"Digitalize the Core" - unter diesem Motto steht die IT- und Digitalisierungsstrategie von Siemens Healthineers, weltweit eines der größten Medizintechnikunternehmen mit rund 50.000 Mitarbeitern in 75 Ländern. Doch wer bei Core nur an Rechenzentren, Server und Backend-Anwendungen denkt, liegt falsch, stellt Stefan Henkel klar, der seit 2014 als Head of IT und CIO agiert. Digitalisiert würden die Kernprozesse insgesamt sowie alle Arbeitsplätze und die Security-Systeme. Auch der Kulturwandel in der IT-Organisation sei ein wesentliches Handlungsfeld.
"Die Digitalisierung transformiert das Gesundheitswesen", beschreibt Henkel die Rahmenbedingungen, auch wenn die Entwicklung im Healthcare-Sektor langsamer verlaufe als in anderen Branchen. Immer mehr digitale Komponenten ergänzten heute klassische Medizintechnik-Produkte aus Bereichen wie Bildgebung oder Labordiagnostik. Zugleich würden medizinische Leistungen individueller auf Patienten zugeschnitten.
Das Thema Daten gewinne in allen Bereichen enorm an Bedeutung, so der IT-Chef. Analytics- und Machine-Learning-Konzepte spielten dabei eine wichtige Rolle, beispielsweise in der Entscheidungsunterstützung für die Onkologie oder die Chirurgie. Henkel: "Die IT muss diese Entwicklungen aufnehmen und die digitale Transformation im gesamten Unternehmen in enger Verzahnung mit dem Business vorantreiben." Vor diesem Hintergrund entstand das Programm "Digitalize the Core" mit den vier Handlungsfeldern Innovation for Users, Applications & Processes, Cybersecurity und Digital Transformation of IT (DigIT).
Der User steht im Mittelpunkt
Im ersten Feld gehe es darum, den IT-Anwender ins Zentrum zu stellen, erläutert der CIO. So wird beispielsweise ein "IT Future Workplace" für die Mitarbeiter entwickelt, der auf Office 365 basiert. Henkel sieht darin weniger die klassische Office-Suite als eine Plattform für den Kulturwandel im Unternehmen. Mit integrierten Collaboration-Tools wie Teams oder Yammer soll sie die Zusammenarbeit und den Austausch der Mitarbeiter befeuern.
"Einfach ein Tool zur Verfügung zu stellen reicht nicht", gibt der gelernte Wirtschaftswissenschaftler zu bedenken. Entscheidend sei, ob und wie die Kollegen damit arbeiten könnten. Die IT habe deshalb in einem cross-funktionalen Projektteam, zusammen mit Kollegen aus Human Resources und der Kommunikation, das Change-Programm "Digital Together" entwickelt.
Es zeigt Mitarbeitern die Einsatzmöglichkeiten der Plattform, schult sie im Umgang mit den Tools und soll am Ende eine neue, kollaborative Arbeitsweise im gesamten Unternehmen fördern. Henkel: "Die Führungskräfte müssen diese Art des Arbeitens vorleben." In einem Video erläutern Siemens-Healthineers-Manager beispielsweise, wie sie die Plattform nutzen. Auf einer "Digital Safari" konnten Mitarbeiter an virtuellen Schulungen und Meetings zum Thema "Digitalize the Core" teilnehmen.
Den User in den Mittelpunkt stellen bedeutet für den IT-Chef auch, ihm das Leben leichter zu machen. Als Beispiel nennt er die zahlreichen Genehmigungs- und Freigabeprozesse im Unternehmen, die trotz Softwareunterstützung noch nicht ausreichend digitalisiert seien. Für mobile Anwender etwa seien etliche Systeme noch schwierig zu nutzen.
Handlungsbedarf sieht der CIO auch im Bereich User Support, der lange Zeit "sehr technisch über Self-Service-Funktionen" organisiert war. Die Nutzer seien damit nicht durchgängig zufrieden, formuliert er diplomatisch: "Es wurde klar, dass die User Experience auch in diesem Bereich besser werden muss." Nach dem Vorbild von Apple richtet Henkel "Meet IT Bars" im Unternehmen ein. Mitarbeiter bekommen dort persönliche Unterstützung bei IT-Problemen und dürfen dazu auch ihre mobilen Endgeräte mitbringen. Termine mit dem Support sollen künftig einfach per App vereinbart werden können, ohne lästige Anrufe und Warteschleifen in der Hotline.
Standardisierte Serviceprozesse
Ganz anders liegen die Herausforderungen im Handlungsfeld Applications & Processes. Henkel geht es hier vor allem um die "Durchgängigkeit von Prozessen" und um hochintegrierte End-to-End-Anwendungen, beispielsweise im Bereich Procurement und im Qualitäts-Management. Ganz oben auf seiner Prioritätenliste stehen einheitliche Serviceprozesse, ein Thema, das die IT zum Beispiel gemeinsam mit dem Customer-Service im Projekt "SENSE" (System of Engagement for a Network of Service Experts) vorantreibt.
Das Ziel ist ein umfassendes "Digital Service Management System", das technisch auf der Plattform von ServiceNow basiert. Siemens Healthineers stellt darauf beispielsweise auch Kundenserviceprozesse in standardisierter Form zur Verfügung. "ServiceNow bringt alle für das Service-Management benötigten Komponenten mit", lobt der IT-Chef. Mit agilen Methoden und wöchentlichen Sprints entwickelt das Team die von den Fachbereichen benötigten Funktionen. Über einen Integrations-Layer könne die ServiceNow-Plattform zudem mit anderen Cloud-basierten Anwendungen wie etwa Workday verbunden werden.
Mehr Ressourcen für Innovationen
Im Handlungsfeld Digital Transformation of IT (DigIT) lautet die zentrale Frage: "Wie machen wir die interne IT fit für die Herausforderungen in der Zukunft?", so Henkel. Dafür konzentriere man sich besonders auf die Kompetenzentwicklung der Mitarbeiter. Außerdem gehe es auch darum, den Betriebsaufwand durch verschiedene Maßnahmen zu verringern.
Dahinter steht ein Dilemma, das Henkel mit vielen seiner Amtskollegen teilt: Mehr Budget und zusätzliche Mitarbeiter gibt es nicht, trotzdem wachsen die Anforderungen an die IT stetig. Der Ausweg: "Wir müssen uns von klassischen IT-Aufgaben wie etwa Wartung und Betrieb befreien." Das gelte insbesondere für "reifere" Systeme. Bereits 2014 habe man begonnen, SAP-Systeme in einen professionellen Managed-Service zu überführen. Den kompletten Betrieb übernimmt dabei ein IT-Dienstleister. Ziel ist es, der IT Freiräume für andere Aufgaben zu schaffen.
Neben solchen Servicemodellen spielen Cloud-Konzepte eine Schlüsselrolle beim Umbau der IT. "Cloud Computing war das erste große Innovationsthema, das wir uns vorgenommen hatten", berichtet der IT-Chef. Schon zu Beginn der "Transformation Journey" im Jahr 2016 stellte er ein "Cloud-and-Innovation"-Team (CLI) auf, das heute rund 25 Mitarbeiter stark ist. Von Anfang an sei es aber auch darum gegangen, eigene Cloud-Kompetenzen aufzubauen, um Abhängigkeiten von Providern zu vermeiden.
Derzeit nutzt Siemens Healthineers unter anderem Services wie Compute und Storage sowie bei neuen IT- Services auch Cloud-native Funktionen von großen Cloud-Anbietern wie AWS und Microsoft. Bei der Cloud-Migration bestehender IT-Services geht es vorrangig noch um Software-Testing- und Trainingsumgebungen. Produktive Anwendungen werden überwiegend on Premise betrieben. Mit den Non-SAP-Systemen bewege man sich aber sukzessive in Richtung Cloud, betont Henkel. Über das eigene Programm "Ascend" sollen derzeit viele On-Premise-Anwendungen und Server in die Cloud migriert werden, ohne Kompromisse in der Sicherheit einzugehen.
RPA steigert die Effizienz
Ein weiteres Innovationsthema mit großem Effizienzpotenzial für Siemens Healthineers ist Robotic Process Automation (RPA): "Die Zeit ist reif für diese Technologie", sagt Henkel. Im Markt fänden sich mittlerweile viele gut qualifizierte Implementierungspartner und robuste Softwareapplikationen wie etwa UiPath oder Blueprism, die den Einstieg erleichterten. Unternehmensweit arbeiteten Experten derzeit an mehr als 100 RPA-Use-Cases, 25 davon seien schon im Betrieb. Der Fokus liegt hier in erster Linie auf klassischen Business-Prozessen, beispielsweise in der Auftragsabwicklung und im Kundenservice.
Data Lake in der Cloud
Einen wichtigen Erfolgsfaktor im Transformationsprozess nennt der CIO "Data Management for Analytics". Wie viele Unternehmen kämpft auch Siemens Healthineers noch mit heterogenen Datensilos. "Stammdaten vereinheitlichen ist deshalb das A und O", so Henkel. Um etwa einen 360-Grad-Blick auf alle Kundenprozesse zu erhalten, gelte es, Daten aus unterschiedlichsten Unternehmensbereichen zusammenzuführen und für Analytics-Zwecke nutzbar zu machen. Derzeit arbeiten Fachbereich und IT unter anderem mit einem On-Premise-Data-Warehouse auf Basis von SAP BW sowie der SAS Software Suite für Advanced Analytics. Zu den kurzfristigen Zielen gehört ein Cloud-basierter Data Lake als Grundlage für weitere Process-Analytics-Anwendungen.
Last, but not least muss Henkel auch das Thema Cybersecurity im Blick behalten. Schon seit geraumer Zeit gibt es im Unternehmen einen Chief Information Security Officer (CISO). Auf der Prioritätenliste stehen Projekte wie Privileged-Account-Management, Security Automation, Strategic Threat Intelligence und Network Segmentation. Am Herzen liegen Henkel aber auch neue Awareness-Programme, über die er insbesondere die Admins und Application Owner erreichen will.
Innovationen kommen von unten
Henkel berichtet bei Siemens Healthineers an Finanzvorstand Jochen Schmitz; zugleich gibt es einen engen Austausch mit dem Vorstand, den Geschäftsverantwortlichen und den anderen Funktionsleitern. Ein wichtiges Gremium für Henkels Arbeit ist das IT Executive Board. Hier sitzen Business- und IT-Verantwortliche an einem Tisch. In der Runde geht es laut Henkel kaum um Operatives, sondern um die strategische Ausrichtung, vor allem aber auch "um Innovationsthemen und wie wir damit umgehen".
In einem Großunternehmen wie Siemens Healthineers entstehen Innovationen oft außerhalb der Firmenzentrale, ist Henkel überzeugt. Der erste RPA-Use-Case etwa wurde in den USA entwickelt, ein zweites Projekt realisierten Kollegen in Japan. Der Anstoß für das Thema sei nicht aus der zentralen IT, sondern von Business-Verantwortlichen aus den Unternehmensbereichen gekommen. Henkel spricht in diesem Kontext von "Intelligent Automation". Ausgangspunkt sei stets die Frage: "Sind wir effektiv und sind wir schnell genug?"
Ein anderes Beispiel: Das Cloud-Thema sei zwar im Erlanger Headquarter beheimatet, doch die Arbeit der Kollegen strahle weit in andere Länder aus. Auch kommen viele der Experten aus den IT-Kompetenzzentren in Bangalore und in Bratislava. Henkel: "International haben wir mittlerweile mehr als 50 Cloud-Projekte abgeschlossen, mehr als 20 weitere sind in der Umsetzung." Dazu gehöre etwa die "Cloudifizierung" der Rechenzentren in Japan oder im US-amerikanischen Cary im Rahmen des globalen Cloud-Migration-Programms "Ascend".
Lessons Learned
Zu den größten Herausforderungen im Transformationsprozess gehört für Henkel, die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass Veränderungen notwendig sind. Offenheit, Transparenz und Selbstorganisation seien deshalb beim Entwickeln neuer Strategien und Programme wichtige Elemente. Das Change-Programm "Digital Together" etwa sei nicht top-down, sondern aus dem IT-Team heraus zusammen mit dem Business entstanden.
Die Entscheidung, frühzeitig das Thema Change-Management in den Mittelpunkt zu stellen, habe sich ausgezahlt, resümiert Henkel. Dazu zählten in der IT zum Beispiel der Wandel zu einer agilen Kultur, kontinuierliches Lernen, Kompetenz-Management und neue Formen der Zusammenarbeit. Unterschätzt habe man die zeitliche Dimension: "Die Technologien verändern sich noch dynamischer, als wir erwartet hatten." Die Folge: Aus der Digitalisierungsstrategie wurde eine "kontinuierliche Transformationsinitiative". Mit anderen Worten: Der Change-Prozess hört niemals auf.