Wer eine steile These verbreiten will, der braucht vor allem Zahlen, die dem beschriebenen Problem dramatische Dimensionen verleihen, Fallhöhe produzieren.
In diesem Sinne schrieb das renommierte Gallup Institut unter der Überschrift "Die deutsche Arbeitnehmerschaft hat ein Burnout-Problem", jährlich würden aus jedem der 30 DAX-Unternehmen zwischen 1.500 und 3.300 Angestellte wegen Ausgebranntsein behandelt. Ermittelt hatte die Zahlen der Klinikkonzern Asklepios.
Und Ursula von der Leyen rechnete vor - als sie noch Bundesarbeitsministerin war - seelische Erkrankungen seien hierzulande für 59 Millionen Fehltage pro Jahr verantwortlich, was Kosten von etwa sechs Milliarden Euro verursache.
So weit, so schrecklich. Und bekannt: Die Meinungsforscher von Gallup aus Washington D. C. beschäftigen sich seit Jahren intensiv auch mit Deutschland. Unter anderen wiederholen sie im Rahmen ihres "Engagement Index" seit 2001, das hierzulande bei den meisten Angestellten der Burnout entweder kurz bevorsteht oder bereits stattgefunden hat.
Schuld ist immer der Chef
Schuld daran, auch dieser Teil der Studie bleibt immer gleich, sind die bösen Bosse, weil sie ihren Leuten kein Feedback geben, sie nicht loben, ihnen nicht zuhören und keine Atmosphäre schaffen, die zu einer kritisch-konstruktiven Diskussion einlädt.
An dieser - vorsichtig formuliert etwas einseitigen - Ursachenbeschreibung gibt es jetzt berechtigte Zweifel. Eine aktuelle Untersuchung der Universität von Bath (im Westen Englands) kommt zu dem Schluss, dass für Burnout sehr häufig Faktoren verantwortlich sind, die in der Persönlichkeit der Ausgebrannten liegen und mit dessen Chef wenig bis nichts zu tun haben.
Bei der Untersuchung handelt es ich um eine Meta-Studie, das heißt die Autoren haben 43 Studien ausgewertet, die sich zuvor mit dem Thema Burnout beschäftig und deren Ursachen anhand von fast 10.000 Krankenakten erforscht hatten. Wichtigste Erkenntnis: Perfektionisten sind viel stärker von Burnout bedroht als andere Menschen.
Dieser Effekt, so die Studie, ist besonders deutlich in der Arbeitswelt zu beobachten, nicht ganz so signifikant zeigte er sich dagegen in anderen Bereichen, zum Beispiel unter Sportlern.
Perfektionisten sind keineswegs produktiver
Thomas Curren, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Fakultät der Universität von Bath und einer der Autoren der Studie: "Entgegen der gängigen Auffassung, dass Perfektionismus ein Zeichen von Leistungsfähigkeit und Erfolgsdenken ist, deuten unsere Erkenntnisse Perfektionismus als eher destruktiven Charakterzug."
Perfektionismus, so Curren, sei keine Basis für Erfolg; Sorgfalt, Flexibilität und Beharrlichkeit dagegen wesentlich nützlicher. Denn Perfektionisten sind keineswegs produktiver als ihre Kollegen, stattdessen erleben sie ihre Arbeit häufig als schwierig und stressig. Besonders schwer fällt es ihnen, mit Unsicherheiten umzugehen.
Dass diese Unsicherheiten nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall sind, darauf weist Thomas Curren in einem Beitrag für die Online-Wissenschaftszeitschrift The Conversation auf unterhaltsame Weise hin.
Er zitiert Voltaires berühmten Satz "Perfektion ist der Feind des Guten" und seinen rasanten Reiseroman "Candide oder der Optimismus". Dessen Held muss nach einer schier endlosen Abfolge von Unglücken und unwahrscheinlichen Rettungen erkennen, dass es "die beste aller möglichen Welt" nicht gibt.
Lob fürs Scheitern
Heute, findet Curren, wird unser Alltag aber geradezu beherrscht vom Streben nach Perfektionismus. "Vom Sport über die Schule bis ins Büro - und überall dazwischen." Perfektes abzuliefern sei der Inbegriff von Erfolg. "Aber diese Gleichsetzung enthält einen immanenten Fehler: Weil Perfektion niemals wirklich erreicht werden kann, führt das permanente Streben danach zwangsläufig zur Verzweiflung."
Oder zum Burnout. Deshalb sollten Chefs vielleicht eher darauf achten, den Perfektionismus ihrer Angestellten zu bremsen, anstatt sie - wie von Gallup empfohlen - rituell für jede halbwegs gelungene Präsentation zu loben.
Beziehungsweise die Angestellten sollten einfach ihre Arbeit so gut es geht erledigen und darin ihre Zufriedenheit finden. Ganz so wie Voltaires Held Candide, der am Ende seiner langen Reise als Bauer sesshaft wird.
Einige Unternehmen haben den Zusammenhang begriffen: Der Google-Konzern zum Beispiel schob in den zurückliegenden Jahren mehrere Initiativen an, um den Perfektionismus seiner Angestellten zu bremsen. So gab es demonstratives Lob, wenn Initiativen Einzelner oder von Angestelltengruppen gescheitert waren.
Ob das US-Unternehmen, das dafür bekannt ist, vieles auszuprobieren und sich bei Nichtgefallen schmerzfrei wieder zu beerdigen, bei diesem Thema zum Trendsetter wird, darf allerdings bezweifelt werden.
Manche brauchen Schutz vor sich selbst
Der 'Kampf gegen die Low Performer' ist seit Jahren ein Hit in den Programmen von Seminarveranstaltern. Rasende Globalisierung und steigernder Kostendruck führen dazu, dass Angestellte funktionieren sollen wie eine gut geölte Maschine - und bei anhaltender Funktionsstörung ebenso ausgetauscht werden.
Sich zu entspannen und nicht zu überdrehen ist da leichter gesagt als getan. Wer Angst um den Job hat, will seine Aufgaben möglichst perfekt erledigen, um nicht zu den Entbehrlichen zu gehören. Dieser Anspruch führt aber, wie beschrieben, zwangsläufig ins Scheitern - und im schlimmsten Fall zum Burnout.
Nach Ansicht der Autoren der Studie aus Bath sollten sich Unternehmen aktiv darum bemühen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Erstens weil sie selbst davon profitieren und zweitens weil die Perfektionisten unter ihren Angestellten Schutz vor sich selbst benötigen.