Immer, wenn ein Journalist oder Buchautor verdeutlichen möchte, welch epochale Bedeutung die Digitalisierung für unser aller Leben in den kommenden Jahren haben wird, heißt es, Daten seien "das Öl des 21. Jahrhunderts".
Keine erfolgreiche Industrialisierung ohne Öl, so die Botschaft, und keine Digitalisierung ohne Daten. Es gibt einige Branchen, bei denen sich die Bedeutung dieses neuen Rohstoffs auch Menschen zusammenreimen können, die nicht regelmäßig das CIO-Magazin lesen. Einzelhandel zum Beispiel, Versicherungen oder Telekommunikation.
Nun geht es aber in dieser Geschichte um eine Branche, bei der das Zusammenreimen insofern etwas schwerer fällt, als die allermeisten Menschen gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt. Gemeint ist der Gastransport. Tatsächlich wird auch für diese Branche Digitalisierung immer wichtiger.
Die ehemalige Ruhrgas AG
Open Grid Europeist, trotz des modernen Namens, ein 90 Jahre altes Unternehmen. Die längste Zeit hieß es Ruhrgas AG, wurde 2003 von E.ON übernommen und schließlich wieder vomEnergieriesen entkoppelt, weil laut EU-Binnenmarktregeln ab 2010 auch in Deutschland Energieerzeugung, -handel und Leitungsnetze entflochten werden mussten (Unbundling). Seit dieser Zeit heißt es Open Grid Europe, Eigentümer ist mittlerweile ein Konsortium von international tätigen Strukturfonds.
Auch nach dem Unbundling unterliegt das Geschäft mit dem Gastransport der Regulierung, weil es ein natürliches Monopol ist, will sagen: Niemand verlegt - um für Wettbewerb zu sorgen - neben eine bereits bestehende riesige Gasleitung noch eine zweite.
Bundesnetzagentur in Bonn reguliert
Damit aber derjenige, dem die einzige vorhandene Leitung gehört, diese Position nicht als Monopol im Markt ausnutzen kann, werden die Preise für die Durchleitung von der Bundesnetzagentur in Bonn reguliert. Für den Betreiber des Netzes komme es deshalb vor allem darauf an, "sein Netz möglichst effizient zu nutzen und die Kosten im Griff zu behalten", sagt Ralf Werner, CIO von Open Grid Europe.
Genau an dieser Stelle kommen die Daten ins Spiel. Das Leitungsnetz ist mit Sensoren versehen, die Schwingungen und Temperaturen messen. Eine zentrale Rolle dabei spielen die rund 30 Verdichterstationen, die entlang des über 12.000 Kilometer langen Netzes dafür sorgen, dass das Gas immer mit ausreichend Druck über große Entfernungen transportiert werden kann.
Mit Predictive Maintenance automatisiert Unregelmäßigkeiten erkennen
Sie alle sollen ihre Daten ins Essener Rechenzentrum senden. Dort werden die Daten auf bestimmte Muster hin analysiert. Der Netzbetreiber will so durch Predictive Maintenance frühzeitig und automatisiert Unregelmäßigkeiten erkennen, die einen reibungslosen Betrieb behindern oder sogar zu Schäden führen können.
Was nach einer geschmeidigen und leicht handhabbaren Prozesskette klingt, bereitet dem CIO und seinen Mitarbeitern allerdings noch Probleme. "Wir stehen hier erst am Anfang", sagt Ralf Werner. "Eine Schwierigkeit besteht darin, alle Daten auszulesen und nutzbar zu machen. Die Verdichter sind unterschiedlichen Typs und unterschiedlich alt, sie stellen ganz verschiedene Daten zur Verfügung. Für uns stellt sich die Frage, welche davon wir wirklich brauchen." Hinzu kommt: Einige Maschinen liefern überhaupt keine Daten.
Analyse-Infrastruktur aufgebaut
Weit fortgeschritten ist Open Grid Europe dagegen beim Aufbau der Analyse-Infrastruktur. 90 Prozent seiner IT betreibt seit 2010 Hewlett-Packard Enterprise (HPE), erst dieses Jahr wurde in Essen ein neues Rechenzentrum für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung und -Steuerung des gesamten Leitungsnetzes in Betrieb genommen, eine Big-Data-Zentrale sozusagen.
Als technische Plattform dient seit Kurzem eine Kombination aus SAP HANA und Apache Hadoop, schon länger nutzt das Unternehmen auch SAP Business Warehouse (on HANA). "Natürlich könnte man hier auch Lösungen von Oracle oder IBM einsetzen", so CIO Werner, "aber wir kommen aus einer starken SAP-Ecke und hatten in diesem Umfeld bereits Know-how. Das hilft uns jetzt, vor allem weil wir den Anspruch haben, vieles selbst machen zu können."
Daten verknüpfen mit SAP HANA
Werner und seine Leute verknüpfen mit Hilfe der HANA-Datenbanktechnologie, die die Rechenleistung optimiert, Daten aus verschiedenen Quellen miteinander. Für die Genehmigung der Netzentgelte (Preise) durch die Bundesnetzagentur zum Beispiel braucht Open Grid Europe möglichst genaue Prognosen über die durchzuleitenden Gasmengen. Diese Mengen hängen von den unterschiedlichsten Faktoren ab, unter anderem schlicht vom Wetter: Wenn es kalt ist, steigt der Gasverbrauch.
"Im Grunde versuchen wir immer, vergangenheitsbezogene Daten in die Zukunft fortzuschreiben", erklärt Werner. Praktisch kann das bedeuten, historische Daten über durchgeleitete Mengen sowohl mit historischen und aktuellen Wetter- als auch mit verschiedenen Kundendaten zu verschneiden, um so die Qualität von Prognosen zu erhöhen.
Kundendaten stammen von Gaserzeugern oder von großen Verbrauchern wie zum Beispiel Stahlwerken. Bei der Art der Daten hat das Unternehmen eine Transparenzpflicht, muss veröffentlichen, welche Informationen es genau nutzt.
Agile Einheit aufgebaut
Allerdings bedeutet Digitalisierung für Open Grid Europe keineswegs nur, mit Hilfe von Big Data die eigenen Durchleitungsprognosen zu verbessern. Um auch in anderen Bereichen die digitale Transformation zu forcieren, hat Werner in der IT neben den drei klassischen Säulen Plan, Build, Run eine neue Organisation etabliert, die sich ausschließlich diesem Thema widmet. "Ich möchte eine Einheit haben, die ganz bewusst nicht nach dem klassischen Wasserfallmodell agiert, sondern agile Methoden nutzt", so der CIO. "Wir wollen ja nicht nur digital, sondern auch innovativ sein."
Damit das gelingt, gibt es seit einigen Monaten quer durchs Unternehmen kleine interdisziplinäre Teams, in denen Zukunftsthemen über einen Zeitraum von mehreren Monaten fernab traditioneller Unternehmenssilos diskutiert werden.
Tool für Social Media Analytics
Konkret sollen sie Initiativen in drei Bereichen anschieben. Der erste dreht sich um die schon beschriebene Prozessoptimierung (Predictive Maintenance), der zweite um die Erweiterung und Optimierung des vorhandenen Geschäftsmodells. Entstanden ist in diesem Zusammenhang ein Tool für Social Media Analytics, mit dem Open Grid Europe die Reaktionen der Bevölkerung auf Twitter, Facebook und anderen Social-Media-Plattformen analysieren kann, wenn es um Baugenehmigungen für neue Gasleitungen geht.
Damit analysieren die Essener nicht nur die Nachrichtenlage rund um das eigene Unternehmen, sondern auch die bei vergleichbaren Aktivitäten anderer Unternehmen aus dem Energiesektor. "Wir können dadurch die Stimmung in der Bevölkerung besser verstehen und bereits im Vorfeld nach adäquaten Lösungen suchen", sagt Werner.
Kein Thema in sozialen Medien
Interessanterweise stellte das Team bei der Analyse allerdings fest, dass das Thema Gastransport kaum in den sozialen Medien, dafür aber deutlich mehr in den Printmedien vorkommt, vor allem in den Lokalteilen von Tageszeitungen. Diese Quellen werden jetzt intensiv ausgewertet mit dem Ziel, die Stimmungslage genau zu kennen und auf dieser Basis Bürgerversammlungen zu besuchen, wenn neue Gasleitungen verlegt werden müssen, und proaktiv auch mit den Vertretern von Kommunen zu sprechen.
Drittens denken die interdisziplinären Teams auch "über neue digitale Geschäftsfelder vor allem im Dienstleistungsbereich nach, die unser eigentliches Kerngeschäft in Zukunft begleiten können", erklärt CIO Werner. Ein Beispiel sind Datenservices, mit denen Kunden wie große Industrieunternehmen oder Stadtwerke ihren Gaseinkauf und -transport optimieren können. Denkbar sei auch, so Werner, Kunden individuelle Informationen über die Gasbeschaffenheit zu liefern. "Für Glashütten etwa sind das wichtige Informationen, durch die sich die Qualität ihrer Produkte maßgeblich beeinflussen lassen."