Vermutlich würde niemand der These widersprechen, dass die Zukunft des Handels digital ist. Dass der Online- gegenüber dem Offline-Anteil immer weiter zunehmen wird und dem Liefernlassen eher die Zukunft gehört als dem Abholen. Die Frage ist nur, wie schnell und in welchem Ausmaß werden sich die Größenverhältnisse verändern? Kommt tatsächlich schon 2025, also in nur zehn Jahren, bei 90 Prozent aller Einkäufe irgendein IT-Gerät zum Einsatz?
Diese Prognose wagte jedenfalls Mark Michaelis, Bereichsleiter Warenwirtschaftliche Prozesse und Qualitätssicherung bei der Supermarktkette Kaiser's Tengelmann im Mai 2015 im Rahmen einer der Wetten für das CIO-Jahrbuch 2015. In diesen Wetten geht es regelmäßig darum, wie die Welt der IT in zehn Jahren aussehen könnte.
Konkret glaubt Michaelis, dass 2025 nur noch einer von zehn Kunden uninformiert bei einem stationären Händler hereinspaziert, ein Produkt aus dem Regal nimmt und es anschließend bar bezahlt. Alle anderen, so die These, haben während mindestens einer der drei Phasen des Kaufprozesses IT genutzt.
Drei Phasen des Kaufens
Diese drei Phasen sind erstens die Kaufidee, also der Impuls, etwas kaufen zu wollen - ausgelöst zum Beispiel durch Werbung. Es folgt an zweiter Stelle die Kaufentscheidung, also die Festlegung auf ein ganz bestimmtes Produkt. Der dritte, abschließende Schritt ist schließlich die Kaufabwicklung, also der eigentliche Kaufvorgang.
In allen drei Phasen, sagt Mark Michaelis, kommt immer mehr IT zum Einsatz. Er stellt die These auf, dass die Zahl der IT-Transaktionen kontinuierlich von Phase zu Phase ansteigt, dass also in Zukunft die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von IT zunimmt, je mehr sich der Kunde dem eigentlichen Kaufvorgang annähert.
Gerade diesen letzten Teil von Michaelis' Prognose zweifelt der Autor dieser Zeilen an. Nicht, weil er besser hellsehen könnte, sondern weil gerade die letzten beiden Teile des Kaufvorgangs in puncto IT-Verdichtung zuletzt einige Rückschläge hinnehmen mussten. Will sagen: Einiges läuft eher in die umgekehrte Richtung als die von Michaelis prognostizierte, vor allem in den Phasen Kaufidee und Kaufabwicklung. Aber der Reihe nach.
Die Kaufidee
Die Kaufidee, also der erste Teil des Prozesses, wird massiv durch Werbung beeinflusst. Deren Volumen wächst ständig, zuletzt vor allem auf mobilen Endgeräten. Mark Michaelis beruft sich hier auf eine Studie, derzufolge die Investitionen in mobile Werbung bereits in drei Jahren höher sein werden als die in Radio-, Print- und Plakatwerbung zusammen. Die Budgets für Werbung auf mobilen Endgeräten sollen demnach jährlich um 50 Prozent steigen.
Das Fernsehen ist Lichtjahre voraus
Diese Zahlen lassen sich aktuell tatsächlich belegen. Allerdings sollte man bei einer solchen Argumentation nicht nur die Steigerungsraten einzelner Segmente, sondern auch den Status quo der Verteilung betrachten (siehe Grafik). So entfallen auf mobile Werbung gegenwärtig gerade einmal ein Prozent der Bruttowerbeeinnahmen in Deutschland. Auf das Fernsehen, dieses unflexible, Response-unfähige Steinzeitmedium, dagegen 46 Prozent.
Der Weg ist also noch weit. Und möglicherweise auch steinig: Wenn Mobile Advertising die prognostizierten Steigerungsraten tatsächlich erreichen will, dann braucht es radikale konzeptionelle Veränderungen, da sind sich Experten einig. Die meisten gegenwärtig auf Smartphones ausgespielten Werbeformen stammen aus der Browser-Welt und wurden ursprünglich für große, breit angelegte PC-Bildschirme entwickelt.
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Akzeptanz für mobile Werbung sinkt
Nach Ansicht von Christof Wittig, dem Gründer mehrerer Softwarefirmen im Umfeld von Mobile Advertising (unter anderem LiquidM), macht die fehlende mediengerechte Anpassung solche Werbung besonders nervig, "weil der Platz auf dem Bildschirm nun mal begrenzt ist". Am Anfang hätten die Marktteilnehmer dies mangels Alternativen akzeptiert, so Wittig, mittlerweile sinke diese Akzeptanz aber deutlich.
Menschen, die ihr Smartphone intensiv nutzen, wollen dort nicht mit Screen-füllenden Bannern behelligt werden, die blinken und bimmeln. Konsequent Alternativen dazu entwickelt haben Google und vor allem Facebook. Das Social Network zeigt anderen in der Branche, wohin die Reise in Sachen mobile Werbung geht.
Generell ist hier, wie bei allen anderen Themen aus diesem Bereich, der US-Markt wesentlich weiter und innovationsfreudiger. Werbeexperte Wittig: "Der deutsche Markt ist von den Werbeformaten her immer noch sehr rückständig, da herrscht viel Angst und wenig Akzeptanz neuer Formen. Ich würde sagen, dass Deutschland im Vergleich drei bis vier Jahre hinterher ist." Es könnte also knapp werden mit der flächendeckenden Anbahnung von Kaufprozessen via Smartphone bis 2025.
Geofencing bleibt in der Nische
Dass Angst und Akzeptanzprobleme hierzulande den Prozess verlangsamen, weiß auch Mark Michaelis. Beispiel Geofencing, also das gezielte Ansprechen von Kunden, die sich gerade in der Nähe des werbenden Händlers aufhalten. Dieser spannt rund um seinen Laden eine Art virtuellen Zaun aus Mobilfunkzellen. Sobald ein Kunde den Bereich betritt, erhält er Kaufangebote via SMS oder als Anzeigen auf seinem Smartphone.
Dazu sagt Mark Michaelis allerdings in seiner Wette: "Den dauerhaften Erfolg dieser Marketing-Maßnahme halte ich für begrenzt. Das Push-Verfahren dürfte aus Sicht des Kunden und auch unter Berücksichtigung des Datenschutzes schwer durchsetzbar sein."
Trotz solcher Vorbehalte ist es auch für lokale Einzelhändler wichtig, "ihre Kunden besser kennenzulernen", meint Çetin Acar, IT-Projektleiter beim EHI Retail Institute, einem Forschungsinstitut für den Handel. Und dieses Kennenlernen kann durchaus anonym geschehen, wie ein Projekt von Mark Michaelis' Arbeitgeber Kaiser's Tengelmann beweist. Die Supermarktkette setzt bereits heute anonyme Kundenkarten ein, die ihre Nutzer beim Betreten des Ladens an ein Lesegerät halten. Die Karte enthält zwar eine eindeutige ID, aber keine personenbezogenen Daten.
Nachdem die Karte im System registriert ist, kann sich der Kunde an einem Kiosksystem - also an im Geschäft aufgestellten Displays - auf ihn zugeschnittene Angebote zeigen lassen, Produkte, die nach Art und Preis an sein Kaufverhalten angepasst sind. Nutzbar ist die Karte außerdem bei Online-Bestellungen. Mit jedem Einkauf steigt das Wissen des Händlers über den Kunden. Und IT ist auch im Spiel in Form der elektronischen Kioske, auf denen der Kunde das für ihn Vorgesehene ansehen und auswählen kann.
Die Kaufabwicklung
Käufe, glaubt Mark Michaelis, entstehen in Zukunft vor allem durch clevere Prozesse. Als Beispiel nennt er Mitglieder eines Haushalts, die von unterschiedlichen Orten aus eine virtuelle Einkaufsliste für einen bestimmten stationären Händler erzeugen und das Bestellte online bezahlen. Anschließend kommissioniert der Händler die Ware, und einer der Mitbewohner holt sie abends auf dem Weg nach Hause ab.
Auch hier ist in Form von elektronischen Einkaufslisten ein Stück IT im Spiel. Ob sich allerdings die Kaufentscheidung und die Kaufabwicklung so erfolgreich digitalisieren lassen, darf angezweifelt werden. Vor allem die Entwicklungen der beiden Startups Hellofresh und Shopwings nähren den Verdacht, dass in Deutschland mit individuellem Kommissionieren und mit dem Online-Versenden von Lebensmitteln nur schwer Geld zu verdienen ist.
Geschäftsmodelle mit Problemen
Hellofresh liefert sogenannte Kochboxen, mit deren Inhalt sich jeweils ein bestimmtes Gericht kochen lässt - Rezept inklusive. Ende Oktober kündigte das Unternehmen an, bald an die Börse gehen zu wollen. Doch schon Anfang November folgte der Rückzieher. Das IPO werde verschoben, Grund sei die gegenwärtige "Marktvolatilität".
Sollte damit die Entwicklung des Dax gemeint sein, wäre diese Begründung allerdings merkwürdig. Der Deutsche Aktienindex hat zwischen dem 1. Oktober und dem 16. November 2015 mehr als 1000 Punkte zugelegt. Richtig ist, dass der Index seit Sommer 2014 deutlich stärker geschwankt hat als in den zwei Jahren zuvor. Aber das wusste man bei Hellofresh ja im Oktober auch schon.
Auch nicht nach Wunsch gediehen die Pläne der ebenfalls aus dem Hause Rocket Internet stammenden Marke Shopwings. Der Lieferdienst wurde durch seinen in München und Berlin großflächig verbreiteten Slogan "Nur Deppen schleppen" zwar schnell bekannt, musste seinen Lebensmittel-Lieferdienst aber trotzdem nach nur zehn Monaten in Deutschland wieder einstellen. Weder die Kunden noch der stationäre Handel, aus dessen Sortiment die Waren stammen, spielten wie erhofft mit. Den Kunden war der Lieferaufschlag zu viel, und manche Händler wollten einen geforderten Vermittlungsaufschlag nicht zahlen.
Unterm Strich bleibt die Feststellung, dass sich der Online-Lebensmittelversand - und die Idee gibt es ja schon seit den 1990er Jahren - in Deutschland immer noch schwertut. Çetin Acar vom EHI: "Der Konkurrenzkampf im Lebensmittelhandel ist bei uns hart, und die Preise sind entsprechend niedrig. In Ländern, in denen die Margen höher sind, läuft es besser."
Lediglich 10,1 Prozent seines Einkommens investiert der Deutsche laut Statistischem Bundesamt in Lebensmittel, in Frankreich sind es 13,5, in Griechenland sogar 18,6 Prozent. Und pro Einkauf gehen hierzulande nur etwa 15 Euro über die Theke. Zu wenig, damit sich das Zusammenstellen und Versenden wirklich lohnen kann.
Diese Zahlen sprechen - zumindest beim Lebensmittelhandel - nicht dafür, dass sich der ständige Einsatz von Informationstechnik beim Einkaufen schon in zehn Jahren durchgesetzt haben wird, wie von Mark Michaelis propagiert. Denn warum sollte jemand, der nur in den Supermarkt geht, um für kleines Geld die wichtigsten fünf bis acht Dinge zusammenzuraffen, sich für individualisierte Display-Werbung oder das Ausspielen hochpreisiger Angebote auf seinem Smartphone interessieren?
Digitales Bezahlen
Bliebe noch der letzte Schritt beim Einkauf, das Bezahlen. Der wichtigste Bereich dabei ist das Mobile Payment, weil es das Potenzial zum flächendeckenden Einsatz von IT bereithält. Doch auch hier - wie könnte es anders sein - sind die Deutschen alles andere als avantgardistisch. Die meisten von ihnen, nämlich laut der Postbank 55 Prozent, nutzen noch nicht einmal die Vorstufe des Mobile Payment, also Kredit- oder EC-Karten, sondern sie zahlen bar.
Noch schlechter ist die Akzeptanz des Handys als Geldbörse. Wie eine aktuelle Studie der Postbank ergab, nutzen 72 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer in Deutschland kein Mobile Payment und planen dies auch nicht. Und sogar, wer für die Nutzung aufgeschlossen ist, macht sich Sorgen: Stolze 94 Prozent der Deutschen glauben, mobiles Bezahlen sei riskant.
Fazit
Wenn tatsächlich 2025 in 90 Prozent aller Kaufvorgänge ein IT-Gerät involviert sein soll, wie von Mark Michaelis prognostiziert, dann ist bis dahin zumindest noch sehr viel Überzeugungsarbeit vonnöten.
Weitere Wetten finden Sie im CIO-Jahrbuch 2016 Jahrbuch 2016 - Neue Prognosen zur Zukunft der IT IDG Business Media GmbH 2015, 245 Seiten, 39,90 Euro PDF-Download 34,99 Euro |