Wer die Veränderungen im indischen Markt für IT-Outsourcing verstehen will, kommt nicht umhin, sich mit dem veränderten Nachfrageverhalten zu befassen. Unternehmen beschäftigen sich heute rund um den Globus mit den Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformationen. Die Leistungsexplosion bei Hardware und breitbandiger Internet-Infrastruktur sowie - darauf aufsetzend - neue Technologien wie Cloud Computing, Big Data/Analytics, In Memory Computing oder auch App-Technologien haben für eine schier unbegrenzte Fülle an Möglichkeiten gesorgt.
Doch die Frage, wie digital transformiert werden soll, beantwortet jede Branche und jedes Unternehmen anders. Ganze Geschäftsmodelle werden umgekrempelt, oft bleibt kein Stein auf dem anderen. Christophe Chalons, Analyst bei Pierre Audoin Consultants, nennt in einem Gastbeitrag für die CW-Schwesterpublikation "CIO.de" drei wesentliche Bereiche der Digitalisierung. Angefangen habe alles mit dem "Digital Workplace", also mit Themen wie Unified Communication & Collaboration (UCC) und Mobility. Bei den entsprechenden Technologien sei inzwischen ein gewisser Reifegrad erreicht worden.
Derweil habe Phase zwei begonnen - die "auf Customer Experience fokussierte digitale Transformation", so Chalons. Der Analyst zielt darauf ab, dass es heute völlig neue Möglichkeiten und Werkzeuge gibt, um die Kundenerfahrung zu verbessern - Big Data und Analytics-Tools sind dafür die geeigneten Hilfsmittel. Die meisten Menschen hinterlassen heute Spuren im Netz oder sind sogar direkt adressierbar. Ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse lassen sich mit immer besser entwickelten Tools nachverfolgen, verstehen und lenken. Voraussetzung dafür ist, dass die Kunden an allen Touchpoints komfortabel und einheitlich bedient werden.
Hier stehen die meisten Unternehmen noch am Anfang - und das gilt erst recht für den dritten Bereich, für den hierzulande das Schlagwort Industrie 4.0 zu einiger Berühmtheit gelangt ist. Dabei weitet sich die Digitalisierung auf industrielle Prozesse aus: Die Cloud-gesteuerte Kommunikation von Maschinen untereinander sowie zwischen Mensch und Maschine wird Realität. So lassen sich nicht nur Fertigungsprozesse optimieren, es eröffnet sich auch eine Welt neuer "Smart Services", wenn etwa Maschinen bei Problemen selbsttätig den Kundendienst anfordern.
Herausforderung für den IT-Service-Markt
Wer diesen Herausforderungen der Digitalisierung gerecht werden will, wird mit Oberflächenkosmetik und ein paar selbstgestrickten Apps nicht weit kommen. Die Lösungen greifen meist tief in die Backend-Infrastruktur ein und erfordern die Einbindung von Datenbanken, Data Warehouses, ERP-, CRM-, PLM-Systemen sowie - mit rasant zunehmender Bedeutung - von eigenen und externen Cloud-Infrastrukturen.
Nicht nur der CIO und sein Team stehen damit vor großen Herausforderungen, sondern auch die IT-Serviceunternehmen, die diesen Zukunftsmarkt natürlich längst bearbeiten. In den vergangenen zwei Jahren hat fast jeder große IT-Service-Provider die Eröffnung einer digitalen Geschäftseinheit angekündigt, von der aus die Kunden im Prozess der Transformation unterstützt werden sollen.
Accenture etwa gründete 2014 die Unternehmenssparte Accenture Digital, wo digitales Marketing, Datenanalyse und mobile Anwendungen über alle Branchen und Märkte hinweg konsolidiert werden. Deutschland-Chef Frank Riemensperger kommentierte damals: "Es braucht eine digitale Vision für die Kundenbindung, die Lieferketten, den Service und die Art und Weise, wie im Unternehmen Daten zu entscheidungsrelevanten Informationen werden."
IT-Dienstleister haben eine "Digital-Unit"
Deloitte schuf mit Deloitte Digital einen Ableger für das Digitalgeschäft, dessen Ziel ebenfalls die "Transformation" der Deloitte-Kunden ist. Das Leistungsspektrum reicht von der digitalen Strategiefindung über digitales Marketing und Kundengewinnung bis hin zu typischen Agenturdiensten. Auch Capgemini, PwC, Atos - nahezu alle großen IT-Dienstleister betreiben heute ihre Digital-Unit.
Immer geht es darum, End-to-End-Services anzubieten, die sich an den Bedürfnissen der Business-Prozesse orientieren und den Backoffice-Bereich einschließen. Hier wähnen sich die klassischen IT-Dienstleister im Vorteil gegenüber den aufstrebenden Internet-Agenturen, die im Bereich der Backend-Integration nicht selten überfordert seien.
Indien entdeckt das Digital-Business
Auch die indischen Service-Provider haben die Weichen für das digitale Zukunftsgeschäft gestellt. "Wir interessieren uns dabei für komplexe Aufgaben mit Front- und Backend-Integration", sagte kürzlich Anant Gupta, CEO von HCL Technologies, einem der großen Offshoring-Provider, in einem Interview. Doch solche Projekte, bei denen die Anbindung neuer FrontOffice-Techniken das Backend ganz anders fordert, seien je nach Region unterschiedlich weit fortgeschritten. Meistens bedeuteten sie eine große organisatorische Veränderung für Unternehmen und damit auch eine kulturelle Herausforderung.
Wie allen IT-Service-Providern bleibt auch den Indern gar nichts anderes übrig, als sich zu wandeln. Mit typischen Aufgaben wie klassischer Anwendungsentwicklung, Softwarewartung und Infrastruktur-Management lassen sich nicht mehr die Gewinne erzielen, die in den Jahren zuvor üblich waren. Der Grund dafür liegt weniger in den gerne zitierten schlechten Rahmenbedingungen, die zweifellos durch Währungsschwankungen, den Ölpreisverfall oder die einschneidenden Veränderungen in einigen bereits disruptiv digitalisierten Märkten, etwa dem Handel oder der Medienbranche, entstanden sind.
Die Probleme liegen tiefer und sind struktureller Art. So hat bei den Dienstleistern ein Automatisierungs-Wettlauf eingesetzt, der zum Ziel hat, einfache, repetitive Aufgaben beispielsweise beim Rollout und Upgrade von Software oder auch im Helpdesk mit möglichst wenig Manpower zu erreichen. Wer hier nicht mithalten kann, wird am Ende höhere Kosten und geringere Gewinnmargen hinnehmen müssen.
Zudem ändert sich das Kundenverhalten durch die gestiegene Akzeptanz von Cloud Computing: Je stärker sich dieses Bezugsmodell durchsetzt, desto schneller sinkt der Bedarf an Individualisierung, Wartung und Integration von Software. Anwendungen, Infrastrukturen und Entwicklungsumgebungen werden standardisiert und mit geringem Konfigurationsaufwand aus dem Netz bezogen. Dass dieser Trend real ist, belegen die Wachstumsstorys von Unternehmen wie Salesforce.com und Workday oder die Zuwachsraten, die Microsoft, IBM, Oracle oder SAP derzeit im Cloud-Business erzielen.
Hinzu kommt für die indischen Provider eine verschärfte Konkurrenzsituation durch eine Vielzahl kleiner, agiler und oft spezialisierter IT-Service-Provider, die ohne administrativen Overhead auskommen und besonders preiswert liefern können. Letztendlich hat sich auch das Kaufverhalten großer Konzerne verändert, die ihre Budgets in Richtung neuer SMAC-Technologien allokieren. Sie haben ihre Infrastruktur meist gut standardisiert und ihre Sourcing-Prozesse professionalisiert.
Die indischen Dienstleister haben auch gar keinen Grund, den lukrativen Wachstumsmarkt der digitalen Transformation anderen zu überlassen. Sie haben sich über die vergangenen Jahre genügend Branchen- und Fach-Know-how aufgebaut, um die Geschäfte der Kunden zu verstehen und diese auch individuell im Business zu unterstützen. Wichtig ist es nun, nahe am Kunden zu sein, auch vor Ort, und die Sprache der Fachabteilungen zu sprechen.
Agile Entwicklung, Design Thinking und DevOps sind Schlagworte für einen Trend, der die Softwareentwicklung nahe an die Anwender in ihren Fachabteilungen herangeführt und die Softwareproduktion auf ein neues Niveau gehoben hat. Entwickelt wird heute meistens in einem offenen, iterativen Prozess in enger Zusammenarbeit mit den Anwendern - nahe an der Benutzerschnittstelle. Technikwissen ist das eine, mindestens ebenso wichtig ist es, das Business zu verstehen.
Infosys investiert in Design Thinking
Die indischen Offshoring-Riesen wissen das. Infosys kündigte im vergangenen Jahr an, 30.000 Mitarbeiter mit Design-Thinking-Ansätzen vertraut zu machen. "Mit dem Augenmerk auf Zuhören, User-Empathie, Collaboration und Experimentierfreude wird uns der Design-Thinking-Prozess dabei unterstützen, neue Skills in Bereichen wie Problemerkennung, analytischer Entscheidungsfindung, Kreativ- und Innovativsein in einer ganz neuen und aufregenden Art und Weise aufzubauen", sagte der neue CEO Vishal Sikka, ehemals Technikchef von SAP, vor der Presse.
Wipro geht einen ähnlichen Weg. Das Unternehmen löst seinen Unternehmensbereich Wipro Digital aus dem klassischen Geschäft heraus und versucht nun, eine Startup-Mentalität frei von allen Zwängen zu etablieren.
Gleichzeitig geht es für die indischen Dienstleister im klassischen Software- und Infrastrukturbetrieb darum, die Kosten zu senken. Das geschieht durch Automatisierung und Personalabbau. Letzteres ist in Indien kein Politikum, da die Fluktuation bei den Dienstleistern so hoch ist, dass sich der Abbau von Arbeitsplätzen recht gut durch das Nicht-wieder-Besetzen offener Stellen regulieren lässt.
In Sachen Automatisierung sind indes Investitionen gefordert. So ließ sich Infosys vor einigen Wochen die Übernahme des Startups Panaya Inc. 200 Millionen Dollar kosten. Das Unternehmen bietet Cloud-basierende Automatisierungs- und KI-Services, mit denen sich Software-Rollouts und -Upgrades überwachen lassen. "Diese Übernahme zielt darauf ab, den Umsatz des Unternehmens durch Automatisierung zu steigern, ohne mehr Mitarbeiter zu brauchen", kommentierte Sudin Apte, Analyst bei Offshore Insights, im Gespräch mit den amerikanischen Computerwoche-Kollegen von der "Computerworld". Infosys-Chef Sikka will einen Teil der Cash-Reserven in Höhe von fünf Milliarden Dollar für weitere Übernahmen in Bereichen wie Cloud Computing, Automatisierung und Big Data ausgeben. So kündigte er vor wenigen Tagen die 120 Millionen Dollar teure Übernahme des E-Commerce-Service-Providers Kallidus an.
Experten für Artificial-Intelligence-Lösungen
Auch Wipro beschäftigt sich intensiv mit Automatisierung und hat dafür extra eine rund 200 Mitarbeiter starke Unit ins Leben gerufen. Auch hier stehen Artificial-Intelligence-Lösungen im Vordergrund, mit denen das Butter- und Brot-Geschäft im Bereich der Software- und Infrastrukturwartung automatisiert werden soll. Wipro-Chef TK Kurien macht kein Hehl daraus, dass es ihm hier um Kostensenkung und die Einsparung von Personal geht.
HCL Technologies hatte zu Jahresbeginn angekündigt, in den nächsten Jahren eine "drastische Veränderung in der Personalstruktur" zu erreichen, indem "Automatisierung-, KI- und andere disruptive Technologien" genutzt werden. Auch hier sollen Aufgaben, die sich ständig wiederholen und Skills auf einem niedrigen Level beanspruchen, zunehmend von Maschinen übernommen werden. Der Aufbau des Unternehmens ähnelt dem anderer Offshoring-Dienstleister: Die Pyramidenstruktur, in der sehr viele Mitarbeiter am breiten unteren Ende einfache Softwaretests und Infrastruktur-Support-Aufgaben erledigen, soll durch eine Sanduhr-Formation ersetzt werden. Darin gibt es ein ausgewogenes Verhältnis von Mitarbeitern mit breiten, aber nicht sehr tief gehenden Skills, die sich um klassische Aufgaben wie Tests und Support kümmern, und von echten Spezialisten mit großer Business-Kompetenz.
Einen eigenen Weg geht Marktführer Tata Consultancy Services (TCS), der in den nächsten Monaten eine KI-basierte Automatisierungsplattform vorstellen will. CEO Natarajan Chandrasekaran deutete vor wenigen Tagen auf einer Analystenkonferenz an, die Cloudbasierte Lösung sei bereits bei einigen Großkunden im Einsatz und habe im Finanzjahr 2015 rund 125 Millionen Dollar Umsatz eingespielt. Sie soll die Verwaltung klassischer horizontaler Anwendungen wie Kostenrechnung, Personal oder Einkauf vereinfachen.
Die Inder bauen um
Die Geschäfte der indischen IT-Dienstleister boomen. Die drei großen Anbieter Tata Consultancy Services (TCS), Infosys und Wipro haben kürzlich ihre Bilanzen für das abgelaufene Geschäftsjahr vorgelegt. Die Zahlen belegen, dass die Inder mittlerweile auch in den westlichen Märkten eine feste Größe sind.
TCS erwirtschaftete im abgelaufenen Fiskaljahr über die Hälfte seines Umsatzes in Nordamerika. Großbritannien und Kontinentaleuropa steuerten ein gutes Viertel zu den Einnahmen bei. Auch bei Infosys kommt ein knappes Viertel der Einnahmen aus Europa, der Anteil Nordamerikas liegt sogar bei über 60 Prozent. Der Heimatmarkt Indien macht gerade einmal 2,4 Prozent des Umsatzes aus. Auch im Serviceportfolio deuten sich Veränderungen an. Zwar machen die klassischen Dienste rund um Anwendungsentwicklung und -wartung weiter einen großen Anteil am Geschäft aus.
Doch die höherwertigen Services, die bessere Gewinnmargen bringen, werden wichtiger. Bei TCS sorgten die Bereiche Enterprise Solutions, Infrastructure Services und Business Process Services im zurückliegenden Geschäftsjahr bereits für rund 40 Prozent vom Umsatz - Tendenz steigend. Das Segment Infrastructure Services legte bei TCS im Jahresvergleich um 34,1 Prozent zu und wuchs mit Abstand am schnellsten. Bei Wipro kam die Anwendungsentwicklung und -wartung im abgelaufenen Fiskaljahr noch auf einen Umsatzanteil von 16 Prozent. Ein Jahr zuvor waren es noch 20 Prozent.
Die Segmente Global Infrastructure Services, Business Application Services und Business Process Services legten dagegen zu und brachten bereits fast zwei Drittel der Einnahmen - ein Jahr zuvor waren es gute 60 Prozent.