Seit Ende vergangenen Jahres greifen alle Mitarbeiter in den internationalen Euro-Centern der Europäischen Reiseversicherung (ERV) über eine gemeinsame Oberfläche auf Daten aller Ländergesellschaften zu. Geht beispielsweise ein deutscher Urlauber in Zypern in das Servicebüro und meldet einen Schaden an, können die Mitarbeiter der Schadensabteilung jetzt sofort auf die Daten in Deutschland zugreifen. Bislang war das unmöglich, denn alle Landesgesellschaften arbeiteten weitgehend autonom. "Über Web-Services haben jetzt alle Mitarbeiter eine gemeinsame Sicht auf die Landesdaten, ohne dass wir eine zentrale Applikation geschaffen haben", sagt CIO Thomas Faber.
So versteht Faber unter Shared Services auch nicht, wie oftmals üblich, die IT an einem Ort zu zentralisieren. Er definiert "geteilte Dienste" grundsätzlich: dem Business Applikationen, Infrastruktur und Services zur Verfügung zu stellen. Dabei ist es unerheblich, wo und wie die Leistungen erbracht werden. "Es ist egal, welche Landesgesellschaft welche Dienste anbietet. Hauptsache, alle nutzen sie gemeinsam", so Faber. Damit entschied er sich bewusst dagegen, die IT in der Münchener Zentrale zu zentralisieren. "Wir können nicht alle alten Systeme ablösen und durch neue ersetzen. Dazu fehlen uns die Ressourcen."
Der Grund für die Einführung von Shared Services lag jedoch nicht in technischen Entwicklungen oder Kostenüberlegungen, sondern im Business: ERV-Geschäftspartner wie die Reisekonzerne TUI oder Rewe Touristik, Hotelketten und Unternehmen stellen sich immer globaler auf und wollen deshalb nur noch einen internationalen Rahmenvertrag abschließen. "Shared Services versetzen uns in die Lage, über Ländergrenzen hinaus zu agieren und global auf die Anforderungen des Markts zu reagieren", so Faber.
Kein Porzellan zerschlagen
Dazu mussten jedoch zuerst die sechs 100-prozentigen ERV-Gesellschaften überzeugt werden, ihre IT-Dienste zu teilen und damit ein wenig Autonomie zu verlieren. Für diese Aufgabe schaffte die ERV Anfang 2002 erstmals die Position eines CIO und besetzte ihn mit dem international erfahrenen Faber. Er war zuvor beim Musikkonzern EMI tätig, wo er die Landesgesellschaften von Spanien und Portugal zusammenführte und anschließend von Miami aus Südamerika betreute. "Man muss eine Vertrauensbasis in den Ländern schaffen, was Zeit braucht und oft unterschätzt wird", weiß Faber. Oft genug hat er gesehen, wie CIOs den falschen Weg gegangen sind nach dem Motto: Jetzt kommen wir, wir sind das Headquarter, und wir erzählen euch mal, was Sache ist. "Damit zerschlägt man so viel Porzellan, das kann man hinterher nicht mehr kitten. Damit ist das Projekt gestorben", sagt Faber.
Um Widerstände und Missverständnisse in den Gesellschaften erst gar nicht aufkommen zu lassen, besuchte Faber zunächst alle Landesgruppen. Das Ziel: die Mitarbeiter in den Gesellschaften einzufangen und sie hinter das Projekt zu bekommen - für Faber der "Killeraspekt" des Projekts. Letztlich dreht sich seine Begründung um nur ein Argument: "Shared Services sind für uns überlebensnotwendig, wenn wir in dem globalen Reisegeschäft weiter mitspielen wollen. Dafür brauchen wir eine globale Infrastruktur", so Faber. "Wie das hinterher aussieht, ob es zu einer Konsolidierung kommt und sich das auf die lokalen Ressourcen auswirkt, das ist erst die zweite Frage."
Bei der späteren Umsetzung war es für ihn aber wichtig, den Gesellschaften nicht einfach etwas überzustülpen, sondern ihnen Freiräume zu lassen. So legt nun eine gemeinsame Sicherheits-Policy zwar Prinzipien fest, aber die Länder können sie innerhalb dieses Rahmens ausgestalten. Faber: "Wir steuern schon, aber nicht bis ins Detail." Dabei lässt er nie sein zentrales Anliegen aus dem Auge: "Wir wollen die Effizienz verbessern. Aber nur in Bereichen, in denen es sinnvoll ist, sonst nicht."
Aber auch das Management muss verstehen, das solch ein Projekt nicht übers Knie gebrochen werden kann. Die Management-Forderungen in Unternehmen ähneln sich stark: IT zentralisieren, Return on Investment innerhalb eines halben Jahres liefern und am besten noch schnell die Kosten senken. Dieser Weg hätte das ERV-Projekt vermutlich schon im Ansatz beendet. So sieht Faber eine Kernaufgabe darin, die Erwartungen des Managements in realistische Bahnen zu lenken. "Einerseits muss das Unternehmen auch die Geduld für solch ein Projekt aufbringen, andererseits muss die IT dem Management immer wieder über Erreichtes, weitere Schritte und Quick Wins berichten", resümiert der ERV-CIO.
Keine Chance ohne Rückhalt vom Vorstand
Nur auf diese Weise bekommt ein CIO den unbedingt notwendigen Rückhalt vom Vorstand. Denn Faber weiß: Nur wenn das Management geschlossen hinter dem Projekt steht, kann es auch gelingen. Nur so kann er den Vorstand in die Pflicht nehmen, wenn es zu Widerständen kommt. Das klingt banal. Doch Faber weiß aus früheren Projekten: Sobald auch nur ein Regionalmanager nicht mehr hinter einem Projekt steht, ist es praktisch tot. "Wenn die IT nicht den Auftrag und das Vertrauen vom Business hat, dann kann die IT überhaupt nichts machen", so Faber.
Um das Management aller Länder einzubinden und alle Synergien zu heben, baute die ERV eine internationale Organisation auf, die aus drei Ebenen besteht. An oberster Stelle befindet sich das Steuerungsgremium, das sich aus Mitgliedern der Geschäftsbereiche Sales und Marketing, Schadensabwicklung, Finanzen, Personalwesen sowie IT zusammensetzt. Es vergibt Projekte an einzelne Länder oder internationale Gruppen und ernennt dafür jeweils einen internationalen Koordinator. In der zweiten Organisationsebene definieren Task Forces konkrete Projekte. Sie berichten an das Steuerungskomitte sowie die Vorstände der sechs Ländergesellschaften. Die Ausführung erfolgt schließlich auf der dritten Ebene durch die so genannten Competence Leader.
Um beim Gesamtprojekt nichts zu überstürzen und allen einen nachvollziehbaren Fahrplan vorzulegen, arbeitete Faber ein dreischichtiges Shared-Services-Modell aus: geteilte Informationen, geteilte Anwendungen und geteilte Ressourcen. Zum Bereich Shared Information zählt er grundlegende Dinge wie gemeinsame Projekt-Methodologie, das Assistance-System der Schadensabwicklung und ein Link-ExchangeServer, mit dem alle Mitarbeiter auf ein gemeinsames Mail-Verzeichnis zugreifen können.
Neue Kompetenzen für Mitarbeiter
Auf der Shared-Application-Ebene siedelt er gemeinsam genutzte Anwendungen wie ERP, Intranet und Kern-Anwendungen an. Bislang hat die ERV sechs SAP-Systeme auf ein zentrales System in München migriert. Notwendig war das schon allein deswegen, um monatlich den Fast-Close-Report an die Firmen-Mutter Münchener Rück pünktlich zu liefern. Zwar verloren mit der SAP-Zusammenführung einzelne Mitarbeiter in den Ländern Kompetenzen, doch bekamen sie dafür neue Aufgaben übertragen. So verantwortet seitdem der ehemalige schwedische Finanz-Controller den Sicherheitsbereich bei der ERV - eine Position, die es vorher nicht gab. "Man muss Vertrauen schaffen, indem man sagt, wo, wie und warum man was machen will. Sonst glauben Mitarbeiter, in ein bis zwei Jahren seien sie überflüssig", sagt Faber.
In der höchsten Ebene, nach Faber die "Königsdisziplin", ist die ERV noch nicht angekommen: der Shared-Resources-Ebene. In diesen Bereich fällt für ihn ein gemeinsames Competence-Center oder ein gemeinsames Rechenzentrum. "Man muss nicht sofort die Ressourcen teilen. Es gibt schon viele kleine Dinge, aus denen wir ohne großen Aufwand Benefits generieren können", sagt Faber. So bedeutet auf diesem Weg für ihn allein das eingeführte Gruppen-Intranet für alle Mitarbeiter einen Meilenstein. Denn damit können sich jetzt alle Mitarbeiter aller Länder besser kennen lernen und so ein Gruppengefühl entwickeln.
Faber rät dringend, die Stufen streng nacheinander zu erklimmen: "Wenn ein Unternehmen schon Informationen nicht teilen kann, dann wird es ziemlich schnell an die Wand fahren, wenn es Ressourcen teilen will."