Der Druck für das Stammdatenprojekt kam vom Markt. Große Kunden optimieren permanent ihren Einkauf und setzen E-Procurement-Systeme ein, um elektronische Lieferantenkataloge zu importieren. Dafür verlangen sie von ihren Zulieferern einen konsistenten Katalog in mehreren Sprachen.
Als Key-Account-Kunden zum ersten Mal diesen Wunsch an die Brammer-Gruppe herantrugen, wurde dem technischen Händler für Industriebedarf schlagartig bewusst: Er braucht ein System, mit dem er in allen Ländern ein einheitliches Sortiment publizieren kann. Mit dem ERP-System war das nicht schnell hinzubekommen.
Zwar erstellt Brammer in Deutschland den elektronischen Katalog für Produkte zur Instandhaltung von Produktionsanlagen schon lange aus dem SAP-System heraus. Aber niemand konnte diesen Katalog in mehreren Sprachen zur Verfügung stellen, weil Brammer die Artikelstämme nur in Deutsch pflegte.
Die Brammer-Gruppe hat ihren Hauptsitz in Manchester. Die deutsche Brammer-Organisation mit Zentrale in Karlsruhe stellt darin gemessen am Umsatz die zweitgrößte Einheit. Deutschlands größter technischer Händler liefert Wälzlager, mechanische und elektrische Antriebselemente sowie Getriebemotoren und Dichtungen für die Industrie.
Kunden verlangen Einheitlichkeit
Die Gruppe ist mit einem Marktanteil von sieben Prozent Marktführer in Europa in einer sehr stark zersplitterten Branche. "Wir wollen die Gunst des sehr rasch größer werdenden Marktes nutzen und mit ihm wachsen", sagt Heiko Rumpl, Leiter der zentralen Business-Applikationen in der Brammer Gruppe.
Allerdings kam durch jeden Firmenkauf ein neues System in die Brammer-Gruppe, was eine Integrationsstrategie erforderte. Wichtigster Treiber dafür war, neue, international arbeitende Kunden zu gewinnen.
Dazu musste Brammer den Handel in allen 15 Ländern harmonisieren. "Nur über konsistente Stammdaten lässt sich erreichen, ein einheitliches Produktsortiment in ganz Europa anzubieten", sagt Rumpl. Um den Kunden einheitliche Kataloge anzubieten, bedurfte es eines Master Data Managements (MDM) als zentraler Datendrehscheibe mit einheitlichen aktuellen Informationen in einer verteilten IT-Infrastruktur.
Die ERP-Systeme zu integrieren kam für Rumpl nicht in Frage. "Wir glauben, dass die Benefits einer Stammdatenkonsolidierung im Verhältnis zum Projektaufwand deutlich größer sind als bei einem ERP-Konsolidierungsprojekt in einer heterogenen IT-Umgebung", begründet Rumpl dies. Zwar binde auch ein MDM-Projekt Ressourcen, aber bei Weitem nicht so viele wie eine ERP-Konsolidierung. Das Unternehmen verfügt zurzeit über rund 3,5 Millionen Artikeldatenstämme, jeden Monat kommen 5000 bis 6000 hinzu.
Das MDM fungiert "Point of Entry" für alle neuen Datenstämme. Jedes Objekt verfügt über eine Liste von beschreibenden Attributen, die für betriebswirtschaftliche Prozesse und Publikationen benötigt werden. Die Lokalisierung der Informationen sorgt dafür, unterschiedliche Sprachen zu unterstützen und verschiedene ERP-Datenmodelle zu integrieren. "Die korrekte Zusammenführung identischer Datenstämme verursacht den größten Aufwand", berichtet Rumpl.
Die IT hat eine eigene Systemlogik geschaffen, mit der sie ähnliche Informationen zum Zeitpunkt der Migration vereint. Gleiche Produkte mit verschiedenen Artikelnummern in den Ländern führt ein Importer-Tool automatisch in einer gemeinsamen Nummer zusammen und hinterlegt auch die Länder-Artikelnummern. Das Tool prüft, ob der Hersteller von zwei Produkten identisch ist, ob die Artikelnummern des Herstellers identisch sind und schließlich die Mengeneinheit wie "Stück". Wenn alles übereinstimmt, handelt es sich um den exakt gleichen Artikel.
Aber nicht immer vergeben Hersteller in allen Ländern eine einheitliche Artikelnummer. Dann vergleicht das Tool die Artikeltexte in den lokalen ERP-Systemen der Länder. Stimmen sie überein, führt das Tool die Produkte zusammen. "Wir führen Artikel nur zusammen, wenn die Texte hundertprozentig identisch sind", sagt Rumpl.
Wenn aber mögliche gleiche Kandidaten auftreten, schaut sich ein Mitarbeiter mit einem Validation-Tool diese Produkte an. "Wir konnten allerdings im ersten Migrationsschritt nicht so viele Artikel zusammenfassen, wie wir geplant hatten", resümiert Rumpl. Deswegen führen Mitarbeiter zurzeit noch in einem zweiten Schritt Artikel manuell zusammen.
Entscheidung gegen SAP
Importer- und Validation-Tool gehören beide zum Websphere Product Center von IBM, das Rumpl für das Stammdaten-Management einsetzt. Er entschied sich gegen SAP R/3, das Brammer in Deutschland verwendet. "Wir wollten ein System, das über kein vorgefertigtes Datenmodell verfügt und die Skalierbarkeit besitzt, um auf unterschiedlichste ERP-Stammdatenmodelle angepasst werden zu können. Wir haben unsere eigene Logik und unser eigenes Datenmodell im Product Center implemetiert", erklärt Rumpl. Einerseits bringt diese Entscheidung eine große Flexibilität in der Gestaltung des Datenmodells. Doch weist Rumpl darauf hin, dass die IT andererseits eine hohe Disziplin aufbringen müsse, um bestimmte Standards nicht zu ignorieren.
Während die Integration von Alt-Daten noch mit viel Aufwand verbunden ist, geht Brammer bei neuen Artikeln anders vor. Bevor Brammer ein neues Produktsortiment in seinen Bestand aufnimmt, setzt sich ein Mitarbeiter vorher mit dem Hersteller zusammen und definiert mit ihm, welche Stammdaten er liefern muss. Wenn andere Länderorganisationen ebenfalls mit dem Hersteller zusammenarbeiten wollen, brauchen sie sich nur noch die Daten vom zentralen MDM holen und eventuell länderspezifisch anpassen.
Die Erkenntnis aus der neuen Arbeitsweise war: Ein zentrales MDM-System braucht eine neue Daten-Management-Organisation mit zentralen europäischen Mitarbeitern. In der Organisation kommt nun der neu geschaffenen Rolle des Internationalen-Produktdaten-Spezialisten (IPDS) besondere Bedeutung zu. Ihm steht in den Ländern ein Nationaler-Produktdaten-Spezialist (NPDS) gegenüber. Der IPDS verantwortet eine bestimmte Produktgruppe und muss sicherstellen, dass neue Hersteller alle gewünschten Daten liefern. Er trägt die Verantwortung für alle globalen Attribute eines MDM-Artikels.
Erstaunlich: keine Widerstände
Interne Widerstände für diesen Wandel gab es zu Rumpls Erstaunen nicht. Allen habe eingeleuchtet, dass sich die Gruppe angesichts des Drucks vom Markt ändern müsse. Zudem habe der Vorstand die Änderungen frühzeitig kommuniziert. "Nach wie vor hat das MDM-Projekt den Nummer-eins-Status in der Brammer-Gruppe", sagt Rumpl.
Bisher hat Brammer das MDM-System in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich sowie in der Slowakei, Spanien, Tschechien und Belgien live geschaltet. In diesem Jahr soll noch Polen folgen.
Wenn 2009 die restlichen Länder angeschlossen werden, wird die Projektdimension Geografie abgeschlossen. Bei der zweiten Dimension handelt es sich um Produktgruppen. Davon sind zurzeit drei von elf Gruppen live: Wälzlager (wichtigste Gruppe bei Brammer), Dichtungen und mechanische Antriebstechnik. Im März begann Brammer in Großbritannien mit Hydraulik- und Pneumatikprodukten und damit der komplexesten Gruppe mit den meisten Artikeln. Die restlichen Gruppen sollen auch im Jahr 2009 aufgenommen sein.
Danach geht es daran, Synergien zu heben. Elektronische und gedruckte Kataloge will Brammer dann zentral automatisch erstellen. Vor allem aber erwartet Rumpl Vorteile im Einkauf und in der Lagerhaltung. "Logistik und Materialwirtschaft sind das Rückgrat eines Distributors. Dort sehen wir die größten Möglichkeiten, Kosten zu sparen, wenn wir alle Produkte im MDM haben."