Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat zum Jahreswechsel 2010/2011 die Erneuerung ihrer internen IT-Plattform abgeschlossen. Mit der Einführung des einheitlichen Ressourcenplanungssystems auf Basis von SAP ERP wurden insgesamt 48 technisch veraltete IT-Fachverfahren in den Bereichen Personal und Finanzen abgelöst. Über die SAP-Standardsoftware werden nun neben vielen Personalfachverfahren das gesamte Rechnungswesen wie auch die Auszahlungen des Arbeitslosengeldes I und II sowie des Kindergeldes abgewickelt. Unsere Schwesterpublikation CIO.de sprach mit Herbert Pick, Gesamtprojektverantwortlicher Enterprise Resource Planning (ERP) bei der Bundesagentur für Arbeit.
CIO.de: Was war der Anlass für das Projekt?
Herbert Pick: Die Bundesagentur für Arbeit hatte in der Vergangenheit, wie viele andere in der freien Wirtschaft auch, historisch gewachsene Applikationen: Applikations-Silos, die isoliert voneinander entwickelt wurden und die erneuert werden mussten. Das waren teilweise Siemens BS 2000- Applikationen, in Assembler und Cobol programmiert, Programmiersprachen welche man im Bereich der Anwendungsentwicklung heute nur noch eingeschränkt verwendet.
Wir hatten teilweise redundante Datenbestände, viele Daten mussten durch unsere Mitarbeiter teilweise mehrfach erfasst werden. Diese Entwicklung, die zu Redundanz und unscharfen Prozessen geführt hat, wollten wir korrigieren, indem wir für die Bereiche Personal und Finanzen eine einheitliche, homogene Datenbank zur Verfügung stellen. So wollten wir die alten Strukturen eliminieren. Auslöser für das Projekt waren also unsere überalterten IT-Strukturen, die viele Nachteile hatten: Viele Schnittstellen, viele Einzelapplikationen, viel Redundanz-Erfassung und am Ende auch eine schlechte Auswertungsqualität.
CIO.de: Haben Sie eine Ausschreibung gemacht? War am Anfang schon klar, dass Sie SAP haben wollten?
Pick: Wir haben 2007 europaweit und produktneutral ausgeschrieben, es gab keine Vorfestlegung auf SAP oder andere. Uns hat mit Stolz erfüllt, dass wir das Vergabeerfahren in zwölf Monaten abschließen konnten. Andere Behörden haben in vergleichbaren Vergabeverfahren drei und mehr Jahre verhandelt. Wir haben im August 2008 der SAP AG, die nach Vergaberecht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hat, den Zuschlag gegeben. SAP war für das Projekt sowohl Softwarelieferant wie auch Generalunternehmer.
Mit SAP haben wir einen Systemvertrag abgeschlossen, keinen Werk- oder Dienstleistungsvertrag. Der Vertrag umfasste drei Komponenten: Die Softwarelizenzen, die Implementierung und das Customizing sowie für die Anfangszeit den Betrieb des Rechenzentrums. Da wir in der BA nicht über SAP-Expertise verfügen, haben wir mit SAP vereinbart, während der Projektlaufzeit, den gesamten Aufbau der Hard- und Software unterstützend zu begleiten und auch die ersten Projektteile produktiv für uns zu betreiben. Unsere Mitarbeiter haben dann parallel den Know-how-Aufbau gestaltet.
CIO.de: Sie haben das Projekt in diesem Jahr abgeschlossen?
Pick: Ja, das größte Release, die gesamte Finanzapplikation haben wir zum 1. Januar 2011 live geschaltet. Unterjährig haben wir schon in 2009 und 2010 Personalkomponenten aktiviert. Die Bezüge- und Engeltberechnung für die 34.000 Beamten und Versorgungsempfänger haben wir zum 1. Dezember 2009 freigegeben und damit die Hard- und Software sowie die Rechenzentrumsstrukturen etabliert. Die Bezügeabrechnung für die 111.000 Angestellten haben wir im Juli 2010 freigegeben. Damit haben wir zunächst die großen Personal-Teile live geschaltet: also alles was mit Personaladministration, mit Organisationsmanagement, mit Personalhaushalt zu tun hat. Der größere Teil des Gesamtprojekts, der Teilbereich Finanzen, ist jetzt zum 1. Januar live geschaltet worden.
15 Millionen Zahlungsvorgänge mit zehn Milliarden Euro pro Monat
CIO.de: Aber auch die Empfänger von Arbeitslosengeld und Kindergeld wurden umgestellt?
Pick: Die Vorverfahren, die die Zahlungen erzeugen, liefern Buchungsbelege und Auszahlungsinformationen an das SAP-System, so dass seit 1. Januar alle Kindergeld-, Arbeitslosengeld I - und II-Zahlungen durch SAP geschleust, gebucht und ausbezahlt werden. Das sind etwa 15 Millionen Zahlungsvorgänge mit einem Gesamtvolumen von rund zehn Milliarden Euro jeden Monat.
CIO.de: Welche Größenordnung hatte das Projekt?
Pick: Für die BA war es eines der größten, das wir je gemacht haben. Externe Partner sprechen häufig von dem größten IT-Projekt in den letzten zwei Jahren in den Behörden Europas. Das ist schon ein Knaller. Und: Wir sind mit zwei ein viertel Jahren sowohl in der Projektlaufzeit als auch was das Budget betrifft, total in Linie geblieben. Das Ziel eines jeden Projektes: „High Quality in time and budget“ haben wir erreicht. Das ist ein bisschen atypisch. Strategische Großprojekte dieser Art, egal ob in der freien Wirtschaft oder der öffentlichen Hand, laufen doch schon mal aus dem Ruder.
CIO.de: Ihr Vorstandsvorsitzender war jedenfalls begeistert von dem Projektverlauf. Was waren die Erfolgsfaktoren?
Pick: Das Projekt berichtet an einen Lenkungsausschuss, dessen Vorsitz im ersten Jahr der Vorstandsvorsitzende der BA, Herr Weise, innehatte und in dem die von dem Projekt tangierten Geschäftsführer der Zentrale vertreten sind. Das ist eines der Erfolgsgeheimnisse, warum wir das Projekt in so einer großen Behörde mit so vielen Beteiligten und so vielen Projektmitarbeitern so erfolgreich durchführen konnten.
Wir hatten eine Super-Top-Management-Attention. Der Vorstand und die Geschäftsführung hatten immer einen hohen Fokus auf diesem Projekt. Wir haben regelmäßige Lenkungsausschuss-Sitzungen mit dem Vorstand durchgeführt. Das hilft natürlich bei der Umsetzung im Unternehmen. Denn bei 84.000 Menschen, die auf so ein System zu heben sind, gibt es auch genügend, die, sagen wir, zurückhaltend sind.
Zweiter Erfolgsfaktor war die hohe Motivation und Kompetenz, die wir uns ins Team holen konnten. SAP hatte neun Subunternehmer in diesem Projekt, der größte davon war Accenture. Die haben nicht das erste Mal SAP-Personal- und Finanzkomponenten etabliert. Wir in der BA haben uns die Kompetenz überwiegend aus unseren Agenturen, in Teilen aber auch aus der Zentrale der BA, geholt. Wir haben für 24 Monate bundesweit etwa 80 Mitarbeiter aus den Agenturen nach Nürnberg abgeordnet. Damit haben wir die fachlich-inhaltliche Kompetenz beigesteuert. Dazu kam ein striktes Projekt- und Risikomanagement.
CIO.de: Gab es denn trotzdem auch irgendwo Probleme?
Pick: Wir haben zum Jahresende die Situation gehabt, dass wir bei der Überleitung der Daten, die am 30. Dezember hätten ausgezahlt werden sollen, erst einen Arbeitstag später ausgezahlt haben, nämlich am 3. Januar. Betroffen davon waren rund 3,3 Prozent der Zahlungsempfänger, die ihre Zahlungen später bekommen haben. Das war unschön und hat Ärger verursacht. Wir haben es aber unmittelbar danach schnell in den Griff bekommen. Derzeit gibt es auch noch die eine oder andere „Kinderkrankheit" in der internen Anwendung, an deren Behebung wir mit Nachdruck arbeiten.
CIO.de: Was sind die nächsten Schritte?
Pick: Wir haben die SAP-Suite gekauft und eingesetzt, diese besteht aus weiteren Komponenten, die wir jetzt sukzessive einsetzen wollen. Wir konzipieren nun eine ERP-Stufe II, bei der wir weitere Komponenten frei schalten. Wir wollen in diesem Jahr etwa die Einkaufs- und die Vertragsverwaltungsprozesse sowie das Facility Management angehen. Wir haben ja zunächst nur die IT getauscht. Im nächsten Schritt kommen die Optimierung, das Heben der Synergien und das Optimieren der Geschäftsprozesse. Wir werden in der Stufe II nicht mehr mit 250 sondern mit knapp hundert Mitarbeitern agieren und versuchen, das System so zu nutzen, dass wir weiter an Effizienz gewinnen.
Innerhalb von vier Monaten 84.000 Anwender geschult
CIO.de: Wie wurden die Mitarbeiter geschult?
Pick: Wir haben innerhalb von vier Monaten von August bis Dezember vergangenen Jahres 84.000 Anwender mit modernsten Methoden geschult. Der größere Teil wurde in Schulungsveranstaltungen qualifiziert. Darüber hinaus haben wir aber auch E-Learnings und. Wissensspiele (education games) für alle wesentlichen Geschäftsprozesse entwickelt und bereitgestellt. Zur individuellen Weiterbildung und Erprobung des Lernstoffs wurden Übungsdatenbanken (Sandbox) zur individuellen Nutzung bereitgestellt. Wir haben durch die SAP BA-Mitarbeiter als Trainer und Fachbetreuer ausbilden lassen, diese wurden dann in der Fläche für die bundesweite Qualifizierung der Mitarbeiter eingesetzt. Diese BA-Trainer stehen uns auch für weitere Aktionen, zum Beispiel Fluktuationsschulungen, zur Verfügung.
CIO.de: Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Pick: Im Nachhinein würde ich nicht mehr einen Generalunternehmer mit der Gesamtleistung beauftragen, sondern würde mir für Spezialdisziplinen etwa in Richtung Anlagebuchhaltung oder doppische Ausprägung selbst den am besten spezialisierten Dienstleister suchen wollen.
CIO.de: Wie hoch waren die Gesamtkosten des Projekt?
Pick: Ich bitte um Verständnis. Da wollen wir keine Zahlen nennen.
Bei Eigenentwicklungen fehlt die betriebswirtschaftliche Sicht
CIO.de: Wird es denn noch am Ende eine Abrechnung geben, was Sie erreicht haben?
Pick: Ende März werden wir eine Vorstandssitzung des Lenkungsausschusses gemeinsam mit der SAP haben. Wir werden dort gemeinsam mit unserem Vorstand die Rückwärtsbetrachtung anstellen: Was hat es gebracht, wie ist es gelaufen, wo stehen wir, und wie sieht der ROI aus? Im Moment arbeiten wir an der Vorbereitung.
Unterm Strich haben wir das erreicht, was wir wollten. Wir werden sicherlich ein positives Ergebnis vorlegen. Natürlich haben wir investiert. Die BA hat in der alten Welt sehr stark auf eigene Programme gesetzt. Wenn sie diese mit Standardsoftware ablösen, dann haben Sie zunächst Lizenzkosten und Wartungskosten, was sie bei Eigenentwicklungen vermeintlich nicht haben. Aber die gibt es natürlich ebenso. Der Unterschied ist nur, dass sie sie es dort in der Regel nicht betriebswirtschaftlich rechnen.
Herbert Pick ist seit 2004 bei der Bundesagentur für Arbeit. Er kommt aus der freien Wirtschaft, wo er 20 Jahre in der bankenorientierten Software-Branche gearbeitet hat. Bei der Bundesagentur war zunächst als Geschäftsführer Personal und Finanzen in Mainz und Montabaur tätig. Seit 2007 ist er in der BA-Zentrale Gesamtverantwortlicher für das strategische Großprojekt der ERP-Einführung in der Bundesagentur für Arbeit.
Der gebürtige Frankfurter ist gelernter Bankkaufmann mit Betriebswirtschaftsstudium und Bankleiterqualifikation sowie qualifiziertem IT-Background. Im genossenschaftlichen Finanzverbund hat er unter anderem im Fiducia-Konzern das Softwarehaus der Volks- und Raiffeisenbanken in Deutschland mit rund 400 Softwareentwicklern aufgebaut und zehn Jahre als Geschäftsführer geleitet. Hier war er unter anderem auch für internationale Großprojekte, teilweise gemeinsam mit großen IT-Herstellern, verantwortlich.
Quelle: CIO.de