Irgendwann in den 70er-Jahren kippte das System: Der Funktionsumfang von Softwareprogrammen und das Leistungsvermögen ihrer Anwender entwickelten sich rasant auseinander. In einem verzweifelten Versuch, den Riss zu kitten, wurden Benutzerhandbücher verfasst - mit mäßigem Erfolg. Geschrieben von Entwicklern, Priorität null, in der Regel niemals aktualisiert und ohne Ansatz eines Layouts. Dann brach das Zeitalter der Benutzerschulungen und des User-Supports an. Beide Aufgaben werden inzwischen bevorzugt ausgelagert. Handbücher wurden ohnehin noch nie gelesen.
So kann es nicht weitergehen, dachte sich Volkswagen-CIO Martin Hofmann. Euphorisiert von der Bedienbarkeit eines iPads, ließ sich der Manager zur Wette mit dem CIO-Magazin hinreißen, "dass es in zehn Jahren in Unternehmen keine Systemschulungen, keine User-Manuals und keinen IT-Helpdesk mehr gibt." Statt wie gewohnt bei Hardware und Software alles auszureizen, was die Technik hergebe, liege die große Herausforderung darin, die User Experience zu perfektionieren. "Als IT-Verantwortliche", sagt Hofmann, "stehen wir vor einem großen Paradigmenwechsel - wir stimmen eine Software nicht mehr nur auf einen Prozess ab, sondern vor allem auf ihre Nutzer."
Der Volkswagen-CIO glaubt daran
Unterstützung verspricht sich CIO Hofmann durch "User Centered Design" und "Design Thinking". Dies sei keine Oberflächenkosmetik, sondern verändere die interne Zusammenarbeit mit Kunden und Partnern und "unterstützt uns, Innovationen zügig zu erschließen". Während sich die "nutzenorientierte Gestaltung" des User Centered Designs in den vergangenen 20 Jahren etabliert hat, bildet Design Thinking seit einigen Jahren eine Art Update davon. Beide sind leicht unterschiedliche Vorgehensmodelle für den Innovationsprozess, die mehrere Phasen durchlaufen, den Nutzer im Mittelpunkt haben, auf Wiederholungen (Iterationen) basieren und den Bau von Prototypen propagieren. Es geht darum, Barrieren in Schnittstellen zu verwandeln.
Für die IT interessant ist in jüngster Zeit vornehmlich das Design Thinking, auch weil sich SAP-Mitgründer Hasso Plattner für das Konzept engagiert und in seinem Potsdamer Hasso-Plattner-Institut (HPI) eine eigene School of Design Thinking (D-School) gegründet hat. "Design Thinking ist ein junges Pflänzchen", sagt Professor Ulrich Weinberg, der Leiter der Schule, an der in den vergangenen Jahren rund 600 Absolventen neben ihrem normalen Studium in Design Thinking ausgebildet wurden - bei 170.000 Studenten allein in Berlin "ein Tropfen auf den heißen Stein".
Mittlerweile habe jedoch immerhin die Hälfte der deutschen Konzerne die Methode auf dem Schirm. Gemeinsame Projekte und Trainings für Studenten und Executives sollen die Innovationskraft verbessern, sagt Weinberg: "Wir geben eine Antwort auf den zunehmenden Veränderungsdruck, den alle Unternehmen und öffentlichen Institutionen spüren." Firmen könnten keine großen, langfristigen Strategien mehr entwickeln, da sie Produkte, Services und Geschäftsprozesse permanent wieder neu definieren müssten. "Design Thinking zielt darauf ab, eine Organisation neu aufzustellen und zu strukturieren."
Das Konzept setzt auf einen iterativen Prozess, doch geht es im Grunde um die Arbeits- und Innovationskultur im Unternehmen, sagt Weinberg: "Wir öffnen die Köpfe für vernetztes Denken." Statt um die Leistung und Kreativität von Einzelnen geht es um gemischte Teams, die Aktivierung beider Gehirnhälften, das Scheitern und nicht zuletzt um Räume, die ein Team im Design-Thinking-Prozess gezielt unterstützen. Hier finden sich Ruhezonen, bewegliche Stehtische und Whiteboards, Materialien, eine Werkstatt - "ein Kindergarten für Erwachsene". Das vertrage sich natürlich nicht mit dem normalen Arbeitsalltag, allein weil Lego und Playmobil als "Werkzeug" in den wenigsten Bestellsystemen eingepflegt sind.
Vor allem überkommene Denkstrukturen werden von Weinberg kritisiert, er nennt es "Brockhaus-Denken": "Unsere altmodischen Arbeits- und Denkstrukturen passen nicht mehr in eine vollständig vernetzte Welt, denn sie trennen, anstatt Gedanken zusammenzuführen." Schließlich würden die spannenden Momente und Innovationen nicht in den Schubladen, sondern an den Schnittstellen entstehen. "Der Innovationsschritt darf daher nicht Aufgabe einer Gruppe bleiben, die für Innovationen im Unternehmen zuständig ist", argumentiert der Leiter der D-School. Um dem Veränderungsdruck standhalten zu können, müsse sich jeder Mitarbeiter als Innovator sehen und sich kundenorientierter verhalten, als er es bislang gemacht hat - und bislang machen konnte.
Martin Hofmann - Die Wette zum Thema Design Thinking
"Ich wette, dass es in zehn Jahren in Unternehmen keine Systemschulungen, keine User-Manuals und keinen IT-Helpdesk mehr gibt", schrieb Volkswagen-CIO Martin Hofmann ins CIO-Jahrbuch 2013. CIO Hofmann hat sich viel vorgenommen bis 2023 - und sich keine Freunde im eigenen Servicedesk gemacht. Nutzer hingegen dürfte die Aussicht freuen, eines Tages mit Programmen zu arbeiten, die intuitiv bedienbar sind. Es genüge nicht mehr, so Hofmann, Hardware und Software zu designen: "Die große Herausforderung ist es, die gesamte User Experience dabei zu perfektionieren." An jedem Kontaktpunkt müssten zeitgemäße Anwendungen die Erwartungen des Anwenders zumindest erfüllen - möglichst sogar übertreffen. Dies sei bei Consumer-Produkten schon lange so, argumentiert der VW-CIO. "In der Business-IT setzt sich der Gedanke der kompromisslosen Nutzerorientierung erst nach und nach durch." Unterstützung verspricht sich Hofmann auf diesem Weg durch die Methode des "Design Thinking" - ein relativ junger Ansatz, durch den der Innovationsprozess auch im Bereich "ernster" IT neu gestaltet werden soll. Mit der SAP AG als Anwender und ihrem Mitgründer Hasso Plattner als Hochschulförderer hat die Methode starke Unterstützer. Das Problem: Man kann Design Thinking nicht auf Knopfdruck installieren. Schließlich geht es auch darum, einen Kulturwandel in Organisationen herbeizuführen. Denn mit den alten Verfahren, so die Argumentation, würden sich in der vernetzten Welt keine erfolgreichen Produkte und Services mehr entwickeln und verkaufen lassen. |
"Phase der Synthese"
Design Thinking wurde seit den 1990er-Jahren entscheidend von der Design- und Innovationsagentur Ideo geprägt. "Gestalten und Denken sollten keine Gegensätze sein", sagt Anne Pascual, Design Director bei Ideo in München. Schon frühzeitig in den Phasen der Inspiration und Entdeckung werde beim Design Thinking immer wieder nachgedacht, zurückgestellt und die Perspektive gewechselt. Schließlich sei es nicht damit getan, den Nutzer zu befragen und seine Antworten direkt in Produkte zu gießen: "Wir brauchen eine Phase der Synthese, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten interpretiert werden."
Auf die Enterprise-IT übertragen bedeutet dies für Pascual etwa intuitiv bedienbare und selbsterklärende Interfaces: "Die Barrieren müssen abgebaut werden." Produkte wie das iPad hätten schnell zu einer starken Veränderung der mentalen Modelle von Anwendern geführt, die nun erwarten, dass auch ihre beruflichen Applikationen einfach zu nutzen sind. "Das stellt natürlich hohe Anforderungen an die IT-Departments." Design Thinking könne dabei helfen, einen neuen Anfang zu finden - etwas, das es noch nicht gegeben hat oder dessen erfolgreiche Umsetzung bislang unmöglich war. Der Fokus liegt dabei im Zentrum der drei Faktoren Kundenbedürfnis, Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit.
"Unternehmen werden es sich in Zukunft nicht mehr leisten können, die Bedürfnisse ihrer Nutzer zu vernachlässigen" - auch Cornelia Horsch geht davon aus, "dass sich zunehmend Produkte und Services durchsetzen, die sich durch bedienungsfreundliche und selbsterklärende Interfaces auszeichnen". Die Leiterin des Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ) bezeichnet Design Thinking als "wunderbare Methode, innerhalb kurzer Zeit und in gemischten Teams neue Lösungsansätze und innovative Ideen zu entwickeln". Zwar könne sie nicht die Arbeit eines Designers oder einer Designerin ersetzen, aber die "Loslösung von festgefahrenen Denkmustern" bewirken.
Horsch zufolge spiele die Ästhetik unserer alltäglichen Umgebung eine große Rolle, aber gutes Design sei kein Selbstzweck - wie und in welchem Zusammenhang wird das Objekt genutzt, welche Eigenheiten und Gewohnheiten haben die Menschen, was wird intuitiv verstanden? "Gutes Design geht immer vom Menschen aus - egal ob es sich dabei um einen Stuhl, eine Software oder einen Fahrkartenautomaten handelt", sagt die IDZ-Leiterin. Zentrale Herausforderung in der Produktentwicklung sei die Kooperation zwischen Designern (Schnittstelle zum User) und Entwicklern (technische Umsetzung): "Nur wenn beide Seiten frühzeitig zusammenarbeiten und sich Form und Inhalt in enger Abstimmung entwickeln, läuft der Prozess rund."
Das ist auch ein Ziel von Falk Uebernickel, Assistenzprofessor für Informations-Management an der Universität St. Gallen. Hier kommen seit 2005 Betriebswirte und Ingenieure, Studenten und Unternehmen durch Design Thinking zusammen. "Wir haben den Innovationsbereich von Produkten auf Dienstleistungen, Geschäftsmodelle und Geschäftsprozesse ausgeweitet", sagt Uebernickel. Zentrales Element sei der Mensch in Verbindung mit der allgegenwärtigen IT: "Dadurch drehen sich Lieferketten um - statt schlicht ein Produkt vorgesetzt zu bekommen, steht der Mensch mit seinen Geräten künftig am Anfang und liefert Informationen für die Unternehmensprozesse."
VW ohne Autos?
Viele Manager und Organisationen täten sich schwer mit der Veränderung, die gravierende Folgen nach sich ziehen kann. "Wer weiß, ob VW in 20 Jahren noch Autos als Kernprodukt bauen wird?" Aus dem Fahrzeug wird Mobilität, aus Software ein Service, aus Handel Logistik.
Eine Folge des Drucks sei die "Atomisierung der Anwendungen", prognostiziert der Wissenschaftler: "Früher hat man hochintegrierte Programme entwickelt mit möglichst breitem Funktionsumfang." Heute seien viele kleine Systeme nötig, die möglichst einfach zu bedienen, zu verändern und nicht komplex sind. "Wozu dann noch User Manuals und Helpdesks?" In Zukunft würden sich Schnittstellen zwischen zwei Systemen in kürzester Zeit herstellen lassen, für die derzeit noch gewaltige Projekte aufgesetzt werden. "Zwar sind die Systeme heute noch nicht ausgehärtet", sagt Uebernickel, "aber in zehn Jahren haben wir eine komplett andere IT-Landschaft mit neuen Architekturen."
Das Versprechen ist groß, doch fällt es schwer, die Chancen der Wette konkret zu beurteilen: einerseits der starke Wunsch der Nutzer nach guten Lösungen auch in der "ernsten IT" sowie der steigende Druck auf die Unternehmen, andererseits Silostruktur, Bequemlichkeit und die Angst vor Veränderungen. Dass die Design-Thinking-Experten auf der Seite von VW-CIO-Hofmann stehen, ist nicht verwunderlich. Angesichts der aktuellen Verbreitung der Methode ist aber auch klar, dass Design Thinking allein den gewaltigen Paradigmenwechsel nicht gestalten kann.
D-School-Leiter Weinberg sieht die Schulungen und Projekte denn auch als "Keimzellen, die auf Unternehmen, andere Mitarbeiter und somit die Arbeitskultur ausstrahlen". Einem Unternehmen wie SAP sei inzwischen jedoch klar, sagt Weinberg, dass es heutzutage ein Produkt nicht mehr isoliert definieren kann. "Die Kompetenz der Kunden muss für die finale Entwicklung mit an den Tisch." Nur so könne sichergestellt werden, dass ein Produkt oder ein Service die Arbeit richtig unterstützt.
"Diesem Gedanken muss sich jede Business-Software beugen", erwartet Design-Direktorin Pascual von Ideo. Wenn Schulungen wegfallen und Aufgaben schneller erledigt werden, sei das zudem ein beträchtlicher Wettbewerbsfaktor. Hinzu komme die gesteigerte Freude an der Arbeit durch benutzerfreundliche Programme. Natürlich könne ein Unternehmen seine Produkte und Services auch ohne professionelles Design gestalten und hoffen, dass dies bei einer starken Nachfrage nicht auffalle, argumentiert Design-Expertin Horsch vom IDZ: "Wenn aber die Märkte enger und die Rahmenbedingungen strenger werden, trennt sich die Spreu vom Weizen."