PHARMA-FORSCHUNG

Das Gen-Google

03.12.2001 von Andreas Schmitz
Mit einem neuen Suchsystem finden Forscher Angriffspunkte für Wirkstoffe schneller als je zuvor. Das Instrument soll die Entwicklung von Medikamenten effizienter und günstiger machen.

THURE ETZOLD ist Vollblutwissenschaftler - und ein Biologe,dem Computer keine Angst einflößen: ideale Voraussetzung, umdie Bioinformatik zu seinem Thema zu machen. Vor zehn Jahrenahnten nur wenige, dass das Management von immensenDatenmengen einmal eine Schlüsselaufgabe in derMedikamenten-Entwicklung sein würde. Damals baute Etzold alsDoktorand am Heidelberger Max-Planck-Institut fürZüchtungsforschung bereits an einem Programm für dasDatenbank-Management - dem Sequence Retrieval System (SRS).Damit ließen sich zunächst ein paar biologische Datenbankenbequem und schnell durchforsten. Heute nimmt es, seit dreiJahren vom Münchner Unternehmen Lion Bioscience vermarktet,Genforschern und Pharma-Firmen in aller Welt viel Arbeitab. Darüber hinaus hilft es, bei der Entwicklung neuerMedikamente Millionen einzusparen. Nach einer Studie vonUBS Warburg verringert sich die durchschnittlicheEntwicklungszeit neuer Medikamente dank Datenbanktechnik umdie Hälfte. Sie filtert Angriffspunkte für neue Wirkstoffeaus über 500 Verzeichnissen.

Das Ziel von Unternehmen wie Biomax, Lion Bioscienceund auch dem Baseler Gentechnikspezialisten Genedata:eine Art Telefonverzeichnis für Gene zu schaffen, in demdie einzelnen Genabschnitte, die Sequenzen und derenZusammensetzung benannt sind - egal aus welcherQuelle die Information stammt. Auch "Expressionsdaten"der Gene zu ihrer Funktion im Gesamtverbund sollendort zu finden sein.

Schneller neue Medikamente

Allerdings ist noch nicht klar, welches Konzept sich amMarkt durchsetzen wird. Nach Ansicht von Ulrich Meyer, demProjekt-Manager Life Science bei Sun Microsystems,verspricht die Suche auf der Dateienebene (wie mit SRS vonLion oder Bio-RS von Biomax) den größten Erfolg. SRS seizehn- bis zwölfmal schneller als herkömmliche relationaleDatenbanken beispielsweise von Oracle. Grund: "RelationaleDatenbanken belasten andere Systeme, sind aufParallelrechnern zu träge, und das Zusammenspiel zwischenHard- und Software ist schwierig", urteilt Meyer, der alsSoftware-Berater für die Pharma-Industrie tätig ist."Besonders die erste Periode (drei Jahre) in dem zehn biszwölf Jahre dauernden Zyklus der Medikamenten-Entwicklungwird sich durch Nutzung effizienter Suchsysteme erheblichverkürzen", schätzt Meyer. Während bei relationalenDatenbanken Informationen in Tabellen gesucht werden, istSRS ein Abfragesystem, das auf Textdateien zugreift. DieInformationen, die in einer Datenbank gespeichert sind,passt SRS an und legt sie als Textdateien ab. Trotzdem sindalle Detailinformationen da, und die Suche ist erheblichschneller.

Von Open Source zum Mega-Deal

Etzold dachte zunächst "nicht einmal im Traum" daran, seineerste Version, damals als Open-Source-Software freiverfügbar, eines Tages wirtschaftlich zu nutzen. Das SRS ausdem Jahr 1992 steht inzwischen im Antiquitätenschrank desEuropean Molecular Biology Laboratory in Heidelberg - derweltweit größten Herberge für biologische Datenbanken, ausder sich Etzold während seiner Doktorarbeit bediente. Vordrei Jahren war die Software reif für den Markt. DieHeidelberger Firma Lion Bioscience überzeugte Etzold, ausseinem Programm ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Heutezahlen Hersteller wie die deutschen Pharma-Konzerne Bayerund Boehringer und die amerikanischenBioinformatikspezialisten von Celera oder Affymetrix für diesechste Version von SRS - je nach Anzahl der Nutzer -Lizenzgebühren zwischen 50000 und 500000 Euro.

Etwa achtzig Prozent der etwa 600 Gendatenbanken und dieHälfte der derzeit 400 Analyse-Tools lassen sich mit SRSdurchforsten. Der Leverkusener Pharma-Konzern Bayer vertrautdem Suchsystem: Im Forschungszentrum von Lion Bioscience inCambridge im US-Bundesstaat Massachusetts ist SRS ständig inAktion und sucht für Bayer Angriffspunkte für neueWirkstoffe im Menschen. 300 dieser Targets haben die 25Mitarbeiter in zweieinhalb Jahren aufgespürt, die erstenMedikamente auf den Weg gebracht. "Das Forschungszentrum istunsere Target-Pipeline", so Etzold, der als ManagingDirector für Lion Bioscience im englischen Cambridge dieSoftware weiterentwickelt und die 180 Lizenznehmerunterstützt.

350 neue Patente auf menschliche Targets

IT-Chefs in Pharma-Unternehmen haben aber die Wahl, denn esgibt alternative Angebote, die keine globalen, sondernmaßgeschneiderte Suchsysteme beinhalten. So testet derLeverkusener Pharma-Produzent Bayer neben Lions SRS auch einKonzept des Schweizer Bioinformatik-UnternehmensGenedata. "Wir nehmen die Datenbanken, die Unternehmennutzen wollen, und integrieren sie", erläutert Andreas Hohndie Individuallösung. Zudem soll ein Expertensystementstehen, in dem auch die Bedeutung einzelner Gene erfasstwird.

150 neue Angriffspunkte sind das Ergebnis von drei JahrenArbeit mit dem Target-Identifikationssystem Phylosopher vonGenedata. "Ziel war es, neue Angriffspunkte bei Bakterien zufinden, die gegen Medikamente resistent waren", sagtHohn. Targets im Menschen zu finden ist da einfacher:Schließlich ist das menschliche Genom mit zirka 30000 Genenetwa sechzigmal umfangreicher als das von Bakterien. 150Patente für wirkungsvolle Antibiotika sprechen jedenfallsfür das intelligente Datenbank-Management von Genedata.

Doch Etzold lässt sich nicht beirren. Er ist überzeugt vonden Fortschritten seines inzwischen sehr komplexenProgramms: "Dennoch ist das, was ich mache, nur ein Tropfenauf den heißen Stein - wenn man bedenkt, wie wenig darüberbekannt ist, was in der Zelle tatsächlich passiert, welcheStoffwechselprozesse noch unbekannt sind." In diesemAugenblick legt Etzold für einen Moment seineInformatik-Affinität ab und wird ganz Biologe. Doch zuspät. Sein Programm ist schon weltweit bekannt und aus derPharma-IT nicht mehr wegzudenken.