Big Data gewinnt zweifelsohne an Gewicht, und zwar in immer mehr Unternehmen. Unproblematisch ist das Thema aber keineswegs, was unter anderem am in der Praxis oft noch unklaren Nutzwert liegt. Da ist es hilfreich, dass zwei neue Studien das Thema aus ganz speziellen Blickwinkeln beleuchten. Deloitte hat sich der Datenanalyse im Mittelstand gewidmet, Ernst & Young der forensischen Datenanalyse (Forensic Data Analytics, kurz FDA).
Im Interview mit Deutsche Bank Research äußert sich aus allgemeinerem Blickwinkel Stefan Wrobel, Professor für Informatik an der Universität Bonn und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS). Eine Erkenntnis aus der geballten Lektüre: Big Data ist für den CIO - trotz und wegen des enormen Potenzials - eine gefährliche Baustelle.
Eigene Rationalität bei Entscheidungen überschätzt
Die Ernst & Young-Studie kann man recht spektakulär auf den Punkt bringen: Big-Data-Analysen sind eine wirksame Waffe gegen Betrug, Bestechung und Korruption. Ergänzen muss man, dass diese Waffe aber häufig noch nicht scharf gestellt ist. Demgegenüber lässt sich die Deloitte-Studie, die Ergebnisse einer Erhebung des Deloitte Mittelstandsinstituts an der Universität Bamberg und Praxiserfahrungen kombiniert, nur schwerlich zuspitzen. Gerade diese Untersuchung aber, die die reinen IT-Aspekte von Big Data gerade nicht in den Mittelpunkt rückt, verdeutlicht das zumindest in mittelständischen Firmen arg verminte Gelände höchst anschaulich.
Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, dass die doppelbödige Begrifflichkeit Big Data ja nicht nur die neuen Tools zur Analyse immenser Mengen an teilweise auch unstrukturierten Daten bezeichnet, sondern vor allem auch die damit verbundenen enormen Möglichkeiten an wertschöpfendem Erkenntnisgewinn für die Unternehmen. Ausgangspunkt der Deloitte-Studie ist vor diesem Hintergrund die klassische Frage, inwieweit die in diesem Fall mittelständischen Firmen aus dem Bauch heraus oder rational - also auf Grundlage von analysierten Daten - entscheiden.
Deloitte erkennt nun folgendes Bild: Die befragten Unternehmen halten tendenziell ihre Entscheidungen für deutlich rationaler und analytischer, als es die Wirklichkeit hergibt. Denn an Evaluierung in der Entscheidungsbewertung mangelt es weithin. Gleichzeitig scheinen die Befragten durchaus gewillt, sich im Bereich der Datenanalyse zu verbessern. Dabei bewerten sie ihre IT als einen der wichtigsten Optimierungs-Bausteine, und planen genau dafür auch Investitionen ein.
Eine Mission Impossible für die IT
Das ergibt sich so, wohlgemerkt, aus der Perspektive von Verantwortlichen fürs Gesamtunternehmen, für Finanzen und für Marketing. Nicht aus dem Blickwinkel der IT-Chefs, für die das alles mitnichten so angenehm ist, wie es womöglich zunächst scheint. Ohne viel Fantasie lässt sich nämlich dieses Szenario herauslesen: Von Business-Seite werden vage Erwartungen an Big Data geknüpft, die nahezu im Alleingang von der IT erfüllt werden sollen - eine Mission Impossible.
Zugegeben: In dieser Schärfe steht das so nicht in der Studie, ergibt sich aber logisch aus den von Deloitte zusammengetragenen Grundthesen und Elementen. An Klarheit lassen es die Studienautoren indes in ihren Schlussfolgerungen nicht fehlen. "Data Analytics bedeuten nicht, dass ab sofort alle Entscheidungen im Unternehmen rein faktenbasiert oder gar automatisch getroffen werden können", heißt es in der Studie. "Dies ist zwar der theoretische Anspruch von Data Analytics, aber aus praktischer Sicht des Mittelstands kaum zu verwirklichen."
Big Data - Entscheidungen unterstützen
Viele mittelständische Unternehmen hätten sich "durch vermeintlich moderne und neudeutsche Begriffe und Konzepte" wie Big Data, Analytics, Mash-up oder Data Integration verunsichern lassen. Dabei hätten sich die Probleme nicht verändert: Es gehe um "gute" Entscheidungen und deren Unterstützung im Unternehmen.
"Insofern handelt es sich bei Data Analytics auch nicht um ein neues Konzept", so Deloitte weiter. "Die Thematik der Entscheidungsunterstützung verändert sich lediglich aufgrund der stark zunehmenden Datenmenge sowie neuer Datenverarbeitungsmethoden und -systeme." Den Mittelständlern empfehlen die Analysten eine proaktive und vor allem ehrliche Bestandsaufnahme der Entscheidungsfindung.
Die Stimmen der Vernunft
An der Relevanz dieses Themas lässt die Studie keinen Zweifel. 87 Prozent der befragten Mittelständler berichten von zukünftig stark ansteigenden Datenmengen im Unternehmen. Die Führungskräfte entscheiden nach eigener Anschauung zu 70 Prozent rational, zu 30 Prozent intuitiv. Die Rolle als Stimme der Vernunft ist dabei vor allem bei den CFOs besonders ausgeprägt. Verwundert zeigt sich Deloitte indes darüber, dass sich 63 Prozent der Befragten aus dem Bereich Marketing und Vertrieb zufrieden mit ihrer datenbasierten Entscheidungsfindung äußern - und das trotz niedriger Automatisierung und Standardisierung.
Sorgen wegen Integration, Standardisierung und Verdichtung
"Relevanz, Validität, Reliabilität und Aktualität der Daten in den Unternehmen werden als recht hoch eingeschätzt", fassen die Autoren die Datensituation in den Unternehmen zusammen. "Weniger zufrieden sind die Probanden mit deren Integration, Standardisierung und Verdichtung." IT-technisch setzen 63 Prozent der Firmen auf eine integrierte Gesamtlösung, 31 Prozent auf nicht integrierte Module.
51 Prozent benennen die Einführung neuer IT-Systeme als wichtige strategische Entscheidung. Hinsichtlich Data Analytics erkennen 43 Prozent Verbesserungsbedarf durch verstärkten IT-Einsatz. Übertroffen wird dieser Wert lediglich von Prozessverbesserung sowie Bereinigung und Qualitätssicherung interner Daten, die als noch dringlicher eingestuft werden. Das oben genannte Dilemma zeigt sich aber unter anderem darin, dass nur wenige Mittelständler ihre Bemühungen bei der Entscheidungsfindung auch mit gezielt ausgewähltem Personal, mit externer Expertise oder der Auswertung externer Datenquellen flankieren wollen.
Kein IT-getriebenes Thema
Laut Deloitte wird das sogar noch offensichtlicher, wenn man auf die Budgetplanung schaut. "Nur für den verstärkten IT-Einsatz und Prozessverbesserungen sind im substanziellen Bereich Mittel über 100.000 Euro eingeplant", heißt es in der Studie.
"Data Analytics sind kein Thema, das von der IT getrieben wird", erläutern die Autoren weiter. Die eingesetzte Technologie sei lediglich ein Hilfsmittel, das die Entscheidungsunterstützung verbessert. "Insofern sollte das Thema in Unternehmen auch nicht von der IT, sondern von der Unternehmensleitung sowie den betroffenen Fachbereichen vorangetrieben werden."
Big Data ist ein unternehmensübergreifendes Führungsthema
Ähnlich argumentiert allgemein Stefan Wrobel vom Fraunhofer IAIS im Gespräch mit DB Research. "Den größten Nutzen aus Big Data werden […] jedoch diejenigen Unternehmen ziehen, die auch die übergreifende zweite Ebene betrachten, nämlich die Chancen von Big Data für die Gesamtaufstellung eines Unternehmens - also seine Strukturen, Prozesse und Geschäftsmodelle", so der Professor aus Bonn.
Big Data müsse in diesem Sinne ein unternehmensübergreifendes Führungsthema sein, das es Unternehmen jenseits der klassischen Operational Excellence ermöglicht, sich selbst datenorientiert neu zu erfinden. "Ich rate Unternehmen daher, Big Data nicht als reines IT-Thema wie die Anschaffung von Serverclustern oder entsprechender Analysesoftware zu sehen, sondern Big Data im Zusammenspiel zwischen Geschäft und Technik zu betrachten und wenn erforderlich mit entsprechenden Partnern zu bearbeiten."
Bessere Verknüpfungs- und Analysetechniken
Hohen Nutzen erkennt Wrobel auch durch verbesserte Verknüpfungs- und Analysetechniken. Datenbestände aus unterschiedlichen Quellen könnten mittlerweile miteinander verknüpft und semantisch so strukturiert werden, dass sich dadurch echter Mehrwert ergibt. "Dadurch können vielfältige Einzelaufgaben in Unternehmen wesentlich besser und effizienter gelöst werden, von der besseren Kundenansprache in Vertrieb und Marketing bis hin zur industriellen Steuerung und Vernetzung im Kontext von Industrie 4.0", erklärt der Experte.
Den Status Quo in einem anderem Anwendungsfeld lotet Ernst & Young aus. "Big-Data-Analysen werden immer wichtiger, um Schwachstellen in den Unternehmen systematisch aufzudecken und zu beseitigen", so die Analysten. "74 Prozent der Firmen trauen den neuen Big-Data-Technologien eine Schlüsselrolle bei der Betrugsbekämpfung und -aufdeckung zu."
Geeignete Werkzeuge zur Auswertung von großen Datensätzen gibt es allerdings erst in 7 Prozent der 450 befragten Unternehmen in elf Ländern. Nur Prozent nutzen bereits forensische Datenanalyseverfahren (FDA), um sicherheitsrelevante Informationen zu erfassen, wie aus der Studie "Big risks require big data thinking. Global Forensic Data Analytics Survey 2014" hervorgeht.
FDA nutzt interne Revision
Für 87 Prozent der befragten Führungskräfte sind die aktuellen Compliance-Anforderungen ein gewichtiger Anlass, um FDA-Programme in ihrem Unternehmen zu etablieren und zu verwenden. 75 Prozent der FDA-Nutzer wollen auf diese Weise Vermögensschäden aufdecken oder Korruptionsrisiken eindämmen. "Am meisten profitiert die interne Revision von diesen Analysen", erläutert Bodo Meseke, verantwortlicher Director für Forensische Datenanalyse bei Ernst & Young. "Zu den weiteren Nutznießern gehören Mitglieder der Geschäftsleitung, des Vorstands und des Verwaltungsrats."
Der von den Wirtschaftsprüfern und Beratern festgestellte Nachholbedarf ist allerdings groß. 69 Prozent der Firmen sind zwar mit der Effizienz ihrer Anti-Betrugs-Software zufrieden. Fast genauso viele meinen aber auch, dass sie mehr tun müssen, um ihre derzeitigen Datenschutz-Programme weiter zu optimieren. Ebenfalls ausbaufähig ist aus Sicht der befragten Unternehmen das Bewusstsein der Führungsebene über die Vorteile der forensischen Datenanalyse. "Die Anzahl der Datensätze, mit denen Unternehmen arbeiten, ist noch relativ gering", so Meseke.
Bei der Entwicklung und Implementierung von FDA-Programmen sollten die Firmen laut Ernst & Young zunächst ein multidisziplinäres Team aus Fachleuten bilden. Vertreten sollten alle Kompetenzen sein, die für die Durchführung forensischer Datenanalysen notwendig sind. "Ganz wichtig ist, dass die FDA-Werkzeuge stets auf dem neusten Stand gehalten werden, um mit dem digitalen Wandel und den technischen Entwicklungen Schritt zu halten", rät Bodo Meseke.