Die Digitalisierung wirft auch die Kleiderordnungen in der deutschen Wirtschaft über den Haufen. Wo früher ohne Anzug, Krawatte oder Kostüm gar nichts ging, setzen sich heute coole Outfits durch, und auch das Duzen gehört in vielen Unternehmen längst zum guten Ton. Der Manager von heute zeigt sich gerne weltoffen, agil und innovativ, statt sich mit zu viel Förmlichkeit aufzuhalten - und wirbt damit auch um kreative Köpfe aus der Gründer-Szene. Aber ist die neue Lässigkeit in den Chefetagen wirklich glaubwürdig - oder nur Fassade? Und wie kommen die Mitarbeiter damit zurecht, wenn plötzlich alle per Du sind?
Noch sorgen Auftritte wie der von Allianz-Chef Oliver Bäte, der auf der Hauptversammlung vor einigen Wochen in knallroten Turnschuhen vor die Aktionäre trat, für eine kleine Sensation. Hintergrund für die Wahl seines Schuhwerks war zwar ein weltweiter Mitarbeiterlauf, doch viele Beobachter werteten sie auch als Signal für Wandel und Zukunft - und die ist auch bei Europas größtem Versicherer digital.
Bei Siemens weht ebenfalls ein frischer Wind: Seit einem Start-up-Event vor einigen Monaten zeigt sich Konzernchef Joe Kaeser gelegentlich im offenen Hemd und Jeans - ähnlich wie beispielsweise Daimler-Chef Dieter Zetsche. "Bei uns kann jeder anziehen, was er will, es gibt keine Vorschriften", ließ Kaeser, der jahrelang in den USA arbeitete und dort auch seinen Geburtsnamen Josef Käser gegen die internationale Version eintauschte, kürzlich wissen. Und wenn doch mal ein Dresscode für eine Veranstaltung gelte, schreibe man es einfach auf die Einladung oder in die Tagesordnung.
Noch entspannter geht es VW-Digitalchef Johann Jungwirth an: "Ich bin J.J. Mich muss man nicht siezen", sagte der Manager kürzlich auf einem Automobilforum in München. Hierarchien seien ihm nicht wichtig - und das Duzen baue Hierarchien ab.
Mancher Mitarbeiter aber mag erstmal verwirrt sein von so viel Zwanglosigkeit. Feste Kleider- und Rangordnungen schaffen ja auch Sicherheit. Wer früher etwa zum Herrenausstatter ging, wusste, was er dort einpacken musste, sagt Hans Ochmann, Geschäftsführer bei der Personal- und Managementberatung Kienbaum. Heute dagegen hat man die Qual der Wahl: "Business Casual", "Smart Casual" oder gleich ganz "Casual" zur Firmen-Feier? Da kann man sich auch böse vertun, weiß Ochmann. "Es wird komplizierter", und gerade das mittlere Management, das die Vorgaben des Vorstandschefs mitmachen und ihm gefallen will, tue sich manchmal besonders schwer damit.
Über kurz oder lang dürfte sich der Trend aber überall durchsetzen. "Ich glaube, das ist keine kurzfristige Modeerscheinung", sagt Ochmann. Wichtigster Treiber dabei sei die Start-up-Kultur mit ihrer schnellen Ideen-Umsetzung abseits ausgetretener Pfade, die für viele Manager eine große Anziehungskraft besitze. Um sich einzureihen, imitiere so mancher Manager Kleidungsstil und Auftreten prominenter Köpfe aus der Szene - das könne schon etwas aufgesetzt wirken.
Weniger förmlich geht es auch beim Hamburger Versandhändler Otto zu: Dessen Vorstände boten der Belegschaft unlängst geschlossen das Du an. "Der Kulturwandel 4.0 macht auch vor der Anrede nicht Halt", hieß es in einem Schreiben an die Mitarbeiter. Barrieren, Hemmnisse, Hierarchien - all das solle aufgebrochen werden, erklärt Katy Roewer, die als Bereichsvorstand auch für Personalfragen zuständig ist.
Den Wandel muss Otto nun auch ins 400 Kilometer weiter südlich gelegene Weismain in Oberfranken tragen, wo der zur Gruppe gehörende Versandhändler Baur sitzt. Der versucht gerade, sich stärker zu spezialisieren, schneller und offener zu werden, um dem Druck der großen Konkurrenten im Online-Handel standzuhalten. Symbol dafür soll auch hier das "Du" sein, das Geschäftsführer Albert Klein kürzlich sogar Praktikanten bei einem Essen anbot. "Wenn man etwas älter ist wie ich, das geb ich offen zu, ist das auch eine Umstellung, die mir persönlich auch nicht immer so ganz leicht gefallen ist", räumt er ein.
Um seinen Status muss wegen solch neuer Sitten derweil aus Ochmanns Sicht kein Manager fürchten, der fest im Sattel sitzt. Der Wegfall eines Krawattenzwangs oder das "Du" ändere ja noch nichts am Machtgefüge in den Unternehmen. Hierarchien dürften mit der Zeit zwar etwas aufweichen, aber nicht ganz abgebaut werden, glaubt Ochmann. Auch wenn Mitarbeiter heute stärker einbezogen würden - wichtige Entscheidungen dürfte auch in Zukunft noch immer der Chef treffen. (dpa/ad)