durch die Fusion weltweit zur Nummer zwei nach Amazon und vor Microsoft.
Bestwerte bei Experton
Die Experton Group untersuchte für den „Cloud Vendor Benchmark“ 2014 mehr als 400 Anbieter für Cloud-Software, -Infrastruktur, -Services und -Sicherheit im deutschen Markt. Canopy (Atos) liegt hier gemeinsam mit IBM in der Kategorie „Cloud Transformation“ an der Spitze. Gründe sind unter anderen ein umfangreiches Portfolio an Beratungs- und Integrations-Services im Cloud-Umfeld sowie eine starke Marktdurchdringung in Deutschland.

Wie Atos nun zeitgleich zur Mitteilung über den Unify-Kauf bekannt gab, wurde die im Juli 2011 unterzeichnete IT-Vereinbarung über sieben Jahre verlängert und das vereinbarte Mindestgeschäftsvolumen für den Zeitraum 1. Juli 2011 bis 31. Dezember 2021 um 3,23 Milliarden Euro, nämlich von 5,5 Milliarden Euro auf 8,73 Milliarden Euro, erhöht. Zusätzlich zu Projekten in den Bereichen Managed Services, Application Management und Systems Integration, die im ursprünglichen Vertragsumfang enthalten waren, wurden die Leistungen auf die Digitalisierung der Geschäftsbereiche von Siemens, einschließlich der Bereiche Cloud Computing, Industrial Data Analytics und Cybersicherheit, erweitert.

Zudem hieß es, dass Atos und Siemens weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit prüften, um die Digitalisierungsstrategie, besonders in den Feldern Digital Remote Services, Internet der Dinge und Cybersicherheit voranzutreiben und damit die Grundlagen für Industrie 4.0 zu legen.

Ach ja: Auch bei der UC-Lösung hat sich der Siemens-Konzern für die künftige Atos-Tochter Unify entschieden und will als erster Unternehmenskunde Circuit im großem Umfang einsetzen.