Angesichts der bedeutenden Stellung des Arztes im Krankenhaus und seines über Generationen gewachsenen Selbstverständnisses wundert es nicht, dass sich andere Funktionsträger der Healthcare-Branche schwer tun, aus dem Schatten der Mediziner zu treten. Dies betrifft auch die IT in der Klinik, an deren Spitze sich im Gegensatz zur Industrie die modische Abkürzung "CIO" noch nicht etabliert hat. Im Bereich Healthcare amtieren IT-Leiter, in deren Positionsbeschreibungen häufig der Begriff "Rechenzentrum" sämtliche technologischen Hype-Wellen überstanden hat. Das klingt nicht wirklich zeitgemäß, und irgendwie hat man das Gefühl, darauf komme es im Krankenhaus auch gar nicht an.
Den traditionellen Vorwurf aber, die IT in der Klinik sei angestaubt und führe seit jeher das Leben auf einer isolierten "Technologieinsel", will Udo Poth zumindest für sein Haus nicht gelten lassen. Der Manager leitet die IT im Klinikum Rechts der Isar (MRI) der TU München, ein Großbetrieb mit über 1.000 Betten. "Wir steuern Prozesse, haben eine innerbetriebliche Leistungsverrechnung und bieten alle anderen IT Funktionen eines Industrieunternehmens“, trägt der Manager als Argumente vor. Und in der Tat sieht altbackene Datenverarbeitung anders aus: Das MRI arbeitet mit Service-orientierten Architekturen (SOA) in der Intensivmedizin, mit Fluid-Management für Körpersäfte und der Finite- Elemente-Methode (FEM) zur Wiederherstellung von Körperpartien.
IT-Manager wähnen sich industrietauglich
Auch in der Universitätsklinik Aachen bedient sich IT-Leiter Volker Lowitsch gängiger IT-Technologien und -Verfahren zur Steuerung sowie Kontrolle des Betriebs: "Wir haben 2005 begonnen, eine umfangreiche Business-Intelligence- Umgebung zu etablieren", berichtet der Manager, der wie Poth auch vor dem Wechsel ins Krankenhaus in der Industrie tätig war. In Aachen wird BI als Integrationsplattform genutzt, um Informationen aus medizinischen und kaufmännischen Systemen zusammenzuführen. Alle Teilkliniken erhalten Auswertungen über ein Webportal; monatsgenaues Reporting zeigt ihre Erlöse und den internen Ressourcenverbrauch.
In der Industrie gehört das ab einer gewissen Firmengröße auch zum guten Ton. Rund 80 bis 90 Prozent seiner Arbeit haben mit Informations- und Materiallogistik zu tun, berichtet Lowitsch: "Diese Steuerung ist auch Aufgabe eines Industrie-CIOs, daher sehe ich keinen großen Unterschied." In den betriebswirtschaftlichen Prozessen falle die Abweichung ebenfalls nicht ins Gewicht, sagt Dietmar Bräuer, IT-Leiter des Amberger Klinikums St. Marien.
Entsprechendes gelte auch für die Anbindung der Klinik nach außen sowie bei den Technologien der Server- und Speichervirtualisierung - Commodity hüben, Allgemeingut drüben. Und wie in der Industrie gilt auch für das Gesundheitswesen: Was sich ein Dax-Konzern leisten kann, übersteigt häufig die IT Kapazitäten eines kleinen Mittelständlers.
Dass es daneben Differenzen zur Tätigkeit eines CIOs in der freien Wirtschaft gibt, steht indes auch für IT-Leiter von Kliniken außer Diskussion. Entscheidend sei die Frage, wer der Initiator von Veränderungen in der IT ist: "In der gewinngetriebenen Industrie geht es um Rationalisierung und Standardisierung sowie um Kostensenkung", sagt IT-Leiter Bräuer. "Der Primärauftrag eines Krankenhauses ist hingegen die Patientenversorgung."
Do more with less
IT-Leiter Lowitsch aus Aachen spricht vom "Arbeiten mit Menschen für Menschen". "Der wesentliche Unterschied zwischen der Healthcare-IT und der IT in Industriesegmenten liegt in den originären Aufgaben des Krankenhauses begründet", formuliert es auch Markus Ruppel, Healthcare-Experte bei PriceWaterhouseCoopers (PwC) in Düsseldorf.
In der Vergangenheit sei die wirtschaftliche Ausrichtung nicht immer im Fokus der Klinikverwaltung gestanden, doch das habe sich in den letzten Jahren verändert. Ruppel zeigt die Veränderung auf, von der aktuell alle in der Branche betroffen sind: "Auch Krankenhäuser entwickeln sich zu Wirtschaftsunternehmen."
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Dies lässt allerdings nicht den Umkehrschluss zu, dass die Klinik-IT bislang goldene LAN-Kabel zum Wohle der Patienten gezogen hat, im Gegenteil. Das durchschnittliche IT-Budget liegt je nach Aufgabe und Stellung des Hospitals zwischen weniger als einem und zwei Prozent des Gesamtbudgets pro Jahr. Gerade IT-basierte Sektoren wie Finanzdienstleister oder TK-Unternehmen geben hier deutlich mehr aus. Dafür müssen sie aber auch mehr für ihr IT-Personal zahlen. Unter dem Strich steht aber fest, dass die Healthcare-IT inzwischen den gleichen Herausforderungen unterliegt, wie sie in der restlichen Wirtschaft seit Jahren durchexerziert werden - Prozesse standardisieren, Auslastung steigern, Anwender überzeugen. Neudeutsch: Do more with less.
Die IT werde in Krankenhäusern erst allmählich als zentrales Steuerungs- und Kontrollinstrument betrachtet, sagt Ruppel: "Das ist in der Industrie schon lange der Fall", und hier liegt vielleicht der größte Unterschied. Der Wandel gründe sich darauf, dass sich die Healthcare-IT zu einem Prozess-Steuerungstool und zum Werkzeug für die Geschäftsführung zum Treffen strategischer Entscheidungen entwickle, führt der PwC-Mann aus.
Dieser Paradigmenwechsel schließe auch die Verwendung von Industriestandards wie Six Sigma, Prince2, PMI und ITIL mit ein. Diese finden sich Ruppel zufolge im Krankenhaus ähnlich wie Kennzahlenbetrachtungen noch sehr selten. Ein Wirtschaftsunternehmen orientiere sich an Good und
Best Practices - "Ich sehe keinen Grund", folgert der PwC-Berater, "warum dies nicht auch für Krankenhäuser gelten sollte"
Der Aachener IT-Leiter Lowitsch räumt denn auch einen gewissen Nachholbedarf ein: "Vielleicht wenden wir diese Standards noch nicht so konsequent wie die Industrie an." Dies liege auch an den unterschiedlichen Voraussetzungen, argumentiert Bräuer vom Klinikum St. Marien, der auf den hohen Standardisierungsgrad in der freien Wirtschaft verweist. Sein Münchener Kollege Poth nennt als Grund die komplexen Prozesse in der Klinik, die aus der Kernaufgabe herrühren.
Standardisierung und Flexibilität
Gerade die relative Freiheit in der medizinischen Wissenschaft mache es schwer, Verfahren mit IT abzubilden, zu optimieren und dann wiederum vorzugeben: "Die Prozesse und die Verantwortung dahinter sind selten regelbasiert und daher nicht klassisch durchstrukturiert", sagt Poth.
IT-Leiter Lowitsch aus Aachen sieht hier eine der wichtigsten Stellschrauben: "Wir werden nur fortbestehen können, wenn wir Steuerungsprozesse haben wie ein gut geführtes Industrieunternehmen." Auch PwC Berater Ruppel geht davon aus, dass sich bei diesem Spagat von Standardisierung und Flexibilität die Zukunft einer Klinik entscheiden kann. Schließlich liege der Wertbeitrag der IT nicht primär in der Technologie, "sondern in den Prozessen und Kontrollmechanismen, die sich damit abbilden und etablieren lassen". Und wie in der Industrie gilt Ruppel zufolge ebenfalls für Krankenhäuser: "Mit einer starken Klinikverwaltung lassen sich standardisierte Prozesse deutlich besser durchsetzen." Alternativ funktionieren auch Geduld und Argumente, so wie beispielsweise im MRI: Die IT wolle ja nicht kritisieren, sondern zeigen, wie man etwas besser machen und den Gewinn erhöhen könne, berichtet Poth.
Das bedeute auch mehr Budget-Freiraum für den Einzelnen. Die Folge: "Ärzte akzeptieren inzwischen,
dass die IT strategische Entscheidungen unterstützt, Prozesse steuert, Vorgaben macht und kontrolliert, weil jede Klinik ähnlich wie ein Profit-Center handelt.
“Neben der sich allmählich herausbildenden Standardisierung medizinischer Prozesse ist es zum Teil auch die Struktur einer Klinik selbst, die die Arbeit des CIO dort erschwert. Jede Klinik, auch wenn sie formaljuristisch kein Konzern ist, muss wie ein Konzern geführt werden. Im Klinikum Aachen handelt es sich tatsächlich um 35 Einzelkliniken mit selbstständigen Direktoren, die disziplinarisch nicht dem Vorstand des Klinikums unterstehen, sondern dem Rektor. "Das Konstrukt führt sich ähnlich wie ein Konzern mit 35 unabhängigen Gesellschaften", sagt IT-Manager Lowitsch. Von außen könne man die Komplexität nicht erkennen, weil man nur das eine "Gebäude" im Blick habe. Von innen sieht man 35 Klinikchefs, die sich als selbstständige Unternehmer betrachten.
Hoher Aufwand für die Pflege der Schnittstellen
Hinzu kommt die enge Integration der kaufmännischen mit der medizinischen IT, durch welche die Zukunftsfähigkeit wesentlich mitbestimmt wird. Die Kommunikation der verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Subsysteme vergleicht der Münchner IT-Leiter Poth mit Unternehmensnetzen, die Daten via Edifact austauschen - der Aufwand innerhalb des Hauses für die Pflege der Schnittstellen sei gewaltig. Hinzu komme, dass die Subsysteme in der Klinik funktional sehr viel mächtiger seien als ihre Gegenstücke in der Industrie, die lediglich Steuerungsaufgaben hätten. Und natürlich gelte es, interdisziplinäre Subsysteme und Prozesse zusammenzubringen. "Die Einbindung von diagnostischen und therapeutischen Systemen ist relativ schwierig und aufwendig", berichtet IT-Leiter Bräuer aus Amberg.
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Manche Systeme seien sehr widerspenstig in der Integration. Und über allem wachen auch noch Datenschutz und Medizinproduktegesetz. Bräuers Bilanz: "Unsere IT-Welt ist etwas bunter." Zwar erwartet auch PwC-Berater Ruppel nicht, dass sich in einigen Jahren die Healthcare- und die Industrie-IT vollständig angleichen, "denn die Aufgabenstellungen an die IT im Gesundheitswesen sind sehr speziell". Dennoch ist die Branche auf einem guten Weg: "Als Dienstleistungsabteilung in der Klinik werden sie nie an den 99 Fällen gemessen, die gut laufen, sondern an dem einen Fall, der schiefgeht“, sagt IT-Leiter Bräuer aus Amberg. Und dass die Uniklinik Aachen zur Industrie aufgeschlossen hat, kann man seit einem Jahr mit Fug und Recht behaupten: Im November 2008 wurde das richtungsweisende Gebäude in den Rang eines offiziellen Industriedenkmals erhoben.
Dieser Artikel stammt aus der Verlegerbeilage Health-IT des CIO-Magazins.
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