Beim Henne-Ei-Problem geht es bekanntlich darum, dass das eine Voraussetzung für die Existenz des anderen ist und umgekehrt. Übertragen auf die Digitalisierung des Lernens und unserer Schulen bedeutete das in den zurückliegenden Jahren: Weil Hardwareausstattung im Baukörper und digitale Begeisterung im Lehrkörper zu wünschen übrig ließen, investierten die Hersteller von Lehrmaterial nur zögerlich in entsprechende Angebote. Und weil es softwareseitig zu wenige Angebote gab, fehlten den Schulen die Argumente, um eine zügige Verbesserung der technischen Ausstattung einzufordern.
Das mit der Begeisterung scheint sich gerade radikal zu ändern: Die meisten Lehrer in Deutschland wünschen mittlerweile einen zügigen Ausbau der IT-Infrastrukturen, wie eine aktuelle Befragung des Branchenverbands Bitkom ergab. Mehr als ein Drittel der Pädagogen hält die vorhandene IT-Ausstattung nur für mittelmäßig, viele bringen deshalb ihre eigenen Geräte mit in die Schule. Etwa die Hälfte der Lehrkräfte würde gerne häufiger elektronische Medien einsetzen. Vor drei Jahren, dem Zeitpunkt der vorigen Befragung, lehnten noch 23 Prozent der Lehrer elektronische Medien ab, aktuell sind es nur noch fünf Prozent.
Im Mittelpunkt: die Digitalisierung des Geschäfts
Gewünscht wird vor allem der Einsatz von Online-Medien als Ergänzung zu gedruckten Schulbüchern. Ein Unternehmen, das sich diese Botschaft zu Herzen nimmt, sind die Cornelsen Schulverlage aus Berlin. Sie gehen mit ihrer Lern- und Lehrplattform scook in Vorleistung. Das heißt sie schaffen ein Angebot, ohne damit sofort Geld zu verdienen, um so Lehrer und Schulen zu motivieren, ihre Hardwareausstattung zu verbessern und dem digitalen Lernen insgesamt die Türen weiter zu öffnen.
Bis scook, das in einigen Wochen gelauncht wird, Wirklichkeit werden konnte, war es ein weiter Weg. Und der begann vor mehr als drei Jahren. Damals entschied sich die Franz Cornelsen Bildungsgruppe als Dachgesellschaft der Cornelsen Schulverlage dazu, die Unternehmensstruktur zu straffen und sich von mehreren Aktivitäten zu trennen. Die Bildungsgruppe schrumpfte; im vergangenen Jahr gab es dann auch im Bereich des Kerngeschäfts - also bei den Schulverlagen - Entlassungen und schlechte Presse.
Im Zentrum der Veränderungen stand die Digitalisierung des traditionsreichen Geschäfts. Passend dazu entstand eine einheitliche IT-Infrastruktur, erstmals wurde ein CIO installiert. Die Aufgabe übernahm Michael von Smolinski, der zuvor acht Jahre bei der Drägerwerk AG tätig war und noch früher bei Siemens und KPMG.
Vier IT-Abteilungen an einem Standort
Seine neue Herausforderung bei Cornelsen war anspruchsvoll. Durch organisches Wachstum und Zukäufe war über die Jahre nur ein Dickicht von Anwendungen entstanden, sondern auch eine IT-Managementstruktur, deren Glieder sich gegenseitig mehr behinderten als unterstützten. "Bei uns war fast alles, was in diesem Umfeld auf dem Markt war, in Betrieb", erzählt von Smolinski. "Und in Berlin gab es vier unterschiedliche IT-Abteilungen, die nicht miteinander sprachen."
Wandel musste radikal ausfallen
Der Wandel musste also relativ radikal ausfallen, wollte der CIO die ganze Organisation fit machen für die Zukunft. Von Smolinski zog Anwendungsseitig zwei Ebenen ein, wobei die Bauarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen sind. Die erste Ebene - betriebswirtschaftliche Standardaufgaben und Kommunikation - besteht in erster Linie aus SAP und Microsoft-Produkten; hier ist zum Bespiel Sharepoint im Einsatz oder auch Lync. Auf der zweiten Ebene - branchenspezifische Lösungen, zum Beispiel im Bereich CRM - kommt eine Reihe von Eigenentwicklungen zum Einsatz, darüber hinaus ebenfalls Anwendungen von Microsoft. Von Smolinski: "Wir haben unzählige Anwendungen rausgeworfen und die IT-Betriebskosten am Ende in etwa halbiert."
Die Zukunft der Schulbücher und der Bildungsmedien liegt in weiterer Digitalisierung, hier waren sich der CIO und die anderen Führungskräfte des Unternehmens von Beginn an einig. Und scook soll der maßgebliche Beschleuniger dieser Entwicklung werden - nicht nur für Cornelsen, sondern für Deutschlands gesamte Bildungslandschaft.
Virtuelle Arbeitsplätze für Lehrer
Die Plattform stellt erstens bekannte und eingeführte Lehrbücher für alle Bundesländer, Fächer und Klassen in digitaler Form zur Verfügung. Dazu gibt es Extra-Funktionen, beispielsweise einen crossmedialen Online-Auftritt zum zeitgemäßen Lernen und Lehren. Dieses Angebot ist für alle, die das entsprechende Buch bereits in gedruckter Form besitzen, kostenlos.
Zu den für den Start rund 350 digitalen Lehrbüchern gibt es - das ist die zweite Kernfunktion von scook - umfassendes Unterrichtsmaterial für Lehrer, das mit dem entsprechenden Lehrwerk verknüpft ist. Auch Tools zur effizienten Unterrichtsplanung hält scook zukünftig bereit. So können digitale Buchseiten bearbeitet und für den Unterricht vorbereitet werden. Jede Lehrerin hat einen geschützten virtuellen Arbeitsplatz auf der Plattform, auf dem alle digitalen Materialien abgelegt und von jedem beliebigen Standort aus wieder aufgerufen werden können. Und natürlich können auch die Schüler mit Hilfe der Technik ihre Aufgaben jederzeit und überall erledigen, sogar via Smartphone.
Agile Ansätze statt Plan-Build-Run
Um die Plattform mit ihren komplexen Querschnittsfunktionen möglichst zielgruppengerecht konstruieren zu können, nutzten Michael von Smolinski und sein Team vor allem agile Ansätze statt des klassischen Plan-Build-Run. Das heißt sie lieferten während der Entwicklung so früh wie möglich ausführbare Teile des Systems, die dann parallel zur weiteren Entwicklung getestet und bei Bedarf korrigiert wurden. Von Smolinski: "Wir haben inkrementell in kurzen Zyklen gearbeitet, immer wieder unsere Hypothesen mit Test-Usern, vor allem Lehrern, abgeglichen. Die wichtigste Frage war dabei: Wie genau nutzt ihr dieses, wie nutzt ihr jenes?"
Arbeiten in cross-funktionalen Teams
Die Entwickler arbeiteten über Abteilungsgrenzen hinweg in cross-funktionalen Teams. Insgesamt dauerte die Entwicklung von scook - von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt - etwa zwei Jahre. Wobei die Bezeichnung "fertig" eigentlich irreführend ist, denn eine Plattform wie scook soll sich natürlich permanent weiterentwickeln. Eine Reihe von Fragen ist auch noch nicht abschließend beantwortet; beispielsweise betrifft das die Frage, wie Angebote von Cornelsen-Partnern, also von Inhaltelieferanten, die über scook zusätzliche Funktionen für Lehrer oder Schüler bereitstellen, in Zukunft abgerechnet werden.
"In den nächsten Monaten wird es darum gehen, unser Baby gesund in die Pubertät zu bekommen. Wir sehen uns immer wieder an, wie solche Lösungen in anderen Ländern funktionieren, auch davon wollen wir lernen", sagt Michael von Smolinski. "Wie genau werden die zukünftigen Anwendungsszenarien aussehen? Das könnten wir heute noch nicht wissen."
Kern bleiben die Inhalte
Wichtigstes Business-Fundament für die Cornelsen-Schulverlage bleiben die eigenen, perfekt aufbereiteten und zertifizierten Lerninhalte. Diese Inhalte so in die digitale Zukunft zu überführen, dass man weiterhin damit Geld verdient, das ist die zentrale Herausforderung für das Unternehmen.
Michael von Smolinski rät auch anderen Unternehmen, sich frühzeitig mit dem Thema Digitalisierung auseinander zu setzen, das ist seine wichtigste Lehre aus dem scook-Projekt. "Wir haben die Sache gerade noch rechtzeitig in Angriff genommen. Voraussetzung für erfolgreiche Digitalisierung sind gut strukturierte Daten und die perfekte Kontrolle der eigenen Wertschöpfungskette."
Cornelsen sucht wieder IT-Mitarbeiter
Wie schnell sich scook und das gesamte Unternehmen weiterentwickeln werden, hängt auch vom Personal ab. Cornelsen sucht nach den Entlassungen wieder "wie wild" Leute, Entwickler vor allem. Ob der attraktive Standort Berlin und das ebenfalls attraktive Thema eLearning? Von Smolinski: "Der Markt ist schlicht leergefegt. Die Anderen sind ja auch in Berlin und suchen auch, zum Beispiel die Gaming-Branche. Außerdem denken Entwickler vermutlich nicht als erstes an Schulbuchverlage, wenn sie einen neuen Job suchen." Scook könnte dazu beitragen, dass sich das ändert.