"Corona hat den Prozess der Digitalisierung beschleunigt", sagt Dirk Ramhorst, CIO und CDO der Wacker Chemie AG. Im Unternehmen gehe es jetzt weniger um "Ideation", also das Generieren neuer Ideen, sondern mehr um die Realisierung konkreter Vorhaben. Dazu gehören mehrere digitale Leuchtturmprojekte, die der Chemiekonzern mit Hauptsitz in München angestoßen hat. So arbeitet Wacker beispielsweise an Predictive-Maintenance-Szenarien für Standardkomponenten wie Getriebe, Pumpen und Kompressoren, die in der Fertigung eingesetzt werden. In der Produktionssteuerung ("Advanced Process Control") setzt Ramhorst verstärkt auf Analytics und Machine Learning, um Prozesse zu optimieren.
2017 stieß der CIO das Programm "Wacker Digital" an. Das langfristige Ziel: Innerhalb von zehn Jahren soll sich der Konzern zum digitalen Leader in der Chemieindustrie entwickelt haben. Die Initiative umfasst drei Kernbereiche:
Digitales Frontend: Hier geht es um alle marktzugewandten Themen, beispielsweise Kundenportale, Digital Commerce und neue Geschäftsmodelle.
Operations: Darunter fällt die Digitalisierung aller Prozesse und Workflows, einschließlich Forschung und Entwicklung.
Foundation: Damit sind die Grundlagen der digitalen Transformation gemeint. Dazu gehören nicht nur neue Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und Data Analytics, sondern auch das Engagement aller Mitarbeiter.
Zum Bereich Foundation gehört auch das Teilprojekt "Digital Workplace", das 2019 abgeschlossen wurde. Die IT führte dabei unter anderem konzernweit Office 365 ein. In puncto Collaboration setzt Ramhorst auf eine "Dual Vendor Strategy" und nutzt sowohl Webex von Cisco als auch Microsoft Teams. Den Umgang mit den neuen Tools lernten die Mitarbeiter in Schulungen und über digitale Self-Service-Angebote.
2019 organisierte die IT dazu eine internationale Digitalisierungs-Roadshow. Ein Effekt der Collaboration-Systeme war schon lange vor Corona sichtbar, berichtet Ramhorst: "Es gab deutlich weniger Geschäftsreisen. Mit Beginn der Pandemie verstärkte sich dieser Trend."
In der Krise habe sich der digitale Arbeitsplatz bewährt, sagt der CIO. Bereits im Februar stellte Wacker einen Contingency-Plan auf, Anfang März wechselten fast 7.000 Mitarbeiter ins Home Office. Trotz technischer und organisatorischer Herausforderungen sei der Umzug reibungslos verlaufen, so Ramhorst.
Wie sieht das neue Normal aus?
Das Thema Digital Workplace umfasst nicht nur technische Aspekte. Schon früh beschäftigte sich Dirk Ramhorst mit dem Büro der Zukunft. Seit November 2019 engagiert er sich als Sprecher der Themenplattform Arbeit 4.0 für das Zentrum "Digitalisierung. Bayern" der bayerischen Landesregierung. Einschlägige Pilotprojekte liegen bei Wacker wegen der Corona-Pandemie aber erstmal auf Eis. Ramhorst: "Für uns lautet die Frage aktuell: Wie sieht das Neue Normal nach der Krise aus?"
Dass nicht ständig alle Mitarbeiter im Büro sein müssten, habe man in den vergangenen Monaten gelernt. Selbst Kollegen, die dem Home Office kritisch gegenüberstanden, hätten ihre Meinung geändert. Eine weitere wichtige Erkenntnis: "Die Produktivität am Arbeitsplatz zu Hause ist viel höher als ursprünglich angenommen." Ramhorst kann sich vorstellen, dass in Zukunft nicht mehr für alle Angestellten ein fester Arbeitsplatz vorgehalten wird. Um das vorhandene Raumangebot effizient zu nutzen, könne man beispielsweise mit Überbuchungen arbeiten.
Dass sich auch komplexe IT-Projekte in der Krise remote steuern lassen, bewies der CIO mit der Migration auf S/4 Hana. Die letzte Phase des schon seit eineinhalb Jahren laufenden Projekts steuerten die zuständigen ITler aus dem Home Office. Ramhorst: "Dazu gehörten die kompletten letzten Funktions- und Integrationstests sowie die eigentliche Migration an einem Wochenende. Am 1. Mai waren wir mit dem neuen System live."
Cloud-First-Strategie
Geht es um Infrastruktur und Business-Applikationen, verfolgt der CIO eine Cloud-First-Strategie. Im Rahmen der "Cloud Journey" des Unternehmens werde für alle neuen Systeme zunächst geprüft, ob ein Cloud-Betrieb möglich ist. Insbesondere ältere betriebswirtschaftliche Anwendungen sollen schrittweise in die Cloud migriert werden. Für die Public Cloud sprächen vor allem die Skalierungsmöglichkeiten, erläutert der IT-Chef. "Die haben uns in der Krise sehr geholfen."
Cloud-First bedeute aber nicht Cloud-Only: Je näher eine Anwendung an der Produktion sei, desto eher werde sie im eigenen Haus betrieben. Als produzierendes Unternehmen und Zulieferer, etwa für die Pharmabranche, gehöre Wacker zur kritischen Infrastruktur in Deutschland, so Ramhorst. Die Produktion müsse auch während der Corona-Pandemie weiterlaufen: "Wir können uns keine Ausfälle leisten, die etwa durch Connectivity-Probleme in der Cloud entstehen." In einigen Bereichen setze man verstärkt auf Edge Computing. Viele Daten werden dabei direkt vor Ort ("am Edge") verarbeitet und müssen nicht in eine Cloud-Infrastruktur transferiert werden.
IT Governance bei Wacker
Die Doppelrolle als CIO und Chief Digital Officer mit direktem Berichtsweg zum Vorstand hilft dem CIO, seine Vorhaben umzusetzen. Eine zentrale Rolle im Transformationsprozess spielt das Digital Board, in dem neben dem CIO auch zwei Vorstände und vier Geschäftsführer aus verschiedenen Wacker-Unternehmensbereichen sitzen.
Innovationen entstehen nicht zuletzt im Digital Lab am größten Wacker-Standort in Burghausen. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie arbeite man dort unter anderem an der Verzahnung von Automatisierung und Digitalisierung, erläutert Ramhorst. Das Lab sei "eine Spielwiese, auf der wir experimentieren und Neues ausprobieren können."
Lessons Learned
Die größte Herausforderung beim digitalen Umbau ist weniger die Technik, resümiert der CIO. "Es geht darum, die Mitarbeiter ins Boot zu holen und sie von den digitalen Möglichkeiten zu überzeugen." Das habe viel Energie gebraucht und auch "einen Tag länger gedauert als gedacht". Erfolgskritisch sei zudem ein viel bewussterer Umgang mit Daten. Für jeden größeren Konzernbereich gebe es mittlerweile eine maßgeschneiderte Datenstrategie, so Ramhorst. Darin sei beispielsweise geregelt, wo Daten liegen und wie sie zusammengeführt und geschützt werden. Auch das Thema Data Governance spiele eine wichtige Rolle: "Dazu gehört beispielsweise, Daten Owner zu definieren und Spielregeln aufzustellen, an die sich alle halten müssen."
Der schon etwas abgegriffene Slogan "Daten sind das neue Öl" trifft es nicht mehr, sagt Dirk Ramhorst - auch mit Blick auf den Klimaschutz. Heute müsse es heißen: "Daten sind das neue Wasser. Und ohne Wasser kann man nicht leben." Diese Erkenntnis müsse in vielen Unternehmen noch reifen.