Dem Mann schlägt das Herz bis zum Hals. Soeben hat er seinen ersten Einsatz hinter sich, bei dem er mit Blaulicht auf dem Einsatzwagen einen flüchtigen Messerstecher verfolgen musste. Das Resultat: Diverse schockierte Fußgänger, die im letzten Moment von der Straße springen konnten, das lädierte Fahrzeug eines völlig Unbeteiligten, den der Polizist gerammt hat, und ein entfleuchter Krimineller. Und jede Menge Schweiß auf der Stirn des Polizisten, der zitternd aus dem Wagen steigt. Der Schweiß ist echt – die Schäden nicht: Der junge Beamte hat nur geübt.
Seit 2002 trainiert die Bayerische Bereitschaftspolizei auf einem Simulator der Firma Rheinmetall Defence Electronics ihre Einsatzfahrten. „Die Beamten üben in einem Netzwerk aus realen und fiktiven Streckenabschnitten, das unter didaktischen Aspekten zusammen mit Fahrlehrern und Ausbildern konzipiert und modelliert wurde“, erklärt Heinz Dresia, Geschäftsführer bei der Bremer Rheinmetall Defence Electronics. Dahinter steckt ein technischer Vorgang in mehreren Schritten: Grundlage ist eine Datenbasis, die sich aus sichtbaren Komponenten – Bäume oder Häuser, Menschen oder Fahrzeuge – und unsichtbaren Komponenten zusammensetzt. Die unsichtbaren Daten steuern den Simulator und sorgen unter anderem für die Bewegung oder die Geräusche, die der Polizist wahrnimmt, während er seine Fahrten trainiert.
Die Simulation beruht auf digitalisierten Foto- und Videoaufnahmen vom Übungsgelände. Auf Basis dieser Quelldaten werden mit Hilfe von so genannten Polygon- Generatoren 3-D-Landschaften erzeugt. Im einfachsten Fall wird ein regelmäßiges Gitter aus Vielecken (oder Polygonen) verwendet, dessen Punkte vertikal und horizontal immer den gleichen Abstand haben. Nachteil: Bei einem so gleichmäßigen Gitter hat das darzustellende Gelände überall die gleiche Auflösung, sodass Hügel und Täler nicht realitätsnah erscheinen. Mit entsprechenden Tools, die Höhendaten digitaler Geländemodelle einlesen, können Geländestrukturen analysiert und besser geeignete Gitterstrukturen generiert werden.
Simulator mit digitalen Höhendaten
Eine Alternative bieten TINs (Triangulated Irregular Networks), bei denen auf Basis von digitalen Höhendaten mithilfe von Algorithmen ein unregelmäßiges Gelände erzeugt wird. Dabei kann die Position der Gitternetzlinienpunkte frei gewählt werden, sodass sich die entstehende Landschaft der Realität besser anpasst. Rheinmetall Defence Electronics hat für die Fahrsimulation ein Tool entwickelt, mit dem sich Straßennetzwerke eingeben und generieren lassen. „Dabei hinterlegen wir maßstabsgerechte Karten im Eingabe-Editor als Modelliervorlage grafisch“, sagt Dresia. Mithilfe des Tools werden Straßen als Vektoren eingegeben. Diese Richtungspfeile definieren sowohl Anzahl und Breite der Fahrspuren als auch den Verlauf der Straße. Häuserfassaden zum Beispiel werden ebenfalls als Vektoren eingegeben, während Bäume oder Verkehrszeichen in Form einer Bibliothek zur Verfügung stehen und frei auf dem Gelände platziert werden können. Im Anschluss generieren die Rheinmetall-Spezialisten die unsichtbaren Simulatorbasisdaten, die zum Beispiel jene Ereignisse steuern, denen der Testfahrer ausgesetzt ist.
Diese Technik eröffnet viele Möglichkeiten. So arbeitet Rheinmetall Defence Electronics mit europäischen Forschungsinstituten und Katasterämtern zusammen, um flächendeckende Standards zum Erstellen und Austauschen von 3-D-Stadtmodellen zu entwickeln. Dresias Ziel: „Wir wollen dieses Modelle durch Definition eines Standards künftig für eine Vielzahl von Anwendungen wie Stadtplanung oder touristische Zwecke nutzen und natürlich zur Ausbildung im Simulator.“ Beispiel Polizei- Einsatz: Wenn die Modelle kompatibel sind, kann der Polizist auf der Jagd nach dem flüchtigen Messerstecher von der Düsseldorfer Kö bis zum Kölner Dom durchfahren, wenn auch nur in Bits und Bytes.
Bei Rheinmetall Defence Electronics ist man optimistisch, dass die mittlerweile verfügbaren Netzwerktechnologien vernetzte Simulationen im Verbund ermöglichen und dass Methoden der künstlichen Intelligenz die computersimulierten Akteure zunehmend realistisch in den Szenarien agieren lassen. Nicht zuletzt profitiere davon zum Beispiel auch die Entertainment-Branche.
Was die Ausbildung im Simulator betrifft, so machen sich die nicht nur Polizisten zunutze, sondern auch Sanitäter oder Sicherheitskräfte. Sie können in den virtuellen Welten üben, wie sich Objekte am besten schützen lassen, und lernen dabei, Risiken und Gefahren einzuschätzen. Ein „Heavy User“ ist das Militär: Ob künftige U-Boot-Fahrer, Helikopter-Flieger oder Eurofighter- Piloten – sie alle trainieren ebenso in Simulatoren wie die Soldaten in virtuellen Schieß- und Gefechtsübungen.
Simulation – ein Wachstumsmarkt
Nicht zuletzt sprechen ökologische Gründe für den Einsatz von Simulatoren, denn sie schonen schwindende Ressourcen wie Öl oder Gas und vermeiden eine Belastung der Umwelt. Rheinmetall-Mann Dresia sieht in der Computersimulation daher einen großen Wachstumsmarkt. Um den zu bedienen, schließen sich in den Unternehmen Spezialistenteams zusammen. So stehen hinter den Computersimulatoren für die Polizei Softwareentwickler, Informatiker und Mathematiker, Physiker, Grafikdesigner und Spezialisten aus den Bereichen mechanische Konstruktion, Infrastruktur und Logistik – und, nicht zu vergessen, Experten für Verkehrsregeln und den Aufbau von Straßen und Städten. In der Entertainment- Branche entstehen bereits neue Berufsbilder auf Basis der Technologie aus Bremen: So genannte Game Artists lassen sich in Game-Schulen ausbilden.
Erwacht bei diesem Mix aus Spiel und Technik so ein wenig das Kind im Manne? Dresia schmunzelt:„Computersimulation ist Hochtechnologie und stellt an jene, die mit der Entwicklung befasst sind, höchste Ansprüche an die eingesetzten Methoden und Technologien.“ Letztlich würde jedoch die Qualität solch eines Systems stark von der Kreativität der Entwickler geprägt. So gesehen sei der Spieltrieb unverzichtbar. Da mag man fast vergessen, dass Rheinmetall Defence Electronics ein Partner der Streitkräfte ist.