Eine mechanische Rechenmaschine aus den 50er-Jahren thront auf dem brusthohen Regal in Ralf Lockes Büro;das befindet sich im zweiten Stock der ehemaligen Maschinenhalle der Zeche Waltrop bei Dortmund. Eine Putzfrau hat die "Thaler Patent" eines Tages runtergefegt; seitdem fehlt eine Ecke, aber das Gerät funktioniert. So ähnlich steht es derzeit auch um das SAP-Projekt im Haus. Die Beratungsgesellschaft Heyde konnte ihren Auftrag beim "Versandhaus der guten Dinge" nicht beenden. Während des Produktivstarts meldeten die Berater Insolvenz an, flogen im März vom Börsenparkett, später vom Markt. Das Projekt bekam einen - vorübergehenden - Knacks.
Manufactum-Chef Thomas Hoof bedauerte die Folgen - technische Schwächen in der Logistik sowie Fehler und Verzögerungen bei Lieferung und Katalogversand - in den Hausnachrichten vom Sommer: "Der Haken, den ich zu Ihrer Information in den letzten Hausnachrichten an unser ehrgeiziges SAP-Warenwirtschaftsprojekt gemacht hatte, kam ein paar Takte zu früh. Auf den letzten Metern kamen wir noch ins Stolpern", schreibt der Gründer des Waltroper Unternehmens.
Was war passiert? Vor zwei Jahren hatte der in der Geschäftsleitung der Personengesellschaft tätige Prokurist Locke den Bad Nauheimer IT-Dienstleister Heyde damit beauftragt zu untersuchen, durch welche moderneren und leistungsfähigeren Systeme das Finanzbuchhaltungssystem KHK und das Warenwirtschaftssystem Mailware ersetzt werden sollten. "Es war uns klar, dass unser System eines Tages überfordert sein würde", so Locke.
Die Zeiten, als Manufactum seine Kunden aus einer Dachgeschosswohnung in Recklinghausen beliefern konnte, liegen inzwischen gut zehn Jahre zurück. Mehr als 350000 Pakete schnürt der Versandhändler heute jährlich, darin etwa der Barsolino, der "Hut der Hüte", Original-Kupferkessel aus dem englischen Birmingham und Käseschneidemaschinen aus Gussstahl. Etwa 80 Prozent des Gesamtumsatzes von 50 Millionen Euro macht Manufactum im Versandhandel; 780000 Kataloge plus Extra-Mailings gehen Jahr für Jahr raus. Zusätzlich unterstützen vier Filialen den Verkauf. E-Business ist für das Versandhaus bislang nur ein Randthema. "Nur jeder zehnte Auftrag erreicht uns über die Internet-Plattform, jeder zweite über den Katalog", sagt Locke.
Das überlastete IT-System, so die Entscheidung, sollte durch SAP R/3 abgelöst werden, erweitert um Funktionsmodule für den Einzel-, speziell den Versandhandel. Das damals am Neuen Markt notierte Unternehmen Heyde (Börsenwert: zwei Milliarden Mark) erhielt den Auftrag. Der Zeitplan war straff. Bis zum April dieses Jahres sollten die Bestandsführung, die Anbindung der Systeme an die Lager des Logistikpartners Fiege, die Auftragsabwicklung und die Finanzwirtschaft in SAP-R/3-Bahnen laufen. "Von Januar an haben wir SAP implementiert", berichtet Winfried Pfuhl, damals in Waltrop tätiger Heyde-Berater. Anfangs lief alles nach Plan; doch dann kamen die Hiobsbotschaften.
Zuerst senkt Heyde-Chef Dirk Wittenborg die Umsatzprognose, nachdem er bekannt geben musste, wichtige Geschäftsziele nicht erreichen zu können. Da dann auch die Sanierungsmaßnahmen nicht greifen, verlässt er das Unternehmen im Februar. Zweieinhalb Monate später meldet Heyde Zahlungsunfähigkeit an. Ein Fall unter vielen: Gegenüber 15020 Insolvenzen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres stieg die Zahl laut Creditreform im ersten Halbjahr 2002 um mehr als ein Viertel auf 18800.
Bis Juni gab es zwar noch Arbeit bei Heyde, doch schauten sich immer mehr Berater bereits nach neuen Jobs um. "Es setzte eine enorme Fluktuation unter den SAP-Beratern ein", bestätigt Pfuhl, der heute beim Bad Nauheimer IT-Dienstleister Inconso arbeitet. Hier ist der Ex-Heyde-COO Bertram Salzinger Vorstandsvorsitzender.
Dennoch: "Alle Pläne wurden erfüllt, das Going-Live war auf Minimalbasis Anfang des Jahres möglich", sagt Locke rückblickend. "Aber sie sind nicht mit allen Teilprojekten fertig geworden, die sich damals anschlossen." Nachtreten ist jedoch nicht seine Art; er zeigt vielmehr Verständnis für die außergewöhnliche Situation. Trotzdem war Locke Realist genug, um zu erkennen, dass plötzlich das gesamte Projekt auf dem Spiel stand: "Wir brauchten Unterstützung."
Steffen Burger war Lockes Mann in der Not. Der Projektleiter von SAP kam aus Walldorf, um sich - zur Fortsetzung des Projekts - gemeinsam mit den Heyde-Leuten und Manufactum möglichst viel Wissen über das Versandgeschäft anzueignen. Mit acht Kollegen bezog er schließlich geräumige gläserne Büros im Erdgeschoss der Maschinenhalle. Die SAP-Berater steckten ihre Köpfe zusammen, beratschlagten, was zu tun sei, brüteten. "Die Übergabe hat funktioniert", sagt Burger heute, der einen Fall, in dem ein Projekt mit halbproduktiver Funktionalität übernommen werden musste, noch nicht erlebt hatte. "Wir haben die Datenflüsse harmonisiert und das Bestandssystem an das Lagersystem von Fiege angepasst. In erster Linie allerdings haben wir aufgeräumt", fasst er seine Arbeit zusammen. Das Bestandssystem, in dem sämtliche Produktdaten gespeichert sind, hat ihm dabei ebenso lange im Magen gelegen wie das Internet-Order-System. Ende August konnte das SOS-Team Manufactum wieder verlassen. "Die Anbindung an die Lager-IT von Fiege ist geschaffen, das Internet-Bestellsystem läuft; zudem fließen die Kassendaten der Filialen direkt in SAP ein", resümiert Burger.
Damit war seine Mission beendet, und er wird den Stab an einen noch nicht bestimmten externen Berater übergeben. "Machen Sie eine Ausschreibung, bekommen Sie im Nu hunderte von Angeboten", beschreibt Locke die aktuelle Situation im IT-Dienstleistungsgewerbe. Da fällt die Entscheidung schwer - "zumal tatsächlich die meisten etwas vom Handwerk verstehen".
Um auf der sicheren Seite zu sein und durch ein gescheitertes Projekt nicht den Fortgang der Geschäfte aufs Spiel zu setzen, hatte Locke schon beim Vertrag mit Heyde eine unübliche Zusatzvereinbarung in den Vertrag aufgenommen: die Vertragserfüllungsbürgschaft. Sofern ein Vertragspartner vereinbarte Leistungen nicht erbringt, kommt danach eine Bank als Bürge für Verluste auf; das Unternehmen kann seinen Schaden deutlich begrenzen. "Vor Jahren war das eine absolute Ausnahme, denn eine Erfüllungsbürgschaft konterkariert die Vertrauensstellung des Vertragspartners", meint Bernard Lankes, Spezialist für Projektverträge. "Die Bürgschaft kostet den Auftraggeber zwar ein bis zwei Prozent des Auftragsvolumens, dennoch ist sie im privatwirtschaftlichen Bereich immer öfter anzutreffen." Zudem, so rät Lankes, sollten Unternehmen nur so genannte Milestones bezahlen, vorher festgelegte Leistungsabschnitte. "Wer seine Aufgabe nicht erfüllt, bekommt kein Geld."
Krisenmanager Locke hat das berücksichtigt und ist heute froh, diese beiden Sicherheitsvorkehrungen getroffen zu haben. Allerdings hat das Einarbeiten der neuen Berater in die spezifischen IT-Anforderungen im Versandhandel Zeit gekostet. Statt das Projekt - wie mit Heyde geplant - im April zu beenden, zog sich die Sache bis in den August. "Der Kontakt zum Software-Hersteller sollte möglichst eng sein", rät Locke. Das sieht auch SAP-Projektleiter Burger so: "Ein Berater von uns sollte im Lenkungsausschuss sitzen, in dem die IT-Entscheidungen getroffen werden" - eine Forderung, die allerdings oft am knappen Budget der Auftraggeber scheitert. Bei Manufactum allerdings hat das monatlich zusammentreffende Top-Gremium aus Anwendern, Beratern, Herstellern und Dienstleistern die Einarbeitungszeit verkürzt. Mittlerweile hat Locke, der als Prokurist der Firma zwischenzeitlich 70 Prozent seiner Arbeitszeit ins ITManagement investieren musste, die Verantwortung an die sechsköpfige EDV-Abteilung von IT-Leiter Jens Brockmann abgegeben.
Der Blick des Nostalgikers Locke fällt wieder auf seine Rechenmaschine, die dort auf ihrem Platz im Regal steht. Das SAP-Software-Paket hingegen ist nicht darin verschwunden. Die Software läuft, und Manufactum-Chef Hoof hofft, jetzt endgültig einen Haken hinter das Projekt machen zu können.