Der Weg zu Karl Marx führt vorbei an lauter Kapitalisten. Das Londoner Viertel Highgate ist eine bevorzugte Wohngegend der Superreichen, die sich hier gern in "gated communities" einmauern. Der Eintritt kostet vier Pfund (4,60 Euro). Dafür gibt's einen Lageplan mit den wichtigsten Gräbern des Friedhofs. Ein einziger Name ist darauf rot eingezeichnet: "Marx".
Schon von weitem sieht man das riesige Haarknäuel zwischen den Bäumen aufragen. Noch ein paar Schritte, dann steht man vor dem Bronzekopf, den im Jahr 1956 die Kommunistische Partei Großbritanniens errichten ließ. Manche behaupten, er würde finster unter den buschigen Brauen dreinblicken, aber eigentlich wirkt er gutmütig. Wenn auf dem Sockel nicht "workers of all lands unite" (Proletarier aller Länder, vereinigt euch) stünde, könnte man fast glauben, dass hier der Weihnachtsmann begraben liegt.
Wer sich die Zeit nimmt, einen Nachmittag bei "Charlie" zu verbringen, kommt schnell zu dem Schluss: 200 Jahre nach seiner Geburt in Trier am 5. Mai 1818 und 29 Jahre nach dem Mauerfall ist Karl Kult. Alle paar Minuten wird man gebeten, jemanden zu fotografieren, denn Selfies sind vor dem Riesenklotz nicht ganz einfach. Blumen, Grablichter und eine frische Ananas lehnen am Sockel. Der Strom der Besucher reißt nicht ab. Die meisten von ihnen sind jung, und sie kommen aus allen Teilen der Welt.
Comeback nach der Finanzkrise
Seit der Finanzkrise 2008/2009 erlebt Marx ein Comeback. Das hängt auch damit zusammen, dass ihn mittlerweile eine neue Generation entdeckt hat, die den Kalten Krieg nicht mehr bewusst miterlebte. Für sie ist Marx weder Messias noch Mephisto - sondern einfach ein interessanter und relevanter Wirtschaftsphilosoph.
So gibt es im "Kommunistischen Manifest" manche Stelle, deren Bedeutung Marx' Zeitgenossen rätselhaft erschienen sein dürfte, nicht aber Lesern des 21. Jahrhunderts. "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände" sagte Marx schon 1848 voraus, als in deutschen Landen die Industrialisierung noch gar nicht stattgefunden hatte.
Auch war ihm schon klar: "Die Bourgeoisie hat durch die Ausbeutung des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet." Das klingt wie eine Vorwegnahme der heutigen Globalisierung.
Bestätigt wurde Marx auch in seiner Annahme, dass der Kapitalismus zur Konzentration neigt, zur Herausbildung einiger weniger weltumspannender Unternehmen. Seine Krisentheorien seien derzeit wieder "hochaktuell", sagt der frühere Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. Und nicht nur viele wirtschaftliche Entwicklungen sah Marx richtig voraus, auch das kulturelle Zusammenwachsen. "Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut", war seine Überzeugung - lange vor Hollywood, Madonna und den Schlümpfen.
Marx' größter Irrtum
Marx' größter Irrtum bestand wohl darin, dass er die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzte. Eben weil die "besitzende Klasse" um 1900 kommunistische Umstürze fürchtete, kam sie den Arbeitern entgegen, indem sie sie in das kapitalistische System einband: per Ausweitung des Wahlrechts und Sozialreformen. Zu der von Marx erwarteten Revolution ist es so - jedenfalls im Westen - nie gekommen.
Indes würde er heute wohl entgegnen, dass sich der Billiglohnsektor nur in Länder außerhalb Europas verlagert hat: "Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol", schreibt er im "Kapital". Man könnte das etwa als Beschreibung moderner Ausbeutungsfabriken in Ländern wie Bangladesch lesen.
Dazu kommt, dass sich der Sozialstaat in vielen westlichen Ländern zurückzieht. Ein Grund für das wiedererwachte Interesse an Marx dürfte die wachsende Schere zwischen Reich und Arm sein. Von etwa 1930 bis 1980 sei dieses Verhältnis in etwa stabil geblieben, führt der französische Star-Ökonom Thomas Piketty in seinem Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (2014) aus.
In Konkurrenz zum kommunistischen Ostblock betrieben fast alle kapitalistischen Staaten eine aktive Umverteilung: "Wer weiß heute noch, dass in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts der höchste Einkommenssteuersatz in den USA bei über 90 und in Großbritannien fast bei 100 Prozent lag - auch wenn das in diesen Höhen letztlich keiner bezahlt hat?", fragt Jürgen Neffe in seiner neuen Marx-Biografie.
Politiker wie US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher vollzogen dann die Wende zurück zum "reinen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts", wie Piketty es ausdrückt. Die Thesen des Franzosen sind umstritten, aber eines wird man in jedem Fall feststellen können: Die Frage, die Marx sein ganzes Leben beschäftigt hat - wie können die zur Verfügung stehenden Mittel gerecht verteilt werden? - ist heute genauso aktuell wie auf dem Höhepunkt der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.
Was würde man dafür geben, Marx noch einmal leibhaftig zu treffen! Genau das dachte sich 1878 ein Reporter der "Chicago Tribune" und besuchte ihn für ein Interview in seinem Haus in der Maitland Park Road 41 in London. An der Stelle steht heute ein Block mit Sozialwohnungen, es leben dort viele Migranten - ganz so wie der aus Köln eingewanderte Marx einer war. An der Tür wurde der Reporter von Haushälterin Lenchen Demuth empfangen, die er als "ehrwürdig aussehende Deutsche" beschrieb.
Frau Demuth schritt voran, der Journalist folgte ihr. Es ging durch einen Flur und dann in ein Zimmer, das ringsum mit Bücherregalen gefüllt war. Und da saß er dann: "gut gebaut, breitschultrig, von aufrechter Haltung" - Karl Marx persönlich. Durch sein Monokel blickte er den Besucher prüfend an.
Das Interview wurde zunächst nicht von dem Journalisten geführt, sondern von Marx. Er fühlte erst vor, ob er sein Gegenüber als Gesprächspartner überhaupt ernst nehmen konnte. Mit Kleingeistern und Ungebildeten gab er sich gar nicht erst ab.
Der Reporter bestand den Eignungstest - und Marx gab seine anfängliche Zurückhaltung auf. Wenn man es erst einmal so weit geschafft habe, dann "entfaltet er für den interessierten Besucher sein Wissen um Menschen und Dinge auf der ganzen Welt", schilderte der Zeitungsmann.
Als guter Journalist stellt er seinem Interviewpartner auch kritische Fragen. "Herr Dr. Marx, Sie möchten natürlich gern das ganze System mit Stumpf und Stiel ausgerottet sehen?" Marx zögert kurz, dann erwidert er: "Wir wissen, dass Gewaltmaßnahmen unsinnig sind."
Der Reporter hakt nach: Habe er denn nicht gesagt, dass in verschiedenen Ländern erst Blut vergossen werden müsste, um den Systemwechsel herbeizuführen? Marx lächelt: "Man braucht kein Sozialist zu sein, um vorauszusehen, dass es in Russland, Deutschland, Österreich und möglicherweise in Italien zu blutigen Revolutionen kommen wird."
Eine ausweichende Antwort. Der Journalist scheint sich am Ende auch nicht sicher gewesen zu sein, wie er Marx nun einschätzen musste. Der Cheftheoretiker des Sozialismus war ein höchst widersprüchlicher Mensch. Er war ein Superhirn der damaligen Wirtschaftswissenschaft, aber mit Geld umgehen konnte er gar nicht: Die meiste Zeit war er abhängig von Zuwendungen seines besten Freunds Friedrich Engels. Marx wetterte gegen religiöse Doppelmoral, hielt das uneheliche Kind mit seiner Haushälterin Lenchen Demuth aber ängstlich geheim.
Nicht zuletzt entwarf er ein politisches Programm zur Abschaffung der Bourgeoisie, legte aber selbst größten Wert auf einen bürgerlichen Status samt Dienstboten, Urlaub am Meer und Klavierunterricht für die Kinder. Er plante die Diktatur des Proletariats, hatte aber kaum je Kontakt zu Arbeitern. Die wenigen Begegnungen endeten meist mit einem Fiasko. So, als er mal auf der Straße einen Streit schlichten wollte, die Arbeiter dann auf ihn losgingen und an seinem schönen Bart zogen.
Wer also war Karl Marx? Jede Generation wird darauf wohl wieder eine andere Antwort geben. Gültig bleibt, was Engels bei der trostlosen Beerdigung auf dem Friedhof von Highgate 1883 gesagt hat: "Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!" (dpa/ad)