"Die IT wird erst zum Thema, wenn sie nicht mehr funktioniert", sagt Patrick Burghardt. Das war die Ausgangssituation, als er im Januar 2019 zum CIO und Digital-Staatssekretär des Landes Hessen ernannt wurde. Seitdem hat sich viel getan in dem Bundesland. Mit Kristina Sinemus berief die Landesregierung erstmals eine Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung. Ihr zugeordnet ist der CIO, der in der konzeptionellen Steuerung von IT- und Digitalaktivitäten eine Schlüsselrolle spielt.
Die derzeit größte Herausforderung beschert Burghardt das Onlinezugangsgesetz (OZG). Bund, Länder und Kommunen werden darin verpflichtet, ihre Verwaltungsleistungen bis 2022 online verfügbar zu machen. Hessen arbeite derzeit an rund 630 digitalen Services auf Landesebene, berichtet der IT-Chef. Hinzu kommen weitere 530 Dienste auf kommunaler Ebene. Dabei handele es sich in der Regel um klassische "Bürgerprozesse" wie den digitalen Führerschein, der gerade pilotiert wird. Der CIO ist mit seinem Team auch dafür zuständig, dass die Kommunen im Land das OZG umsetzen.
Der hessische Weg
Burghardt, gelernter Speditionskaufmann, der 2009 in den Hessischen Landtag gewählt wurde, spricht gern vom "hessischen Weg", den das Land in Sachen OZG gehe: "Wir haben uns überlegt, wie wir die Kommunen in die Lage versetzen, den Bürgern so schnell wie möglich digitale Dienstleistungen anzubieten." Als ehemaliger Oberbürgermeister von Rüsselsheim wisse er, dass die Kommunen mit vielen Anforderungen konfrontiert seien und das Thema Digitalisierung nicht immer höchste Priorität habe: "Es musste also so einfach wie möglich für die Kommunen sein."
Vor diesem Hintergrund entstand die IT-Plattform "Civento", die allen Kommunen zur Verfügung steht. Sie ermöglicht Bürgern nicht nur, digitale Anträge zu stellen, sondern wickelt auch komplette Prozesse elektronisch ab. Burghardt: "Im Grunde ist Civento eine erweiterbare Prozessplattform mit vollständigem Dokumentenmanagementsystem und Zahlungssystemintegration für die Bearbeitung individueller Prozesse."
Verantwortlich für die technische Umsetzung ist der kommunale IT-Dienstleister ekom21. Er entstand bereits in den 1970er-Jahren aus dem Zusammenschluss mehrerer Kommunen, die gemeinsam ein Rechenzentrum betreiben wollten. Heute agiert ekom21 als breit aufgestellter IT-Dienstleister, der beispielsweise Software anbietet und einen gemeinsamen Einkaufs-Pool für Hardware in den Kommunen betreibt.
Prozessplattform für Kommunen
Zentrale Komponente von Civento ist eine Service-Bibliothek, aus der sich alle Kommunen bedienen können. "Die digitalen Module lassen sich von Mitarbeitern in den Kommunen individuell anpassen", erläutert der CIO. Als Beispiel nennt er den digitalen Hundesteuerantrag, der in einzelnen Kommunen durchaus unterschiedlich ausgestaltet sein könne. Entscheidend sei, dass Civento allen 422 Städten und Gemeinden sowie sämtlichen Landkreisen kostenlos zur Verfügung stehe. Diesen Service lasse sich das Land Hessen jedes Jahr vier Millionen Euro kosten. Die Akzeptanz sei besonders hoch. Seit dem Rollout der Plattform im Mai 2020 hätten bereits 90 Prozent der Kommunen eine Lizenz beantragt, um die Plattform nutzen zu können.
Technisch basiert Civento auf SQL-Datenbanken und Open-Source-Produkten. Zu der mandantenfähigen Lösung gehören neben einer Antrags- auch eine Abwicklungskomponente für die Sachbearbeitung sowie ein Modul mit Modellierungswerkzeugen für das Design von Prozessen. Civento ist mit dem hessischen Bürgerkonto verbunden, das es seit Mitte 2019 hessenweit gibt. Es dient als Authentifizierungskonto für alle digitalen Dienste und greift dabei auf die eID im Personalausweis zurück.
Neben dem Onlinezugangsgesetz beschäftigt den CIO auch die Digitalisierung der internen Verwaltungsprozesse. Für die Landesebene wurde eine "digitale Modellbehörde" konzipiert, in der alle digitalen Abläufe pilotiert werden. Das Digitalministerium übernimmt dabei die strategische Steuerung. Zuständig für die operative Umsetzung ist das hessische Innenministerium, so Burghardt: "Das haben wir ganz bewusst getrennt." Die IT-Spezialisten im Digitalressort sehen sich eher als Berater und Unterstützer. Das Wissen um Workflows und Prozesse ist in den Fachministerien in der Regel stärker ausgeprägt.
Hessen PC für 70.000 Nutzer
Eine landesweite Initiative in diesem Kontext war die Einführung des "Hessen PC" für rund 70.000 Mitarbeitende. Laut Burghardt handelte es sich um eines der größten IT-Projekte des Landes, das sich über sage und schreibe neun Jahre gezogen hat. Erst im Januar 2020 wurde der Rollout abgeschlossen. Für alle Arbeitsplätze gibt es seitdem einheitliche Hardware- und Software-standards, Updates werden zentral gesteuert. "Wir können alle 70.000 Rechner zentral verwalten", betont der IT-Chef. Die von der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) bereitgestellte IT-Infrastruktur habe den Behörden gerade in der Corona-Pandemie sehr geholfen.
IT bewährt sich in der Krise
Wie wichtig effiziente IT-Systeme in Krisensituationen sind, zeigte auch der Einsatz der neuen Prozessplattform. Mithilfe von Civento wickelte Hessen unter anderem die Corona-Soforthilfe ab. Mehr als 135.000 Anträge wurden über die Plattform eingereicht. Basierend auf Civento konnte das Bundesland weitere Online-Dienste zur Verfügung stellen, darunter einen Service zum digitalen Melden von Corona-Verdachtsfällen.
Ein weiteres wichtiges Thema für den CIO ist die Mitarbeiterentwicklung beziehungsweise der Aufbau digitaler Kompetenzen. Als Pate unterstützt er etwa das Projekt "KommunalCampus". Ziel der Initiative ist eine Aus- und Fortbildungsplattform für die kommunale Ebene der öffentlichen Verwaltung. Ein Pilotprojekt läuft bereits in der Metropolregion Rhein-Neckar. Burghardt: "Mit der CIO-Patenschaft übernimmt Hessen die Federführung und unterstützt zudem das Modellvorhaben 'Kooperatives E-Government in föderalen Strukturen' in der Metropolregion."
Mit verschiedenen Akteuren bringe sich Hessen auch in das Projekt "Qualifica Digitalis" ein, das der IT-Planungsrat vorantreibt. Experten wollen in diesem Rahmen die veränderten Kompetenzanforderungen durch die Digitalisierung wissenschaftlich analysieren. Der IT-Planungsrat agiert als politisches Steuerungsgremium von Bund und Ländern, das die Zusammenarbeit im IT-Bereich koordinieren soll.
IT-Governance in Hessen
Die Doppelrolle als CIO und Digital-Staatssekretär hilft Burghardt, digitale Initiativen und Standards durchzusetzen. Als Teil der Staatskanzlei ist der Digitalbereich bei der hessischen Staatskanzlei angesiedelt und pflegt enge Verbindungen zu den angegliederten Ministerien. Noch wichtiger für das Standing im Behördengeflecht dürfte die Tatsache sein, dass der Bereich der hessischen Digitalministerin die kompletten Finanzmittel für die Digitalisierung steuert. Das Land Hessen führt eine Art "Digitalhaushalt", der mit 1,2 Milliarden Euro in der Legislaturperiode ausgestattet ist. Burghardt: "Die Ministerien müssen sich an uns wenden, um diese Mittel zu beantragen."
Dessen ungeachtet führt jedes Ressort ein Eigenleben. Die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bekommen, ist auch für den CIO eine Herausforderung. Auch aus diesem Grund entschied das Land Hessen, in jedem Ministerium einen Digitalbeauftragten einzusetzen. Das ging per Kabinettsbeschluss, wie Burghardt berichtet. Die Digitalexperten seien in der Regel Mitarbeiter "auf Entscheidungsebene", die Beschlüsse auch durchsetzen könnten.
Im ebenfalls neu aufgestellten CIO-Rat treffen sich Digitalbeauftragte und Vertreter des IT-Dienstleisters HZD regelmäßig. "Hier werden die großen Themen besprochen und gemeinsam mit den Ministerien auch neue Initiativen entwickelt", so Burghardt, der dem Gremium vorsitzt.
Innovationen aus dem Think Tank
Um das Thema Innovationen voranzutreiben, hat der CIO einen dedizierten Bereich im Digitalressort geschaffen. Er spricht von einem "Think Tank", in dem Querdenken erwünscht sei. Im Mittelpunkt stehen neue Technologien und Zukunftsthemen. Neben Digitalisierungsexperten kommen dort auch Personalräte und ITler des Dienstleisters HZD zu Wort.
Aktuell beschäftigten sich die Kollegen insbesondere mit dem Thema digitale Souveränität, so Burghardt. Auch die Kooperation mit Microsoft werde in diesem Kontext diskutiert. Hessen pilotiert bereits den Einsatz von Microsoft-36-Apps for Enterprise und unterbindet dabei die Weiterleitung von Telemetriedaten. "Sensible Daten müssen in der Hoheit der öffentlichen Hand bleiben", beschreibt der CIO eine von vielen Anforderungen. Andere Informationen könnten womöglich auch in die Cloud wandern. An diesem Punkt ständen viele Entscheidungen noch aus.
Lessons Learned
Die größte Hürde nach seinem Amtsantritt war, "Akzeptanz für unsere Rolle zu schaffen", blickt der CIO zurück. So galt es, die Kooperation der verschiedenen Ministerien in Sachen IT zu verbessern, ohne dabei als Störenfried von außen wahrgenommen zu werden. Beim Umsetzen des OZG habe das gut funktioniert.
Einen Schub in Sachen Digitalisierung habe die Corona-Pandemie gebracht. Das Bewusstsein für Themen wie Home Office und Remote Work sei spürbar gestiegen. Burghardt: "Vor allem aber hat die IT der Krise standgehalten, das war für alle Betroffenen ersichtlich." So habe man beispielsweise in kürzester Zeit die Kapazitäten für VPN-Verbindungen vervielfacht. "Die IT in Hessen hat heute einen ganz anderen Status", bilanziert der ehemalige Oberbürgermeister. Genau das würde er sich auch für die Bundes-IT wünschen: "Wir brauchen auf allen Ebenen ein Digitalministerium, auch im Bund!"