Nun macht CIO Hartmut Willebrand Ernst. Ein Jahr nachdem er beim Cerealienhersteller Brüggen in Lübeck angefangen hat, ist das Thema Industrie 4.0 eines seiner wichtigsten Projekte.
In einem Kompetenzverbund mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) in Saarbrücken, bei dem ein Förderantrag eingereicht wurde, und dem Lübecker Automatisierungs-Spezialisten cbb als Technologiepartner will er in den kommenden 24 Monaten herausfinden, wie das 1868 als Mühle gegründete Unternehmen mit digitalisierter Fertigung ins neue Digitalzeitalter kommen kann.
"Nach der Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung der Industrie läutet das Internet der Dinge und Dienste in der Fabrik die vierte industrielle Revolution ein", sagt Willebrand. Unternehmen würden zukünftig Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit vernetzen.
150.000 Tonnen Jahresproduktion
Mit mehr als 150.000 Tonnen Jahresproduktion und rund 1500 Mitarbeitern zählt das Lübecker Familienunternehmen aus dem Mittelstand zu den führenden Cerealien-Herstellern weltweit. Das Unternehmen wächst rasant - so soll es weitergehen. In Deutschland, Polen, Frankreich und neuerdings auch in Chile produziert es Handelsmarken, überwiegend für die großen europäischen und internationalen Handelsketten in Premium- und Discountqualität, konventionell und in Bio. "Wir wachsen mit den Handelsriesen, Kostenführerschaft und Qualität sind für uns essenziell", sagt Willebrand.
Deswegen lauten die obersten Ziele von Brüggen auch, die Kosten im Griff zu behalten und trotzdem eine hohe Qualität zu erreichen. Zunehmender Wettbewerb, hohe Sicherheits- und Qualitätsanforderungen bei der Herstellung von Nahrungsmitteln und immer individuellere Kundenwünsche heißen die großen Herausforderungen. Wegen häufiger Produktwechsel schrumpfen auch bei Brüggen die einzelnen Losgrößen. Die Rüstzeiten der Maschinen steigen hingegen.
IT-Strategie definiert
Willebrand hat seine IT-Strategie aus der Kostenführerschaft abgeleitet. Basis für diese Strategie und den Bebauungsplan für die kommenden drei bis vier Jahre sind die Sichten der Eigentümer, Kunden und Mitarbeiter, unterlegt mit SWOT- und Risikoanalyse (SWOT = Strenghts, Weaknesses, Opportunities, Threats).
Willebrand standardisiert nun zum einen alle IT-Systeme im Projekt "Simplify": Statt zerklüfteter IT-Landschaften setzt er auf die Vereinheitlichung und Reduzierung der Komplexität und den Ausbau des SAP-Backbones. Mit der Umstellung auf die Datenbank SAP HANA hat er bereits begonnen. Zum anderen bekommt das Thema Security zur Sicherung der Datenintegrität, der Verfügbarkeit und Vertraulichkeit einen hohen Stellenwert. Das bedeutet Security by Design sowohl in der Umsetzung der Projekte als auch in der operativen Leistungserbringung, etwa durch die Trennung des LAN in ein Industrie- und Office-Netzwerk.
Die Standardisierung macht auch vor den Office-Anwendungen nicht halt: "Wir bauen das Microsoft-basierte Brüggen-Informations-Portal myBIP auf, mit allem, was dazugehört", sagt Willebrand. "Nicht nur die Suche nach Informationen wird schneller und komfortabler. Unsere Prozesse werden durch die Vermeidung von Medienbrüchen, die Ablösung papiergestützter Prozesse und die hohe Integration der Systeme effizienter."
Daten vom SAP-System über eine MES-Plattform zu den Maschinen bringen
Rezepte und Prozessdaten für die Produktion mit all ihren Parametern, die heute noch verteilt und dokumentenbasiert sind, sollen in Zukunft ins SAP-System wandern und bis zur Maschine geführt werden. Bei Willebrand hört sich das in Kurzform so an: Automatische Maschinen-Parametrierung (AMP), also Daten vom SAP-System über eine MES-Plattform (Manufacturing Execution System) bis zu den Maschinen bringen, Prozessdaten auswerten, aus den Maschinen holen, Zusammenhänge erkennen und sie mit den optimierten Werten im nächsten Fertigungsauftrag wieder nutzen. Willebrand: "So machen wir das Müsli schlauer."
"Wir wollen die Maschinendaten unstrukturiert in einem Data Lake sammeln und beispielsweise für Maintenance und Energie-Management auswerten", sagt der CIO. "So werden wir prädiktiver, verringern Ausfallzeiten und können andererseits den Energieeinsatz effizienter steuern."
Im ersten AMP-Teilprojekt geht es bei Brüggen seit Mai zunächst um die Parametrierung der Müsli-Packlinien. Anfangen will der CIO mit einer Packlinie, nach 24 Monaten sollen es alle 26 sein. Derzeit müssen noch nach jedem Produktwechsel die Maschinenführer und -einrichter die Verpackungslinien für jeden Produktionsschritt manuell neu einrichten und mit allen produktspezifischen Parametern aufwendig konfigurieren. Künftig sollen die Maschinenführer den Auftrag nur noch durch einen Scan der Fertigungsauftragsnummer im MES anmelden. Die Maschinen-Parametrierung aller in der Prozesskette enthaltenen Aggregate der Verpackungslinie erfolgt dann automatisch, was die Einrichtung viel einfacher, schneller und weniger fehleranfällig machen würde.
Durchgängige Analyse und Überwachung
"Unser Ziel ist die durchgehende Analyse und Überwachung aller Zustandsinformationen im Produktionsprozess", sagt Willebrand. Die Daten will er aus den Schnittstellen herausholen, zielorientiert analysieren und bedarfsgerecht zurückführen, um zusätzliche Wertschöpfung zu generieren.
Brüggen | Automatische Maschinen-Parametrierung |
Branche: Nahrungsmittelindustrie/Cerealien |
Alles ist ergebnisoffen
Willebrand: "Im Kompetenzverbund sowie mit weiteren Industriepartnern mit der gleichen Fragestellung, wollen wir uns KI-gestützten Verfahren zur Flexibilisierung der Produktionsprozesse widmen. Die große Aufgabe des Verbunds liegt darin, Zusammenhänge zu erkennen und zu optimieren. Alles ergebnisoffen."
Dabei werden sowohl die internen Faktoren der im Prozess integrierten Produktionsmaschinen als auch die externen Bedingungen der Produktionsumgebung - etwa Luftfeuchtigkeit und Temperatur - sowie Art und Qualität der verarbeiteten Zutaten betrachtet. Denn bei einer bestimmten Luftfeuchtigkeit verändern sich die Viskosität des Zuckers und die Fließgeschwindigkeit des Hafers, so dass sich die Zufuhrgeschwindigkeit beim Zulauf in den Schlauchbeutel verändert. Der Maschinenführer musste bisher händisch nachsteuern.
"Aus allen identifizierten Zusammenhängen und Abhängigkeiten wollen wir anschließend Regeln für die kontinuierliche Verbesserung des Produktionsprozesses ableiten", sagt Willebrand. Ob und welche Regeln es gibt, die bisher, wenn überhaupt, nur der Mensch mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung kennt, darauf ist Willebrand selbst gespannt.