"Es geht nicht darum, überall besonders coole Technologien einzuführen", sagt Michael Hilzinger über seine IT-Strategie. "Entscheidend sind die Effekte für das Business. Und die müssen messbar sein." Als er im Juli 2019 vom Klöckner-Konzern zu Knorr-Bremse wechselte, erwartete der neue Arbeitgeber eine IT-Transformation von ihm. Heute sei klar: "Diese Transformation muss weit über die Technologie hinausgehen und ein starkes Organizational-Change-Management beinhalten."
Zu seinen ersten Projekten gehörte "IT Northstar", die Entwicklung einer neuen IT-Strategie. Dahinter stehe die Vision, "dass die IT zum Teil des operativen Geschäfts wird", sagt der diplomierte Volkswirt. Es galt, die IT- aus der Unternehmensstrategie der Knorr-Bremse AG abzuleiten. Das 1905 in Berlin gegründete Unternehmen, laut eigener Darstellung der weltweit führende Hersteller von Bremssystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge, ist heute in München ansässig. Zum Portfolio gehören auch intelligente Einstiegssysteme, Klimaanlagen, Energieversorgungssysteme, Steuerungskomponenten und Fahrerassistenzsysteme. Mit knapp 30.000 Mitarbeitern in mehr als 30 Ländern erwirtschaftete die Knorr-Bremse AG im Geschäftsjahr 2020 einen Umsatz von 6,16 Milliarden Euro.
Digitalisierungsthemen wie Condition-Based Maintenance oder Robotic Process Automation (RPA) spielen für das Technologie-Unternehmen eine wachsende Rolle. Die Mission der IT dabei laute: "Enable the Business", erläutert der CIO. Die IT müsse sich zum Technologie-Partner für das operative Geschäft entwickeln und durch eine enge Verzahnung mit den Fachabteilungen die Digitalisierung von Produkten, Services und Prozessen vorantreiben. So könne sie beispielsweise dabei helfen, den aufwändigen Prozess der Garantiefallbearbeitung mithilfe von RPA zu automatisieren.
Für die IT-Northstar-Strategie definierte Hilzinger vier Kernelemente, die jeweils mit bestimmten Initiativen verbunden sind:
IT-Governance
Knorr-Bremse Technology Platform
Data Integration und Analytics
Konsolidierung und Modernisierung von IT-Anwendungen
Im Bereich IT-Governance gehe es darum, im Sinne eines "Strategic Alignment" Abstimmungsprozesse zwischen IT und Business zu definieren, erläutert der CIO. "Business und IT sollen zusammenwachsen." Ein anderer wichtiger Aspekt sind die sogenannten "Business Managed Applications". Dahinter steckt nichts anderes als die berüchtigte Schatten-IT.
Um das Thema in den Griff zu bekommen, definiert Hilzinger Regeln und Verantwortlichkeiten und will auf diese Weise mehr Transparenz schaffen. Keine leichte Aufgabe, denn die Anwendungslandschaft von Knorr-Bremse ist historisch gewachsen und durch zahlreiche Übernahmen in den vergangenen Jahren heterogener und komplexer geworden. Unterm Strich geht es um eine niedrige dreistellige Zahl von Anwendungen dieser Kategorie, die in unterschiedlichsten Bereichen zu finden sind, vom Einkauf über die Produktion bis hin zum Vertrieb.
Von Cloud-first zu Cloud-only
Ein weiteres Kernelement der IT-Strategie ist die "Knorr-Bremse Technology Platform". Hier steht die Cloud-Transformation auf allen Ebenen im Mittelpunkt, wie Hilzinger erläutert. Man wolle weg von der hergebrachten On-premises-IT: "Seit 2021 gilt die Devise Cloud-first, in Zukunft wird daraus Cloud-only." Die Initiative werde große Auswirkungen auf IT-Organisation, Rollen und Verantwortlichkeiten haben.
Dabei setze man insbesondere auf Cloud-native-Konzepte, statt einfach nur Anwendungen per "Lift and Shift" in die Cloud zu verlagern. Hilzinger: "Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Bereiche mitnehmen auf diese Reise." Derzeit arbeitet Knorr-Bremse hauptsächlich mit einem der großen Hyperscaler und nutzt diverse Plattformen und Services aus dessen Cloud. Auf mittlere Sicht will der CIO für bestimmte Bereiche weitere Cloud-Provider ins Boot holen.
Self-Service Analytics und Power BI bei Knorr-Bremse
Im Strategiefeld Data Integration und Analytics geht es vor allem um datengetriebene Geschäftsmodelle. Die IT stellt dafür divisionsübergreifend Backend-Infrastruktur und entsprechende Tools zur Verfügung. Ein Beispiel ist das Angebot für Condition-Based Maintenance (CBM) im Bereich Schienenfahrzeuge. Die IoT-Lösung (Internet of Things) sammelt und interpretiert Betriebsdaten von Zugsystemen wie Bremsen, Türen und Klimaanlagen. Sie sorgt dafür, dass notwendige Wartungsarbeiten, zum Beispiel aufgrund eines zu erwartenden Defekts, frühzeitig erkannt und erledigt werden können. Davon profitieren vor allem die Bahnbetreiber.
Die Data- und Analytics-Initiativen wirken aber auch nach innen, betont der CIO. Mit diversen Tools und Self-Service-Analytics-Angeboten trage die IT dazu bei, dass Mitarbeitende in den Fachabteilungen bessere Entscheidungen treffen können. Zum Portfolio gehört unter anderem Microsofts Analytics-Suite Power BI und SAPs Analytics Cloud, mit denen sich Geschäftsdaten analysieren und visualisieren lassen.
Last, but not least kümmert sich die IT im vierten Strategiefeld um die Konsolidierung und Modernisierung von IT-Anwendungen. "Wir wollen die Komplexität verringern und die Anzahl der Anwendungen reduzieren", sagt Hilzinger. Doch das sei erst der Anfang. Mit Blick auf die geplante S/4HANA-Migration gehe es auch darum, Prozesse unternehmensweit zu harmonisieren und zu standardisieren.
S/4HANA startet im Bereich Treasury
Die Umstellung auf das neue SAP-Kernsystem gehört zu den größten Vorhaben auf Hilzingers To-do-Liste. Er sieht darin ein "Transformationsprogramm für das gesamte operative Geschäft", das schon aufgrund der internationalen Aufstellung des Unternehmens besonders herausfordernd sei. In den zwei Divisionen für Schienen- und Nutzfahrzeuge kommt bis dato jeweils eine zentrale SAP-Instanz mit allen klassischen Modulen etwa für das Accounting, Materialwirtschaft und die komplette Supply Chain zum Einsatz.
Im Zuge der Migration will Hilzinger nicht nur Prozesse harmonisieren, sondern im Sinne eines umfassenden Change-Managements auch neue Prozesse einführen, die die veränderten Anforderungen der Fachbereiche besser abdecken. Am Ende gehe es dabei auch um Kostensenkung, räumt er ein.
Bereits abgeschlossen hat Knorr-Bremse die S/4HANA-Migration im Bereich Treasury (Finanzwesen und Risikomanagement). Das Unternehmen erhoffte sich davon unter anderem eine schlankere Systemlandschaft und mehr Automatisierung. "Wir wollten nicht zu viele Tools einsetzen und Systembrüche vermeiden", erklärt Kai Gloystein, Leiter des Bereichs, die Ausgangslage. Im Liquiditäts-Reporting der über 100 Standorte in mehr als 30 Ländern sei aufgrund der unterschiedlichen Systeme noch vieles per Hand erledigt worden. Um sich einen Überblick zu verschaffen, mussten Mitarbeitende viele einzelne Datensätze durcharbeiten und in Excel manuell aufbereiten. Allein dafür habe es nahezu eine Vollzeitstelle gebraucht.
Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung, Abläufe mithilfe von S/4HANA zu verbessern und gleich die neue Technologie zu nutzen. Zwar bietet SAP für das ältere Kernsystem ECC 6.0 noch bis 2027 Wartungsdienste an. "Wir haben jedoch den Eindruck, dass SAP wesentliche Neuerungen für das Treasury in S/4HANA vorantreibt", erläutert Gloystein. Weil die Treasury-Systeme auf einer separaten SAP-Maschine laufen, habe man die S/4HANA-Migration zunächst isoliert vom Rest der Knorr-Bremse-SAP-Landschaft organisieren können. Für die übrigen SAP-Systeme hat das Unternehmen ein Vorprojekt gestartet und vorbereitende Maßnahmen eingeleitet, beispielsweise im Bereich Warehouse Management. Die unternehmensweite Migration auf das neue Kernsystem soll 2023 starten.
Knorr-Bremse: Der CIO berichtet an den CEO
Jenseits solcher Großprojekte kümmert sich ein "Process Digitalization Council" um die diversen Digitalisierungsvorhaben. Das Gremium priorisiert Projekte anhand des zu erwartenden Return on Investment (RoI) und steuert sie anschließend in den Budgetprozess ein. Neben Vertretern der zwei Divisionen Rail und Truck sitzen auch der CEO, der CIO sowie der Verantwortliche für weltweite Digitalisierungsprojekte von Knorr-Bremse im Council. Bei letzterem handele es sich laut Hilzinger aber nicht um einen klassischen Chief Digital Officer. Vielmehr bilde die Funktion eine Klammer über alle Digitalisierungsvorhaben in den Bereichen und wirke vor allem koordinierend. Hilzinger selbst berichtet in seiner CIO-Rolle direkt an den CEO Jan Mrosik.
New Work und Flexdesk im Büro
Die IT der Knorr-Bremse AG ist nicht nur für den operativen Betrieb verantwortlich, sondern unterstützt auch New-Work-Konzepte. "Nicht erst seit Beginn der Pandemie ist das ein immer wichtigeres Thema geworden", so der CIO. "Unsere Aufgabe ist es, Remote Work und Mobile Work noch skalierbarer und sicherer zu machen."
Die organisatorischen Voraussetzungen für die neue Arbeitswelt hat das Management geschaffen. Eine Betriebsvereinbarung regelt beispielsweise, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland bis zu 40 Prozent ihrer Arbeit per Mobile Work erledigen können. In München entstand ein Gebäudekomplex mit einem Flexdesk-Konzept. Angestellte buchen ihre Arbeitsplätze online und werden von einer App zum Schreibtisch geleitet. Das Modell soll auch in anderen Büros umgesetzt werden.
Innovation Management bei Knorr-Bremse
Geht es um technische Innovationen, fährt Knorr-Bremse mehrgleisig. Im Februar 2020 gründete das Unternehmen die Entwicklungseinheit "eCUBATOR", in der das Know-how im Bereich E-Mobilität für Nutzfahrzeuge gebündelt wurde. Rund 60 interne und externe Experten arbeiten an den Standorten München und Budapest an neuen Lösungen. Ein Schwerpunkt liegt auf der zweiten Generation elektrisch angetriebener Nutzfahrzeuge, die voraussichtlich 2025 marktreif sein wird.
Ähnliche Einheiten gibt es auch in anderen Bereichen, darunter beim Tochterunternehmen Kiepe Electric, das sich mit E-Lösungen für einen emissionsfreien öffentlichen Nahverkehr beschäftigt. Hilzinger, der in seiner Zeit bei Klöckner auch Geschäftsführer der Digitaltochter kloeckner.i war, sieht in solchen "integrierten Innovationseinheiten" aber nur eine von mehreren Optionen: "Jeder von uns hat die Aufgabe, Innovationen voranzutreiben, sei es in der IT oder im Business."
Hürden und Learnings
Als Hilzinger 2019 bei Knorr-Bremse antrat, fand er eine gut ausgebildete und professionelle IT-Mannschaft vor. "Durch einige 'Trainerwechsel' in der Vergangenheit gab es aber eine gewisse Verunsicherung im Team", erinnert er sich. Deshalb sei es ihm zuerst darum gegangen, Stabilität und Vertrauen zu vermitteln. Seinen Führungsstil bezeichnet er als partizipativ und kooperativ: "Das war für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neu, denn nun hört der CIO erst den Experten zu, bevor er eine Entscheidung trifft."
Zu den ersten Hürden, die er nehmen musste, gehörte es, die wahrgenommene Rolle der IT als reinem Dienstleister zu verändern: "Früher galt die Devise: Das operative Geschäft bestellt und die IT muss zu günstigsten Kosten liefern." Um davon wegzukommen, sei viel Kommunikationsarbeit nötig gewesen. Hilzinger: "Als Technologie-Partner des Geschäfts muss die IT beraten und über Risiken und Nebenwirkungen von Architektur- und Softwareentscheidungen aufklären." Dazu brauche es Mut, der heute vorhanden sei.