Web-Industrie

Berlin ist für Startups der Himmel auf Erden

22.07.2013 von Michael Kroker
Im Zentrum Berlins, im Kiez von Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Mitte und Kreuzberg, schlägt Europas Herz der Web-Industrie. Das große Geheimnis des Erfolgs ist ein unsichtbares Netzwerk, in dem Kapitalgeber, Berater und mutige Gründer einen in Deutschland einzigartigen Nährboden für Startups geschaffen haben.

Bastian Schmidtke ist da, wo er immer hinwollte. Vor gut zwei Jahren sind er und sein Kompagnon Jakob Schreyer von Bamberg nach Berlin gezogen, um dort ein eigenes Unternehmen, ein Startup, hochzuziehen. "Gewissermaßen vom toten Winkel der alten Bundesrepublik in den einstigen toten Winkel Westberlins", sagt Schmidtke.

Der tote Winkel, von dem der 28-Jährige spricht, ist der Oranienplatz in Kreuzberg, wo Schmidtkes und Schreyers Unternehmen Orderbird seinen Sitz hat. Früher war hier ein Kiez für Alternative und Bundeswehrflüchtlinge im Schatten der Mauer. Heute ist Kreuzberg eines der heißen Pflaster für die Internet-Szene in Berlin.

Schmidtke und Schreyer haben eine moderne Kassensoftware für Kneipen, Clubs und Restaurants entwickelt, die über iPad und iPhone funktioniert.

Mit ihrem System haben die beiden nicht nur mehrere Preise bei Gründerwettbewerben abgeräumt, sondern Ende April auch einen Großinvestor an Land gezogen: Carsten Maschmeyer, Gründer des Finanzdienstleisters AWD. Der Multimillionär aus Hannover hat über seine Beteiligungsgesellschaft Alstin rund 2,7 Millionen Euro in das Jungunternehmen gesteckt und hält jetzt 30 Prozent der Anteile. "Wir freuen uns, mit Orderbird ein sehr chancenreiches Wachstumsunternehmen für unser Beteiligungsportfolio gewonnen zu haben", ließ sich Maschmeyer nach dem Deal zitieren.

Gründerboom in Berlin

Dass ein Startup so schnell so viel Geld anzieht, ist in Deutschland nicht an der Tagesordnung, zeichnet die junge Berliner Internet-Szene aber aus. In den vergangenen zwei Jahren hat sich in der Hauptstadt etwas entwickelt, das es sonst nur - wenn auch viel größer - im kalifornischen Silicon Valley gibt: ein umfangreiches und ständig wachsendes Netzwerk. Es besteht aus Unternehmensgründern, Investoren und Inkubatoren, das sind Helfer, die Firmen ausbrüten.

Sie alle kooperieren, tauschen Erfahrungen aus und vermitteln sogar Mitarbeiter, wo immer es gerade passt. Hier kennt über ein paar Ecken jeder jeden, Kontakte liegen fast auf der Straße und sind schnell zu knüpfen.

Das Berliner Netz nährt sich zunehmend selbst. Es zieht immer mehr Gründer von außerhalb an, denen eine wachsende Schar namhafter Investoren folgt, die an dem Boom teilhaben wollen: Seien es Privatinvestoren mit eigener kleiner Anlagegesellschaft wie Maschmeyer, seien es Verlage wie DuMont aus Köln, Madsack aus Hannover oder Holtzbrinck aus Stuttgart, die über Investitionen in neue Digitalgeschäfte das Wegbrechen ihres Kerngeschäfts kompensieren wollen. Aber auch Handelskonzerne wie Otto oder Tengelmann, die sich neue Chancen im Electronic Commerce erschließen wollen, drängen nach Berlin.

Ashton Kutcher investiert in Berliner Startups

Die Liste der Promis, die dem Tross angehören, wächst von einem Quartal zum anderen. SAP-Mitgründer Hasso Plattner mischt über seine im benachbarten Potsdam ansässige Risikokapitalgesellschaft HPV im Rennen um die besten Ideen und die heißesten Startups mit. Und selbst Hollywood-Schauspieler Ashton Kutcher hat seine Fühler in die Berliner Szene ausgestreckt: Seine gemeinsam mit Madonna-Manager Guy Oseary betriebene Gesellschaft A-Grade Investments hält Anteile an drei Berliner Startups.

Konkrete Zahlen über die Größe des Netzwerks gibt es nicht, dafür wächst die Szene zu schnell. Aber es dürften aktuell mehrere Hundert Internet-Startups in Berlin sein, die um Investoren, Aufmerksamkeit und Kunden buhlen. Befeuert wird der Nachschub an Ideen und Neugründungen durch Brutkästen, wie sie etwa die drei Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer mit Rocket Internet auf die Beine gestellt haben.

Berlins Startup-Netzwerk

Je nachdem, ob man etwa IT- und Biotech-Unternehmen mitzählt, hat das Startup-Biotop mittlerweile zwischen 10.000 und 50.000 Jobs in Berlin geschaffen. "Berlin ist praktisch selbst wie ein Startup - oder wie ein großer Brutkasten, der ständig neue Ideen gebiert", sagt Roberto Bonanzinga, Partner beim im London ansässigen Wagnisfinanzierer Balderton Capital, einem der größten europäischen Investoren, der zum Beispiel am Berliner Spieleentwickler Wooga beteiligt ist. "Das ist eine perfekte Umgebung für Startups."

Und so sorgt der riesige Inkubator Berlin dafür, dass die Maschen des Startup-Netzwerks von Tag zu Tag dichter werden. Inzwischen gibt es erste Multi-Gründer wie den 44-jährigen Schweizer Christophe Maire, die Geld aus Firmenverkäufen wieder zurück an die Spree pumpen. Maire hat sein 1999 gegründetes Unternehmen für Navigationssoftware, Gate 5, im Jahr 2006 für geschätzt 250 Millionen Dollar an Nokia verkauft.

2008 hob er das Unternehmen Txtr aus der Taufe, das sich nun nach einem Strategieschwenk auf E-Book-Software und virtuelle Bücher-Shops im Internet spezialisiert. Parallel arbeitet Maire inzwischen auch als Business Angel. Das heißt, er steuert Geld und Know-how bei und hat privat sowie als Partner beim Risikokapitalgeber Atlantic Ventures in diverse Berliner Startups investiert. "So entsteht langsam die Basis für ein nachhaltiges Firmen-Ökosystem", sagt Maire über Berlin.

Firmengründer aus aller Welt

"Die Startup-Szene in Berlin sucht zumindest in Kontinentaleuropa ihresgleichen", sagt auch Klaus Hommels. Der 45-Jährige operiert von Zürich aus und hat in der Vergangenheit bereits gutes Gespür bewiesen. Er investierte frühzeitig in den Internet-Telefondienst Skype, der heute zum US-Software-Riesen Microsoft gehört, sowie in das Business-Netzwerk Xing. In Berlin hat Hommels aktuell unter anderem Geld in den Online-Portal-Betreiber Global Leads Group gesteckt.

Im Vergleich zu den USA mangelt es nach Hommels Meinung dem Berliner Internet-Schmelztiegel vor allem noch an Kapital. Aber auch das ändert sich langsam: Ende Juni hat die australische Investmentbank Macquarie zusammen mit den Altgesellschaftern 15 Millionen Euro in den Online-Essensbestellservice Lieferando investiert. Und Anfang dieses Jahres machte die US-Investmentgesellschaft Kleiner Perkins Caufield & Byers Millionen für das Musik-Startup Soundcloud locker. Soundcloud hat eine App für das Musikhören per Internet-Stream am PC und Smartphone entwickelt.

Soundcloud und Gidsy

Soundcloud ist eines der vielen Positiv-Beispiele aus der Berliner Gründerszene. Statt nach London oder ins Silicon Valley zogen die beiden Schweden Alexander Ljung und Eric Wahlforrs bei der Gründung vor fünf Jahren an die Spree. "Einer der Gründe, warum wir Soundcloud in Berlin gestartet haben, war die dortige Musikszene", sagt Ljung. "Am Anfang haben wir praktisch jedes Wochenende ausgiebig das Berliner Clubleben genossen - nicht nur aus Spaß, sondern als perfekte Marketingmethode für Soundcloud."

So befruchten sich die verschiedenen Mitglieder der Berliner Szene - Gründer und Investoren, aber auch Musiker und Künstler - gegenseitig. Die Stadt ist hip, kreativ und international. Damit bietet sie einen Nährboden für Firmengründer aus aller Welt. Das sieht auch der Niederländer Edial Dekker so, Gründer des Internet-Neulings Gidsy, in den Hollywood-Mime Kutcher Teile seiner Gage gesteckt hat. Gidsy ist ein Online-Reiseführer mit angeschlossenem Internet-Marktplatz für spezielle Dienstleistungen, etwa Weinproben.

Dekker sitzt mit seinem Team von elf Leuten unter dem Dach einer Fabriketage in Kreuzberg nahe dem Kottbusser Tor - in "Silicon Kotty", wie Dekker die Gegend wegen ihrer Startup-Dichte nennt. "Berlin ist günstig, verändert sich ständig, zieht kreative Leute an und es gibt kein Establishment", sagt der 27-Jährige. Entsprechend unkonventionell hat er offenbar Kutcher als Investor gewonnen. "Ich habe ihm Passwort und Benutzername von Gidsy per E-Mail geschickt, damit er’s ausprobieren kann", erzählt Dekker.

Der Brutkasten für Internet-Start-ups

Geschwindigkeit, Zusammenarbeit und Kreativität sind das Markenzeichen der Region rund um Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Mitte und Kreuzberg. Einen der Antriebsmotoren nennt Florian Heinemann, Geschäftsführer des vom Otto-Konzern finanzierten Inkubators Project-A Ventures: "In Berlin", sagt Heinemann, "gibt es so etwas wie die Jamba-Mafia." Damit spielt Heinemann an auf die sogenannte Paypal-Mafia in den USA.

So nennt die Internet-Szene ironisch die Gründer des gleichnamigen Online-Bezahldienstes, zu ihnen gehören der Deutsche Peter Thiel und der Amerikaner Reid Hoffman. Sie steckten nach dem Verkauf von Paypal an das Online-Handelsportal Ebay für rund 1,5 Milliarden Dollar 2002 ihr Geld in weitere Neugründungen; Hoffman finanzierte zum Beispiel das inzwischen börsennotierte Karrierenetzwerk LinkedIn.

Analog dazu repräsentiert die Jamba-Mafia in Berlin ein Netzwerk aus Managern und Gründern, die ebenfalls Kasse gemacht haben und nun Geld und Know-how in die Berliner Internet-Maschine stecken. Im Zentrum stehen die drei Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer, die mit dem 2000 gegründeten Klingeltonanbieter Jamba Sporen und Geld verdient haben. 2004 verscherbelten die Samwers Jamba für 223 Millionen Euro an den US-Technologiekonzern Verisign.

Der Deal hatte Folgen. In den Jahren danach verließen diverse Mitarbeiter Jamba und wurden Gründer und Manager in Berlin. Zu ihnen zählen Project-A-Mann Heinemann, Wooga-Gründer Jens Begemann, die Toptarif-Gründer Thorsten und Ingo Bohg sowie der heutige Immoscout-Geschäftsführer Dirk Hoffmann.

Rocket Internet

Jamba war damit eine Art Ursuppe der Berliner Startup-Szene. Neu zubereitet und mit frischen Zutaten ist an die Stelle von Jamba der Inkubator Rocket Internet getreten, den die Samwer-Brüder 2007 gründeten. Rocket Internet spült ständig neue Startups in die Szene. Zudem sorgt das Unternehmen durch Zu- und Abgänge für dauerhaften Nachschub an Managern.

Rocket Internet ist das größte und vielleicht auch wichtigste Internet-Unternehmen in Berlin. Insgesamt arbeiten in den Rocket-Firmen weltweit 15.000 Leute. Rocket ist eine Fabrik für Internet-Startups. Herr über diese Fabrik und Statthalter der drei Samwer-Brüder ist Alexander Kudlich. Der 32-Jährige kommt mit hanseatischem Flair daher: leger gekleidet mit Hemd, nicht im typischen Startup-Outfit mit Kapuzenpulli.

250 Menschen werkeln in der Rocket-Zentrale im Dreieck zwischen Friedrich- und Oranienburgerstraße. Die Raketen, wie es auf einem internen Organigramm heißt, sitzen im vierten und fünften Stock eines sechseckigen Gebäudes in der Johannisstraße. Kudlich bündelt Experten für alles, was ein Internet-Startup braucht: Online-Marketing, Finanzen, Buchhaltung und Personalwesen. "Für Neugründungen schneiden wir hier Teams heraus", sagt Kudlich.

Wooga

Rocket Internet stampfte in den vergangenen Jahren innerhalb weniger Monate Neugründungen wie den Internet-Schuhhändler Zalando, das Partnerschaftsportal eDarling oder die an Groupon verkaufte Schnäppchenseite CityDeal aus dem Boden. Das brachte Erfahrungen. Heute bastelt ein Team an einem neuen Unternehmen maximal vier Monate. Danach steht das Startup und zieht in eigene Räume.

Mehr als 100 Unternehmen rund um den Globus hat die Gründungsmaschine bisher ausgespuckt. Trotz solcher Erfolgszahlen tritt Rocket bisher kaum in der Öffentlichkeit auf. Hauptgrund: Das Unternehmen gilt als "Copycat" - zu Deutsch: als Nachahmer. Die Samwer-Fabrik nutzt vor allem bewährte Geschäftsmodelle des E-Commerce und bringt sie möglichst schnell in möglichst vielen der weltweit 40 wichtigsten Märkte ins Netz. "Innovationen gibt es nicht nur im Geschäftsmodell, sondern auch in den Prozessen", nennt Kudlich diese Strategie. "Uns geht es um Exzellenz in der Umsetzung."

Die haben die Raketen perfektioniert: "Wir können inzwischen ein Internet-Projekt innerhalb von vier Wochen in mehreren der 40 Märkte hochfahren", sagt Kudlich stolz. In den vergangenen Monaten hat die Internet-Fabrik beinahe eine neue Firma pro Woche ausgespuckt. "Mehr geht kaum", so Kudlich. Dadurch schafft Rocket Arbeitsplätze und füttert langfristig das Berliner Netz: "Viele ehemalige Rocket-Mitarbeiter sind heute mit eigenen Startups unterwegs", sagt Kudlich.

Wooga

Jens Begemann, der 2009 den Spieleanbieter Wooga gegründet hat, hat eine Vorzeigekarriere im Samwer-Umfeld vorzuweisen. Er watete sieben Jahre lang in unterschiedlichen Führungspositionen durch die Ursuppe Jamba. "In der Jamba-Zeit haben viele gelernt, was es heißt, ein Startup zu führen", sagt Begemann.

Der 35-Jährige ist älter als die meisten Startup-Gründer. Er stammt aus Ostwestfalen-Lippe. "Da ist man früher nie weggezogen", sagt er nachdenklich und bedächtig. "Ich wollte Wooga schon vor zehn Jahren gründen, aber da fühlte ich mich noch nicht so weit, weil mir noch die Erfahrung fehlte, wie man ein Unternehmen führt."

Das Abwarten hat sich für Begemann ausgezahlt. Was hier im vierten Obergeschoss in einer ehemaligen Brotfabrik im Prenzlauer Berg 2009 begann, ist heute gemessen an der Zahl der monatlich aktiven User der zweitgrößte Entwickler sogenannter Social Games weltweit. Das sind Spiele in sozialen Netzwerken. Gleich millionenfach daddeln Facebook-Nutzer weltweit die Wooga-Spiele Diamond Dash, Monster World oder Bubble Island. Ein Flachbildschirm am Eingang empfängt den Besucher mit Live-Zahlen.

Mehr als 200 Mitarbeiter hat Wooga inzwischen, im Schnitt kommen zwei pro Woche hinzu. Als eines der Vorzeige- unternehmen der Berliner Szene hat Wooga illustre Investoren angezogen, darunter die in London ansässige Balderton Capital.

Corporate Finance Partners und IBB

So ostwestfälisch geerdet Begemann redet, so langfristig sind seine Pläne: "Wir haben keinerlei Verkaufsabsichten", beteuert er. "Unsere Vision lautet, Spiele bis 2020 zu einem gleichberechtigten Unterhaltungsmedium neben Musik und Video zu machen."

Corporate Finance Partners

Sollte Wooga-Gründer Begemann es sich doch anders überlegen, dürfte sein erster Anruf Andreas Thümmler gelten. "Der Andi", wie ihn alle in der Berliner Szene nennen, ist Gründer und Chef von Corporate Finance Partners (CFP). Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Frankfurt, "aber ich bin meist in San Francisco oder Berlin", sagt Thümmler. Er bezeichnet sich selbst als die Spinne im Netz, denn CFP kümmert sich um Kapital für Startups und um die Exits - also den gewinnbringenden Ausstieg von Gründern oder Kapitalgebern.

Insgesamt 400 Deals hat der 39-jährige Thümmler laut eigenen Angaben abgewickelt, darunter viele der ganz großen in Berlin: 2004 den Verkauf von Jamba an Verisign, des Berliner Online-Shopping-Clubs Brands4Friends an Ebay Ende 2010 oder die Übernahme des Gutschein-Startups DailyDeal durch Google 2011. Es gibt kaum eine Transaktion in der Szene, bei der Thümmler nicht mitmischt.

Und im Anschluss lassen sie es alle gemeinsam im Felix ordentlich krachen. "Fragen Sie mal den Eigentümer, welche Gründer dort alle in der Dom-Perignon-Lounge ein paar Magnum-Flaschen nach einem Deal haben springen lassen", sagt Thümmler. Felix ist einer der angesagtesten Clubs der Hauptstadt, liegt in der Nähe des Brandenburger Tors und wartet unter anderem mit einem 20 Meter langen Bartresen auf.

Der Franke Thümmler, der sich für einen Zeitschriftenartikel schon mal im Darth-Vader-Kostüm hat ablichten lassen, kümmert sich seit 1998 mit inzwischen 80 Leuten weltweit um Firmenzusammenschlüsse und -übernahmen. "Berlin ist auf der Überholspur und hat inzwischen eine Gründerkultur, die selbst den Großraum London hinter sich gelassen hat", sagt er. Deshalb kämen auch internationale Risikokapitalgesellschaften wie Kleiner Perkins, Index Venture, Accel oder Sequoia Capital nach Berlin: "Im Vergleich zum Silicon Valley", sagt er, "könnten es noch gut und gerne 40 Kapitalgeber mehr sein."

IBB Beteiligung

Solange es die nicht gibt, braucht es in Belin auch Leute wie Roger Bendisch, Geschäftsführer bei der IBB Beteiligungsgesellschaft, einer Tochter der landeseigenen Investitionsbank Berlin. Der 53-Jährige, Typ Sparkassen-Direktor mit Schnäuzer und Brille, arbeitet in einem hässlichen Siebzigerjahre-Bau an der Bundesallee in Westberlin, weit weg von allem Gründer-Schnickschnack. Im Erdgeschoss des Hauses sitzt eine Sparkassen-Filiale.

Team Europe

Der biedere Außenauftritt verdeckt: IBB Beteiligung war 2011 der aktivste Wagnisfinanzierer mit Sitz in Deutschland. 16 Erst- und 20 Folgeinvestments haben Bendisch und seine Partner getätigt, ergab eine Erhebung des Münchner Beratungsunternehmens FHP Private Equity Consultants.

"Wir stemmen alle Beteiligungen zusammen mit privaten Investoren", sagt Bendisch. Ob die Samwer-Brüder, Business-Angels wie Maire, Maschmeyers Beteiligungsgesellschaft Alstin oder Risikokapitalgesellschaften von Holtzbrinck oder Burda - Bendisch kennt sie alle und fädelt Beteiligungen mit ihnen ein. Der IBB-Anteil liegt in aller Regel zwischen einigen wenigen bis 20 Prozent.

Warum sich das Land Berlin hier engagiert? "In der Frühphase von Unternehmensgründungen gibt es ein Marktversagen, weil viele Investoren das Risiko zu jenem Zeitpunkt scheuen. Wer eine lebendige Startup-Kultur will, muss als Land mit aktiv werden", sagt Bendisch. So wälzen er und seine Kollegen gut 300 Business-Pläne im Jahr, rund zehn Prozent davon seien grundsätzlich beteiligungsfähig: "Wir müssen extrem vorsichtig investieren, weil wir keine Sicherheiten bekommen."

Trotz aller Sorgfalt kommt IBB Beteiligung auf eine Erfolgsquote von bestenfalls 20 Prozent - das sind jene Unternehmen, die irgendwann ordentlich Geld verdienen. Weitere 20 Prozent der Beteiligungen gehen pleite, wie zuletzt das Solarunternehmen Soltecture. Es musste Anfang Mai wegen des Verdrängungswettbewerbes durch chinesische Anbieter Insolvenz anmelden. "Eine Pleite ist leider auch normal", sagt Bendisch.

In seinen Augen fehlt in Deutschland aktuell vor allem die Ausstiegsmöglichkeit über Börsengänge. "Das Vertrauen der Deutschen in Aktien hat seit dem Platzen der New-Economy-Blase vor rund zwölf Jahren maßgeblich gelitten. Daher fehlen Exits über Börsengänge, die normalerweise viel Geld in die Beteiligungsgesellschaften zurückspülen, das dann wieder neu investiert werden kann", sagt Bendisch.

Viele seiner Kontakte knüpft Bendisch auf einer der zahlreichen Networking-Veranstaltungen an der Spree. "Da bin ich dann meistens der Älteste", sagt er und schmunzelt.

Team Europe

Bei den Networking-Treffen begegnet Bendisch unter anderem Leuten wie Kolja Hebenstreit und Lukasz Gadowski, den Gründern und Chefs von Team Europe Ventures, neben Rocket dem zweiten großen Inkubator in Berlin. Darüber hinaus veranstalten Hebenstreit und Gadowski zum Beispiel Chefessen wie das CEO-Dinner für eine maximal zweistellige Zahl ausgewählter Teilnehmer.

Bei Team Europe in Berlin-Mitte unweit des Brandenburger Tores ist alles eine Spur kleiner, aber auch familiärer als bei Rocket. Die 34 Leute um Hebenstreit und Gadowski sind gerade erst in den vierten Stock eines historischen Baus in der Mohrenstraße eingezogen, der vor dem Zweiten Weltkrieg mal den repräsentativen Hauptstadt-Geschäftssitz der Allianz-Versicherung beherbergte.

Goodbeans

Mit T-Shirt und Jeans ginge Hebenstreit locker selber als Gründer durch. Dabei ist er in der Szene ein alter Hase. Zusammen mit Unternehmensgründer Gadowski hat er vor gut einer Dekade den Online-T-Shirt-Bedrucker Spreadshirt aus der Taufe gehoben. Aus der Studentenklitsche in Leipzig wurde ein Unternehmen mit zuletzt gut 40 Millionen Euro Umsatz, 300 Mitarbeitern und Niederlassungen unter anderem in London, Paris und Boston. 2008 haben er und Gadowski dann Team Europe gegründet und kümmern sich seitdem um Internet-Startups. "Wir haben keine externen Investoren, sondern stecken eigenes Geld, das bei Exits aus Alt-Investments zurückfließt, in unsere neuen Firmen", sagt Hebenstreit. Der Rückgriff auf bereits halbwegs bewährte Geschäftsmodelle sei auch der Ansatz von Team Europe.

Dass das Berliner Netz der Internet-Startups auch für ganz andere Dinge gut ist, hat Verena Delius in den vergangenen Monaten erfahren. Delius leitet seit Ende 2010 als Geschäftsführerin den Spielehersteller Goodbeans im Prenzlauer Berg.

Mit dem Internet-Kinderspiel Panfu ist das vor fünf Jahren gegründete Unternehmen auf zuletzt schätzungsweise rund vier Millionen Umsatz gewachsen - aber auch in einer strategischen Sackgasse gelandet. "Panfu ist hochprofitabel, aber nicht mehr unser Fokus", sagt Delius. "Der gesamte Markt für Kinderspiele dreht sich in Richtung Mobile und Apps - darauf mussten wir mit einem Komplettumbau reagieren."

Das hat die 33-Jährige getan: Ende 2011 entließ sie 15 von 60 Leuten. Seit Jahresanfang hat sie wiederum zehn neue Entwickler eingestellt. Grund für das Feuern und Heuern: "Für Apps brauche ich Entwickler mit einem anderen Know-how als für ein Internet-Spiel", so Delius.

Die überflüssigen Leute hat sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. "Wir haben die Chefs von mehreren Startups angerufen, darunter die Spieleentwickler Wooga und Smeet sowie das E-Commerce-Portal Dawanda", sagt Delius. In kürzester Zeit fanden alle 15 bei Goodbeans Entlassenen einen neuen Job. "In Berlin ist der Know-how-Transfer sehr groß. Man setzt sich mit anderen Gründern an einen Tisch und tauscht seine Erfahrungen aus. Daher kann man sich bei Fragen und Problemen auch leichter helfen", sagt Delius.

Als Helfer hat sich nun auch Maschmeyer angeboten - bei seiner Firmenbeteiligung Orderbird. "Er will bei uns höchstpersönlich eine Vertriebsschulung machen, das ist natürlich der Hammer", sagt Mitgründer Schmidtke, der früher Kassensysteme anderer Hersteller verkaufte.

Ein einstiger Einpeitscher, der seine Versicherungsvertreter früher nur so in die deutschen Wohnzimmer trieb, nun als Verkaufsberater der Startup-Szene - das gibt es nur in Berlin.

(Quelle: Wirtschaftswoche)