Schwarmdummheit

Das Team macht uns dumm

01.10.2024 von Anja Dilk
Solange sich Manager nur an Zahlen orientieren, haben weder Exzellenz noch Schwarmintelligenz eine Chance, sagt Vor- und Querdenker Gunter Dueck.
Gunter Dueck war Mathematik-Professor und bis August 2011 Chief Technology Officer bei IBM. Heute arbeitet er als freier Autor, Netzaktivist, Business Angel und Speaker.
Foto: Michael Herdlein

Schwarmintelligenz wird im Internet-Zeitalter als Weisheit der vielen, die virtuell vernetzt zusammenarbeiten, gefeiert. In globalen Unternehmen machen Sie eher Brutstätten für Schwarmdummheit aus. Wie das?

Gunter Dueck: In den gefeierten Beispielen von Schwarm­intelligenz arbeitet meist eine Gruppe von Menschen enthusiastisch an einem Ziel. Freiwillig und getrieben vom idealistischen Wunsch, ein kon­kretes Problem gemeinsam zu lösen, das alle Teammitglieder im Gesamten überblicken. Niemand außerhalb hat "ein Target" vorgegeben. Die Einigkeit in der Sache bündelt Energien so sehr, dass mehr als die Summe der Teile herauskommt. Ist das Problem gelöst, gehen alle ihrer Wege. Für ein neues Problem tut sich ein neuer Schwarm zusammen.

In Unternehmen aber geben andere die Ziele vor.

Gunter Dueck: Ja, und man versucht unterschiedliche Probleme in immer gleicher Umgebung mit den immer gleichen Leuten zu lösen. Zudem zersplittern die Energien der Gruppe durch Interessenkonflikte. Streit wird in Meetings ausgetragen. Kompromisse sind keine Energiefokussierung, sondern meist schwarmdumme Good-enough-Lösungen, mit denen man mühevoll weiterleben muss. Je größer das Unternehmen, desto größer die Schwarmdummheit, weil es immer schwieriger wird, die Ener­gien aller zu bündeln.

Wie reagiert das Management?

Gunter Dueck: Es schimpft auf die Mitarbeiter, weil es glaubt, durch Stress und Druck die Ziele doch zu erreichen. Geht gefälligst die Extrameile! Doch der Stress erzeugt nur neue Konflikte. Verzweifelt versuchen Mitarbeiter, die Probleme durch Überstunden zu lösen. Das bringt nichts, weil das Problem in den Interessenkonflikten der Abteilungen liegt. Also zieht das Management das Tempo weiter an, es will schneller als die anderen schwarmdummen Wettbewerber sein, die intern natürlich dasselbe fordern. Die Mitarbeiter merken, dass noch mehr Energie zersplittert. Teamgerede, Dokumen­tations- und Zahlenwahn, das Schnell-schnell-Durcheinander machen alle fertig. Überstress wird zum Normalzustand. Wir sind hamstergerädert ...

... und die Organisation gerät aus den Fugen.

Gunter Dueck: Ja, wir haben keine Zeit mehr, nicht geschaffte Arbeit nachzuholen, weil wir zu viel arbeiten. Fehler, die einmal vorkommen, können nicht in Ordnung gebracht werden - keine Zeit! Wegen jeder kleinen Panne gerät das Ganze in Unordnung. Wir haben begonnen, im Chaos zu leben. Wir strampeln in alle Richtungen, um wenigstens uns selbst zu retten, und enden im Gezänk mit den Kollegen, denen es genauso geht.

Durchschauen das die Einzelnen?

Gunter Dueck: Der Einzelne ist keineswegs zu dumm, um seine Arbeit zu erledigen. Aber die Arbeit der Einzelnen passt nicht mehr zusammen. Das Team macht uns dumm. Wir agieren gemeinschaftlich so, wie wir es einzeln als Mensch ohne Fesseln und Zwänge nie täten. Das Ganze ist dümmer als die Summe der Intelligenz der Einzelnen - zumindest unter den Bedingungen, die unsere globale Arbeitswelt hervorgebracht hat.

Gunter Dueck über Schwarmintelligenz
Ex-IBM-Manager Gunter Dueck ist überzeugt
Im Team treffen wir die schlechteren Entscheidungen. Zahlenwahn, Zuständigkeitsterror, permanente Hast, Angst vor Fehlern und Verantwortung sowie der fehlende Blick fürs Ganze machen uns schwarmdumm.
Je größer das Unternehmen, ...
... desto größer die Schwarmdummheit, weil es immer schwieriger wird, die Ener­gien aller zu bündeln.
Der Einzelne ist keineswegs zu dumm, ...
... um seine Arbeit zu erledigen. Aber die Arbeit der Einzelnen passt nicht mehr zusammen.
Das Team macht uns dumm.
Wir agieren gemeinschaftlich so, wie wir es einzeln als Mensch ohne Fesseln und Zwänge nie täten.
Wir geben uns mit Good enough Lösungen zufrieden.
Für die Arbeit an besseren oder guten Lösungen fehlen Zeit, Lust und vielfach die Fähigkeit, beharrlich und fokussiert an der Lösung zu tüfteln.
Wer zu viel spart, erzeugt Betriebsstörungen:
Überlastung von Mensch und Material und das liebesleere Miteinander der Menschen, die nur noch Nummern sind.
Zahlen-Management taugt nicht, ...
... um Prozesse zu integrieren und Mitarbeiter ernst zu nehmen.
Unternehmen sollten sich vom Dogma der Maximalauslastung verabschieden.
Es kommt darauf an, Mitarbeiter so bedachtsam einzusetzen, dass sie viel bewirken können.
Manager in Freiwilligenorganisationen ...
können ihre Mitarbeiter oft trotzdem für hohe Ziele begeistern und First-Class-Leistungen bringen. Führungskräfte in Unternehmen sollten sich häufiger fragen, ob ihre Mitarbeiter auch freiwillig bei ihnen bleiben würden.

Noch mehr Effizienz ohne Nachteile geht nicht

Geht diese Arbeitsweise auf Kosten der Produkte?

Gunter Dueck: Sicher. Auch bei Produkten geben sich Unternehmen immer mehr mit Good-enough-Lösungen zufrieden. Das lässt sich mit der Einfachheitskurve der amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Olivia Mitchell zeigen, die den Umgang mit komplizierten Aufgaben oder der Entwicklung neuer Produkte im hektischen Firmenalltag beschreibt.

Die Rahmenbedingungen treiben die Entscheidungen in den Firmen auf die linke Seite: Good Enough. Das Produkt hat zwar kleinere Macken, die ärgerlich oder lästig sind. Doch das wird hingenommen. Für die Arbeit an besseren oder guten Lösungen fehlen Zeit, Lust und vielfach die Fähigkeit, beharrlich und fokussiert an der Lösung zu tüfteln. Schwarmdummheit gibt Exzellenz keine Chance.

Haben große Unternehmen früher anders gearbeitet?

Gunter Dueck: Es gab nicht so viel Stress. Die Qualität des Produkts stand im Vordergrund. Das Auto oder der Mixer sollten besser sein als die des Konkurrenten. Ingenieure und Techniker gaben den Ton an. Irgendwann konnten die Produkte nicht mehr erheblich besser werden. Statt auf Qualität schauten Unternehmen auf Effizienz. Man wollte fehlerfrei und billig produzieren, so wie es die Japaner mit Lean Management vormachten. Die Betriebswirtschaftler wurden federführend. Nur noch Messzahlen und Performance-Indikatoren zählten, jeder Bereich wurde auf Effizienzoptimierung abgeklopft. Seit etwa zehn Jahren sind wir auch damit durch, mehr Effizienz - ohne negative Nebenwirkungen an anderen Stellen - geht nicht.

Führte das Lean Management die globalen Unternehmen in diese Falle?

Gunter Dueck: Seine falsche Anwendung. Die Japaner wollten sparen, aber auch Überlastungen und Prozessausnahmen ­vermeiden und den Menschen respektvoll behandeln. Dieser Aspekt ist in westlichen Konzernen unter den Tisch gefallen. Ihnen ging es meist ums Sparen: Bloß keine Verschwendung von Material, Mitarbeiterzeit und Geld. Wer zu viel spart, erzeugt Betriebsstörungen, Überlastung von Mensch und Material und das liebesleere Miteinander der Menschen, die nur noch Nummern sind.

Manager sind zu zahlengläubig

Wie können Führungskräfte umsteuern? Viele fühlen sich ohnmächtig, der Komplexität Herr zu werden.

Gunter Dueck: Die Komplexität ist selbst gemachte Kompliziertheit. Effizienz-Management wird als Zahlenhandwerk be­trieben - so weit, dass das Management den Blick auf das inhaltliche Ganze verliert. Man glaubt, dass eine Zahlenmethodik alle Probleme zu lösen vermag. Zahlen-Management taugt aber nicht, um Prozesse zu integrieren und Mitarbeiter ernst zu nehmen. Als Zahlengläubige sind Manager eingefroren in der herrschenden Betriebskultur. Sie vertrauen den immer gleichen ­Problemlösungsriten. Problem, Meeting, Streitereien, ­Ergebnis ­eine Ebene höher leiten.

Organisationen bräuchten so etwas wie einen Unternehmenstherapeuten, der ­Prioritäten neu sortieren hilft: weg von der ­Dominanz der Methodik hin zu echtem Unternehmertum. Dafür müsste wahrscheinlich auch ein Gutteil der Mitar­beiter und Führungskräfte selbst ausgetauscht werden. Wie in einer Fußballmannschaft, deren Trainer die Spielstrategie umstellt und sich die dazu passenden Spieler holt.

In der Wirtschaftswelt ist das kaum realistisch. Wie können Führungskräfte mit ihren bestehenden Teams etwas gegen Schwarmdummheit tun?

Gunter Dueck: Sie müssen den Blick fürs Ganze schärfen. Der Führungsnachwuchs sollte ein paar Wochen oder Monate durch alle Abteilungen rotieren. Nur so lässt sich vermeiden, dass später Leute in Meetings diskutieren, die nur die Prioritäten ihrer Abteilung im Blick haben. Das bedeutet bei Neueinstellungen ein Investment von einem guten Jahresgehalt, da die Leute als Lernende kaum produktiv sind. Die besten fünf Prozent des Führungsnachwuchses könnten als Assistenten der Geschäftsführung Erfahrungen sammeln, hervorragende IT-Mitarbeiter neben dem CTO mitlaufen.

Damit sie ein Gespür für Exzellenz bekommen?

Gunter Dueck: Ja. Man muss Exzellenz mal gesehen haben, um zwischen Kreis- und Weltklasse unterscheiden zu können. Unternehmen sollten sich vom Dogma der Maximalauslastung verabschieden. Es kommt darauf an, Mitarbeiter so bedachtsam einzusetzen, dass sie viel bewirken können. Ich habe oft gesehen, dass Vertriebsleute mit Excel-Listen den Kunden nach Alphabet zugeordnet wurden. Fragte man die Kunden, von wem sie betreut werden möchten, würde die Chemie stimmen. Auch die Vertriebsleute sollte man fragen. Die wissen doch, wen sie mögen, wo sie und die Kunden wohnen und so weiter. Zuordnungen via Zahlen-Management erzeugen oft ein Grauen.

Was Manager von Freiwilligen-Organisationen lernen können

Was ist Ihre Vision für das Management der Zukunft?

Gunter Dueck: Stellen Sie sich Manager in ehrenamtlichen Freiwilligenorganisationen vor, die keine Möglichkeit haben, Mitarbeiter anzufauchen - dann würden die ja sofort gehen. Sie können ihre Mitarbeiter oft trotzdem für hohe Ziele begeistern und First-Class-Leistungen bringen. Führungskräfte in Unternehmen sollten sich häufiger fragen, ob ihre Mitarbeiter auch freiwillig bei ihnen bleiben würden. Wenn sich Chefs vorstellen, ein Freiwilligenteam vor sich zu haben, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sich aus Hingabe an die Sache Schwarmintelligenz entwickelt.

Was, wenn es nicht gelingt, Organisationen so zu verändern, dass sie keine Schwarmdummheit mehr produzieren?

Gunter Dueck: Das Internet bringt viele Veränderungen. Unternehmen müssen sich wandeln - sonst kommt etwas Schwarmdummes heraus. In einer Eiszeit sterben Tiere aus, die Wärme brauchen. Wer sich im Kalten zurechtfindet, überlebt. Tiere, die in Höhlen auf das Ende der Eiszeit warten, sterben aus. Viele Unternehmen ziehen sich heute in Höhlen zurück und warten, bis die Welle mit dem Internet wieder weggeht. Ich hoffe, dass die nachwachsende Generation neuer Unternehmen wieder alles ins Lot bringt. Sie will Unternehmen, die nach dem alten Muster ticken, auch gar nicht mehr.

Buchtipp: Schwarmdumm

Im Grunde wissen alle, wie es sein sollte: Wir sollten smarter arbeiten, nicht härter. Nachhaltig, nicht getrieben vom Quartalsergebnis. Gemeinsam fürs Ganze, nicht verzettelt in Abteilungs­interessen. Wir sollten kreativ, in einfachen Prozessen, ohne Stress und Meeting-Marathons arbeiten, die heute den Unternehmensalltag prägen. Klappt aber nicht.

Ex-IBM-Manager Gunter Dueck glaubt zu wissen, warum: Im Team treffen wir die schlechteren Entscheidungen. Zahlenwahn, Zuständigkeitsterror, permanente Hast, Angst vor Fehlern und Verantwortung sowie der fehlende Blick fürs Ganze machen uns schwarmdumm. "Wild Duck" Dueck, der Querdenker der Konzernwelt, zeigt, wie Schwarmdummheit entsteht und wie wir ihr begegnen können.

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324 Seiten, 24,99 Euro,