"2017 starteten wir unsere Reise in die Cloud," berichtet Axel Schell, CTO der Allianz Deutschland. "Wir hatten uns relativ spät für eine neue Plattform entschieden. Als Versicherer verarbeiten wir viele sensible Kundendaten und wollten deshalb warten, bis die Datenschutz- und Sicherheitsfunktionen der Cloud unseren Anforderungen genügen." Ähnlich vorsichtig ging die Allianz auch die ersten Schritte an.
Als Pilotprojekte entwickelte die IT zunächst mehrere Minimum Viable Products (MVPs) im Frontend für den Kundenkontakt. Damals verwendete das IT-Team jedoch noch keine persistente Datenspeicherung in den neuen Services. Schell: "Der Vorteil aus der Sicherheitsperspektive war, dass wir die Anwendungen zwar in der Cloud betreiben und rechnen lassen konnten, die Daten aber weiterhin On-Premises gespeichert haben." So sammelte die IT Erfahrungen mit der Technologie und ließ gleichzeitig Sorgfalt bezüglich des Datenschutzes walten.
Nachdem die Testballons erfolgreich waren, verlagerte die Allianz-IT systematisch weitere Frontend-Systeme in die Cloud. Bis Ende 2020 wollte das IT-Team alle Anwendungen im Kundenkontakt aus dem Rechenzentrum auf Cloud-Plattformen migriert haben. Gleichzeitig arbeiteten die Experten daran, auch die Infrastruktur im Backend und die Datenhaltung in die Cloud zu verlagern. 2020 migrierte die Allianz etwa 700 Server, sodass mittlerweile rund 70 Prozent aller Unternehmensanwendungen in der Public Cloud laufen.
Datenbanken wandern in die Cloud
2021 sollen mehrere hundert Datenbanken folgen. "Mit den Tools, die uns die Cloud zur Verfügung stellt, können wir einfacher Analytics-, KI- und Business-Intelligence-Funktionen nutzen oder dispositive Daten für Prognosen erstellen," so der IT-Chef. Zudem seien die für die Public Cloud angebotenen Datenbanken kostengünstiger als diejenigen traditioneller Anbieter, ließen sich einfacher verwalten und liefen stabiler.
Schell: "Mit unseren On-Premises-Datenbanken hatten wir viele komplexe Verbindungen vom Front- ins Backend. Das machte die Verwaltung und Fehlersuche aufwendig. In der Cloud rücken Datenbank und Anwendung näher zusammen, wodurch die Architektur einfacher und fehlertoleranter wird."
Darüber hinaus könne die Allianz mit der neuen Cloud-Plattform Fachkräften ein attraktives Arbeitsumfeld bieten. "Entwickler wollen mit modernen Tools und Methoden arbeiten. Das geht nur in der Cloud", ist der CTO überzeugt. "Dort können wir zum Beispiel auch im Datenbank-Umfeld Continuous Delivery und Integration einsetzen."
Cloud First wird Standard
Um den Weg in die Cloud auch strategisch zu ebnen, überarbeitete die Allianz Deutschland 2019 ihre IT-Strategie grundlegend. "Darin ist unter anderem festgehalten, dass die Cloud für alle Anwendungen als Standardplattform gilt," erläutert Schell. "Soll etwas dennoch on-Premises ausgerollt werden, muss das begründet werden. Vorher war das umgekehrt."
Die Allianz Deutschland verfolgt eine Multi-Cloud-Strategie. Schell: "Wir nutzen zwei große Anbieter, dadurch haben wir im Bedarfsfall die Möglichkeit, schnell zu wechseln." Dazu gehört auch ein umfangreiches Sicherheitskonzept, das den regulatorischen Anforderungen an die Versicherungsbranche genügt und mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) abgestimmt ist.
Einige Teile der Infrastruktur hält der Versicherer dennoch im eigenen Haus vor. Das sind zum einen Anwendungen, für die sich die klassische Wasserfall-Entwicklung eher eignet als agile Methoden. Zum anderen betrifft es alte Anwendungen, die in ein paar Jahren abgeschaltet werden und für die sich eine Migration nicht mehr lohnt. "Abgesehen davon machen wir aber so weiter wie bisher und bringen so viel wie möglich in die Cloud", erklärt Schell. "Unser Ziel ist es, nur noch maximal eine zweistellige Anzahl an Servern im Rechenzentrum zu betreiben."
20-mal weniger Störungen
Die Kennzahlen des Cloud-Betriebs können sich sehen lassen: Mit der neuen Plattform gibt es laut Schell rund 20-mal weniger IT-Störungen als vorher: "Durch eingebaute Redundanzen und verschiedene Regionen, über die wir unserer Architektur verteilen können, ist die Cloud wesentlich stabiler und widerstandsfähiger als das alte On-Premises-Rechenzentrum."
Zudem ließen sich Probleme schneller und einfacher beheben. Ein Beispiel: Tritt bei einer Anwendung ein sogenanntes Memory Leak auf, belegt es zwar einen Teil des Arbeitsspeichers, nutzt ihn jedoch nicht und gibt ihn auch nicht frei. Dadurch verliert die App an Leistung. Damit sie trotzdem weiterläuft, muss Rechenleistung zugeschaltet werden, während die IT gleichzeitig nach einer Lösung für das Problem sucht.
Im eigenen Rechenzentrum kann es dauern, bis die nötige Hardware in Betrieb geht. Währenddessen sinken die Leistungsdaten der Anwendung, und das Business stockt. In der Cloud dagegen lassen sich sofort Ressourcen zuschalten, sodass normal weitergearbeitet werden kann.
"In solchen Fällen skalieren wir für ein paar Stunden den Arbeitsspeicher für die Anwendung nach oben, bis der Fehler behoben ist," erklärt Schell. "Anschließend schalten wir die zusätzlichen Ressourcen einfach wieder ab. Der Nutzer merkt von dem ganzen Vorgang nichts, und das Geschäft kann normal weiterlaufen."
IT-Strategie bottom-up
Cloud Computing ist ein Kernbestandteil der 2019 neu entwickelten IT-Strategie der Allianz. Diese sollte für alle Mitarbeiter transparent sein. "Wir wollten, dass jeder die IT-Strategie kennt und versteht, nicht nur die IT-Abteilungen," erläutert der CTO. Sie wurde deshalb nicht hierarchisch von oben vorgegeben, sondern "bottom-up" erarbeitet. Schell: "2019 waren alle Mitarbeiter eingeladen, mitzuhelfen. Abteilungen oder Hierarchiestufen spielten dabei keine Rolle. Das Wichtigste war, dass die Kollegen Lust hatten, die IT-Strategie mitzugestalten."
Nach knapp 20 Workshops in neun Monaten stand das neue Rahmenwerk. "Dieses Vorgehen kam sehr gut bei den Mitarbeitern an. Insgesamt hat etwa die Hälfte der gesamten Belegschaft an dem Projekt mitgearbeitet," erinnert sich Schell. Das habe zwei Vorteile: Zum einen sei die neue Strategie direkt mit und aus dem Business entstanden, wodurch die IT automatisch am Geschäft ausgerichtet sei. Zum anderen unterstützten alle Fachabteilungen strategische IT-Initiativen, neue Technologien und Veränderungen, da sie sie selbst mitgestaltet hätten.
Nachdem die IT-Strategie stand, wurde sie in drei Versionen formuliert. "Die komplette Strategie umfasst knapp 60 Seiten. Das ist das Nachschlagewerk für die IT, in dem beispielsweise auch rechtliche Anforderungen festgehalten sind," erklärt der IT-Chef. Für die Mitarbeiter außerhalb der IT gibt es einen Fünfseiter, der die strategischen Eckpunkte im Business-Kontext detailliert erklärt. Schell: "Daneben haben wir einen Einseiter - sozusagen der Elevator-Pitch - der das Wichtigste auf einen Blick zusammenfasst."
Laut dem Dokument ist die IT-Strategie eng mit der Geschäftsstrategie der Allianz Deutschland verzahnt. Wichtigste Aufgabe der IT ist es, Business Enabler zu sein. Technisch soll die IT-Architektur so einfach wie möglich gehalten werden, während sie offen für neue Entwicklungen bleibt. Wo es sinnvoll ist, soll agil in crossfunktionalen Teams gearbeitet werden. Zudem liegt bei allen Initiativen ein Schwerpunkt auf Informationssicherheit.
Jedes Jahr will die Allianz ihre Strategie aktualisieren. Insbesondere Bereiche, die nicht bereits von den Aufsichtsbehörden kontrolliert werden, sollen dabei überprüft und nachgebessert werden. Dazu gibt es ein internes Kontrollsystem, das sicherstellen soll, dass die Verzahnung von IT- und Unternehmensthemen funktioniert und mit den Zielen der gesamten Allianz-Gruppe in Einklang steht.
Digital Factory als agiler Nukleus
Bereits seit 2016 experimentiert die Allianz Deutschland mit agilen Methoden. Damals gründete das Unternehmen die "Digital Factory". Dort sollten neben digitalen Services auch DevOps-Methoden entwickelt und in die gesamte Organisation getragen werden. Bis 2019 brachte das Projekt rund 20 neue Softwareprodukte in den Betrieb und schuf etwa 560 agile Arbeitsplätze.
Darüber hinaus erarbeiteten Mitarbeiter der Digital Factory in knapp drei Jahren das agile Framework für die Allianz Deutschland. "Wir wollten uns dabei nicht an irgendwelche Vorgaben halten, sondern für die Allianz einen Weg zur Agilität finden, der zum Unternehmen passt," erklärt Schell. Dazu adaptierte das Team bekannte agile Methoden oder entwarf neue. Das Framework selbst ist ebenfalls nach agilen Prinzipien aufgebaut, sodass die Arbeitsmethoden ständig überprüft und überarbeitet werden.
Die Digital Factory setzt auf "Learning by doing" statt Schulungen. Mitarbeiter lernen agile Methoden und Tools anhand realer Abläufe ihres Fachbereichs kennen. Angeleitet von erfahrenen Kollegen gehen sie in die neuen crossfunktionalen Teamstrukturen über. "Wir nehmen uns dafür viel Zeit," erklärt Schell. "Je nach Abteilung und Umfeld dauert die Ausbildung zwischen zwölf und 18 Monaten."
Agile@Scale
Vor der neuen IT-Strategie rief die Allianz Deutschland 2019 auch die Initiative "Agile@Scale" aus. Agile Methoden aus der Digital Factory sollen damit schrittweise in einem Großteil der IT-Abteilungen sowie in anderen Unternehmensbereichen eingeführt werden. Seitdem ist die Zahl der Mitarbeiter, die in crossfunktionalen Teams arbeiten, auf über 1.500 angestiegen. Büroräume wurden umgebaut, um der neuen Arbeitsweise gerecht zu werden.
Schell: "Beispielsweise sitzen Entwickler und Sachbearbeiter für einen Schadenprozess dort nebeneinander. So sieht jeder sofort, wo es auch auf Kundenseite Probleme oder Verbesserungspotenziale gibt, und es wird gemeinsam daran gearbeitet." Damit verkürze sich die Zeit bis zur Marktreife neuer Produkte, die Kundenzufriedenheit steige. Unterm Strich ergäben sich für die Allianz bessere Wachstumschancen.
Komplexität reduzieren
Eines der nächsten großen Projekte Schells und seines Teams dreht sich darum, Komplexität zu reduzieren. "Die Allianz Deutschland ist dabei, ihr Kerngeschäft stark zu vereinfachen und ihr Tarifsystem zu entschlacken," erklärt er. "Da muss die IT mitziehen und Komplexitäten in den Systemen abbauen." Der Schritt in die Cloud helfe dabei, weil die Architektur dort simpler aufgebaut werden könne. Gleichzeitig sollen viele Altsysteme sukzessive abgeschaltet werden.
Darüber hinaus entwickelt die Allianz-IT eine einheitliche digitale Plattform für die verschiedenen Sparten des Konzerns. Sie soll nicht nur in Deutschland eingesetzt werden, sondern auch international. Einige Pilotprojekte wurden bereits angestoßen: "Der in Deutschland entwickelte neue Privatschutz wird beispielsweise auch schon in anderen Ländern genutzt," so Schell. "In dem System sind Module hinterlegt, mit denen weltweit Produkte einheitlich gebaut werden können. Das wollen wir in Zukunft für alle unsere Produkte so machen."