Auf dem Nationalen IT-Gipfel vor zwei Jahren haben CIOs erstmals eigene Forderungen erhoben. Vor dem Gipfel 2010 in Dreden zeigte sich: Die Erwartung, dass die Anwender mit einer Stimme ihre Interessen einbringen würden, wurde enttäuscht. CIO berichtete über den "CIO-Ärger vor dem IT-Gipfel". Aber auch aus anderen Richtungen gibt es Kritik und Vorschläge, wie man es besser machen könnte.
CIO.de: Herr Maurer, in welcher Funktion haben Sie den IT-Gipfel in den vergangenen Jahren begleitet?
Boris Maurer: Ich habe bis zum Sommer dieses Jahres bei McKinsey gearbeitet, war dort Partner und habe mich dort vor allem in der IT- und Kommunikationsbranche getummelt. Ich habe auch große Erfahrung bei der Beratung im Öffentlichen Sektor gesammelt. In verschiedenen Zusammenhängen konnte ich dabei helfen, den einen oder anderen IT-Gipfel mit vorzubereiten.
CIO.de: Der letzte Gipfel war im Dezember in Dresden. Wie hat sich der IT-Gipfel entwickelt?
Maurer: An dem Gipfel funktioniert ganz gut, dass die Industrie und die Politik über die wesentlichen Themen miteinander ins Gespräch kommen. Es gibt ja immer vorbereitende Runden, in denen diskutiert wird. Die Grundidee der IT-Gipfel geht auf die Erkenntnis zurück, dass der Hightech-Standort Deutschland seine Eigenständigkeit und seine Substanz verliert. Man wollte zusammen darüber nachdenken, - auch ein bisschen visionär -, was der Standort braucht, um Deutschland als eine führende Hightech- und IT-Industrie in Europa und der Welt zu bewahren und weiterzuentwickeln. Eigentlich sollten hier die wesentlichen Standards für komplexe ICT-Lösungen entstehen und nicht in Asien oder den USA. Wir brauchen nicht ein SAP, sondern mehrere. Nur: Diese Idee ist eigentlich nicht aufgegangen.
CIO.de: Warum nicht?
Wahrscheinlich hat es nicht funktioniert, weil so ein Gipfel dafür gar nicht das richtige Instrument ist. Man kann Visionen in Gremien mit den Führungskräften der gesamten Industrie mit so einen breiten Portfolio an Themen schlecht vorantreiben. Man muss Vorschläge, die schon zu Ende gedacht sind, wahrscheinlich in einem kleineren Kreis präsentieren und dort diskutieren und vereinbaren. Wenn Sie alle Wettbewerber an einen Tisch setzen, können Sie nicht erwarten, dass hinterher zum Beispiel ein belastbarer Rahmen etwa darüber herauskommt, wie man Glasfaser in Deutschland ausrollen kann.
Wenn man die Softwareindustrie zusammen mit Hardwarevertretern und der TK-Industrie an einen Tisch setzt, dann kann man einfach nicht davon ausgehen, dass sie sich auf Standards einigen. Denn es verfolgen alle ja auch ganz kurzfristige und sehr spezifische Interessen.
CIO.de: Was schlagen Sie also vor?
Sie müssen zwei Dinge machen: Man muss erstens trennen zwischen Fragen zum Tagesgeschäft und den Fragen zu den Vorstellungen vom Standort. Sehr viele Diskussionen betreffen kurzfristige Dinge. Die haben auf dem Gipfel nichts zu suchen. Umsetzungsthemen gehören da genau dann hin, wenn sie echte Leuchttürme für den Standort betreffen - etwa München oder Berlin insgesamt zur „Smart City" umzubauen. Das ist der zweite Punkt, den der Gipfel bisher nicht leistet - einige wenige Themen zu nehmen, ganz konkrete Vorschläge mit einer Finanzierungsidee und einem Umsetzungsrahmen auf den Tisch zu legen und dann zu schauen, wer was beitragen kann, um das hinzubekommen.
Beispiel Glasfasernetz
CIO.de: Wollen Sie nun das Visionäre in den Vordergrund stellen – oder ganz pragmatische Dinge besprechen?
Maurer: Ich glaube, es sind zu viele Interessen und Meinungen im Spiel, insbesondere, wenn es ums Tagesgeschäft geht. Ich halte es auch nicht für falsch, wenn man sich zunächst um die Visionen kümmert, um dann etwas Konkretes zu tun. Ein Beispiel: Die Diskussion in allen Foren dreht sich immer darum, wie es mit der Regulierung im heutigen Telekommunikationsnetz aussieht. Wie viel Geld darf die Telekom für die Teilnehmeranschlussleitung bekommen, und was hat das mit den Investitionsbedingungen der Wettbewerber zu tun? Das ist eine Diskussion, bei der es immer um das alte Netz geht.
Wir wissen aber, dass es dort keine neue Wertschöpfung gibt, es ist ausgereizt. Da wird zwar noch der eine oder andere ein paar Euro mit einem IPTV-Angebot verdienen, es wird aber mit dem alten Kommunikationsnetz keine neue Wertschöpfung geben. Sie sinkt im Gegenteil jedes Jahr um einige Milliarden Euro - bis 2020 um etwa 40 Prozent. Das heißt: Wir brauchen ein neues Netz. Das alte Netz ist egal. In Deutschland wird bis 2015 nach Erhebungen des Bundesverbandes Glasfaseranschluss aber nur eine Milliarde ins Glasfasernetz investiert. Das bedeutet, wir haben dann eine Penetration von 1,7 Millionen Haushalten, das sind immerhin fünf Prozent. In Japan gab es Ende 2009 jedoch schon 17 Millionen angeschlossen Haushalte, zehnmal so viel also, wie bei uns bis zum Jahr 2015 geplant sind.
Die grundsätzliche Frage lautet doch: Kann ein Standort, der in der Infrastruktur weit unten rangiert, noch wirtschaftlich bedeutend sein und bei der Verteilung von neuer Wertschöpfung mitspielen? In einer Zeit, in der alle Schlüsseltechnologien IT-getrieben sind. Die Antwort ist eindeutig: nein. Deswegen muss man ganz konkret einen Plan auf den Tisch legen, der aufzeigt, wie man in den kommenden Jahren in Deutschland eine Glasfaser-Penetration von 30 oder 50 Prozent hinbekommen kann, um dann zu diskutieren, wie man ihn umsetzt. Und nicht andersherum: Mal schauen, wie weit wir kommen, wenn wir diskutieren.
CIO.de: Sind Sie enttäuscht von dem IT-Gipfel-Prozess?
Maurer: Ja. Die IT- und die Telekommunikationsindustrie in Deutschland ist insgesamt gar nicht so groß. Die Wertschöpfung liegt bei 60 Milliarden Euro, das ist insgesamt, wenn man sich das Bruttosozialprodukt von 2500 Milliarden anschaut, gar nicht so viel. Aber sie stellt einen gewaltigen Hebel für die Allgemeinheit dar. Ein Drittel bis zur Hälfte des Produktivitätszuwachses einer entwickelten Volkswirtschaft geht zurück auf die IT- und Telekommunikationsinfrastruktur. Wenn wir hier keine Revolution anzetteln - das hatte ich mir zu Beginn des Gipfelprozesses eigentlich erhofft -, dann werden wir, bezogen auf die künftige wirtschaftliche Entwicklung, verlieren.
Der falsche Ansatz
CIO.de: Haben Sie hier Hoffnung auf eine Wende?
Maurer: Ein Punkt, der immer wieder beklagt wird, ist, dass bei diesem Prozess mehr und mehr die Politik und weniger die Industrie die Feder führt. Das ist normal, wenn dort nichts Neues entsteht und die Unternehmen die Hoffnung verlieren, dass es dort zu einem Durchbruch kommt. Das ist aber der falsche Ansatz. Es wird nur dann funktionieren, wenn es so wird wie am Anfang, als ein Kagermann oder ein Obermann ein paar Themen vom Tisch genommen und auf höchster Ebene mit der Politik konkrete Vorschläge besprochen hat: Wie setzen wir es um? Und nicht die grundsätzliche Diskussion darüber geführt wurde: Was setzen wir um? Wir brauchen eine Agenda, mit der man nicht zu kurz springt.
CIO.de: Was sagen die Kollegen dazu?
Maurer: Die IT- und TK-Industrie hat kein Bedürfnis, dieses Ding kaputt zu reden, denn positiv ist doch: Wir haben eine Kanzlerin, die Physikerin ist und die uns versteht. Wir haben seit langer Zeit an der Spitze der Regierung jemanden, der sich mit dem Thema beschäftigt. Und sie weiß, dass es hier um die Schlüsselindustrie der Zukunft für die deutsche Wirtschaft geht. Zukünftige Wertschöpfung wird in intelligenten Infrastrukturen erbracht. Die grundlegenden Probleme werden auf dem Gipfel aber gar nicht diskutiert.
CIO.de: Der Gipfel erscheint also als eine Showveranstaltung, die eher schadet als nutzt, weil lediglich der Eindruck erweckt wird, dass da etwas passiert? Die Show verhindert aber, dass Dinge wirklich besprochen werden?
Maurer: Ja, das ist tatsächlich eine Gefahr: dass in den Köpfen der Politiker und auch von einigen Industrievertretern die Probleme, so wie sie dort verhandelt werden, ganz gut aufgehoben sind. Und man denkt, man hätte sie damit gelöst. Wenn man mehr will, wird das nicht im Konsens passieren können, denn über Visionen gibt es auch Streit. Der IT-Gipfel ist aber eine Konsensveranstaltung, da können Sie nicht so einfach ausbrechen. Der richtige Weg wäre es, das Ganze von oben neu aufzusetzen. Die Frage ist: Was ist das richtige Instrumentarium, damit wir die Themen gelöst bekommen? Und wie machen wir dann den Gipfel zu einer Aufbruchsveranstaltung?
CIO.de: Ist dieser Konsenswunsch ein typisch deutsches Problem?
Maurer: Ich glaube, das ist etwa im öffentlichen Raum in den USA genauso. In den Länder, die größere Erfolge haben, steht aber am Anfang nicht die Frage: Was wollen wir uns vornehmen? Am Anfang stand eine Vision der zukünftigen Entwicklung und eine klare Zielsetzung, die einen Unterschied macht - dann die Umsetzung in eine Regulierungsagenda und ein Framework für den Markt, der da entstehen soll. Zuerst gab es aber stets den politischen Willen, das Richtige zu tun.
Deutschland besitzt alles, um ganz vorne mitzuspielen
Mit dem Richtigen meine ich: Nicht eine Selbstverpflichtung auf Breitbandziele, die wir im Business as usual noch gerade so erreichen, sondern einen Sprung nach vorne - in einem tragfähigen Rahmen, der diese Investitionen ermöglicht und beschützt. Der Glasfaserausbau oder eine Infrastruktur für E-Mobilität kosten halt Geld. Und ohne Investitionen und ohne die Hilfe des Staates wird zwar vieles kommen, aber sehr, sehr langsam.
CIO.de: Verzweifeln Sie daran?
Für mich persönlich ist das schon unendlich frustrierend, weil ich seit 15 Jahren sehe, dass wir zwar weiterhin Erfolge im Export in den alten Industrien schaffen, es uns aber bei den großen Herausforderungen - die uns letztlich hier selbst das Leben lebenswerter machen werden - nicht gelingt, die Dinge richtig in die Spur zu bringen.
CIO.de: Haben Sie noch Hoffnung für Deutschland?
Ja. Ich schreibe gerade ein Buch darüber, das im Herbst erscheinen soll. Es wird wohl „Die Innovationsweltmeister" heißen. Meine Kernthese darin ist: Deutschland besitzt eigentlich alles, um ganz vorne mit zu spielen. Wir konnten es uns nur zu lange leisten, im Hier und Jetzt an unserer Produktivität zu schrauben, aber nichts wirklich Neues anzufassen. Das geht aber nicht endlos. Es braucht dafür ein Aufräumen der politischen Agenda - und in der Wirtschaft ein paar Köpfe, die sich mutig auf die Seite stellen und einen Vorschlag auf den Tisch legen, was und wie sie es tun wollen.
Boris Maurer lebt und arbeitet als freiberuflicher Berater in Berlin. Den promovierten Volkswirt faszinieren große und nachhaltige Transformationsprozesse und der Einsatz moderner Technologien als Plattformen für nachhaltiges Wirtschaften.
Bis Mitte 2010 war er Partner bei McKinsey und Company, wo er 14 Jahre Unternehmen und Institutionen in Hi-Tech, Telekommunikation, Medien, IT, Energie und im öffentlichen Sektor unterstützt hat. Boris Maurer war dort einer der weltweiten Leader der Innovation Practice. Sein Interesse gilt komplexen ökonomischen und politischen Veränderungen. So hat er bei McKinsey unter anderem die Initiativen „Start up!", „Perspektive Deutschland", „Deutschland 2020" und „Berlin 2020" mit verantwortet.
Maurer hat Beratungsprojekte im Kanzleramt und Ministerien zu Innovations- und Strategiethemen geleitet, regionale Entwicklungsstrategien in mehreren Bundesländern und Großstädten entwickelt und den Umbau der Bundesagentur für Arbeit zum führenden Dienstleister am Arbeitsmarkt begleitet.