Die Zeit, mit einem neuen Geschäftsmodell Gewinne einzufahren, ist kurz: Unternehmen erhalten Wettbewerbsvorteile gewöhnlich nur so lange, wie die Wettbewerber die Lösung nicht nachgeahmt oder übertroffen haben. Mehrere Studien unter Top-Managern zeigen übereinstimmend: Die Geschwindigkeit bei der Umsetzung neuer Geschäftskonzepte entscheidet mehr und mehr über den wirtschaftlichen Erfolg – und ist damit die Hauptherausforderung für CIOs und CEOs auf dem Weg zu einem zukunftsträchtigen Geschäftsmodell. Das gilt nicht nur für große Unternehmen. Besonders mittelgroße Firmen geraten unter den Druck ihrer großen Rivalen und müssen sich an die Regeln externer Netzwerke anpassen, um an ihrer Wertschöpfung teilnehmen zu können.
Geschäftsmodell enorm wichtig
Die CEOs halten daher die Geschäftsmodellinnovation und ihre schnelle Umsetzung für mindestens genauso wichtig wie die Produktinnovation, so ein weiteres Ergebnis internationaler Umfragen – darunter eine Studie der englischen Wochenzeitschrift Economist auf der Basis einer Befragung von mehr als 4000 Entscheidern (Grafiken oben und auf Seite 41) und 26 Tiefen interviews, die die Universität St. Gallen mit CEOs und Geschäfts leitungsmitgliedern im vorigen Jahr geführt hat.
Erfolgreiche Unternehmens-Chefs bedienen sich der IT als Enabler, um ihr Geschäftsmodell, also ihre Produkte und Dienstleistungen, Vertriebskanäle, Logistik und vor allem das Erlösmodell, auf die Kunden und ihre Prozesse zuzuschneiden. Anstelle von Produkten erwartet der Kunde Lösungen, die weltweit verfügbar sind und seinen individuellen Bedürfnissen entsprechen.
Ein gutes Beispiel für Geschäftsmodellinnovation liefert Lindt & Sprüngli. Der Schweizer Schokofabrikant belieferte traditionell nur den Großhandel. Doch nun bedient das Unternehmen mit einem Geschenkservice auch direkt den Endkunden. Der schnelle und kostengünstige Aufbau des neuen Geschäftsfeldes gelang über ein Netzwerk externer Partner für Lagerung, Kleinkommissionierung, Zustellung und Zahlungsabwicklung. Die Geschäftsplattform Yellowworld der Schweizer Post und eine nüchterne Risikoabschätzung der Geschäftsleitung machten diesen neuen Ertragsweg erst möglich, denn damit wagte das Unternehmen einen Schritt in unbekanntes Gebiet.
Unternehmen vernetzt mit Kunden
Vergleicht man die Erfolgsfaktoren des Unternehmens im Jahre 2010 mit jenen, die verschiedene Studien in den 70er- und 80er-Jahren ermittelt haben, fällt die sprunghaft gestiegene Bedeutung der Vernetzung mit Kunden und Geschäftspartnern auf. Nicht erkannt, wandeln sich die Erfolgsfaktoren auch schnell in Wettbewerbsnachteile für das Geschäft.
Virtuelle Nachbarn durch neue Zugangskanäle
Neue, elektronisch gestützte Zugänge zu den Kunden wie Portale und maschinelle Kommunikation schaffen vielfach erst die Voraussetzung für Geschäftsbeziehungen über Kontinente hinweg. Die Börse in Tokio wird so zum „virtuellen Nachbarn“ einer kleinen deutschen Regionalbank, weil es kaum noch einen Unterschied in Aufwand und Geschwindigkeit zur Platzierung einer Börsenorder in Frankfurt und Tokio gibt.
Eco-Systeme statt Einzelunternehmen
Das Angebot von Komplettlösungen für ganze Kundenprozesse setzt eine enge Vernetzung zahlreicher Geschäftspartner voraus – Spezialisten für einzelne Produkte und Services sowie Integratoren, die kundenindividuelle Lösungen orchestrieren. Im Finanzverbund der Volks- und Raiffeisenbanken stellen die Kundenberater ihren Kunden maßgeschneiderte Finanzlösungen zusammen. Mit der DZ Bank als genossenschaftlicher „Zentralbank“ im Rücken erbringen die Volks- und Raiffeisenbanken einzelne Bausteine wie Bausparvertrag, Aktienfonds, Wertpapierverwaltung und Zahlungsverkehr nicht mehr selbst. Von der DZ Bank organisierte Spezialisten wie die Bausparkasse Schwäbisch Hall, Fondspezialist Union Investment und die dwp-bank für das Wertpapiergeschäft können diese Services in großen Volumina günstiger und besser erbringen.
Geschäftsprozessplattformen für Netzwerke
Hat ein Unternehmen eine enge, elektronische Kooperation mit einem anderen Unternehmen realisiert, ist es noch lange nicht netzwerkfähig. So muss sich ein Automobilzulieferer wie die ZF Friedrichshafen AG auf den Entwicklungs- und Produktionsprozess eines jeden Automobilherstellers einstellen, also mehrere Kooperationsprozesse beherrschen und IT-Applikationen implementieren und bedienen (ab Seite 26). Geschäftsprozessplattformen beschleunigen die Umsetzung kooperativer Geschäftsmodelle. Sie schaffen mit einheitlichen Geschäftsvereinbarungen, Kooperationsprozessen und Stammdaten die Voraussetzungen für eine flexible Vernetzung. ZF hat zusammen mit anderen Automobilzulieferern die Kooperationsplattform SupplyOn zur so genannten m:n-fähigen Zusammenarbeit in der automobilen Value Chain gebaut.
Services für höheren Gesamtwert
Die Vernetzung lässt Eco-Systeme entstehen, in denen jeder Partner einen oder mehrere Services in einer Wertschöpfungskette beisteuert. Das führt künftig zu einer Service-orientierten Wirtschaft auf drei Ebenen:
Geschäftseinheiten: Von Logistik bis Compliance
Unternehmen beziehen bislang selbst erledigte Aufgaben in ihren Prozessen verstärkt als Services von spezialisierten Anbietern. Derartige Services umfassen Logistikdienstleistungen, Lohn- und Gehaltsabrechnung und Bonitätsprüfung. Der Ersatzteilspezialist von VW „VW Originalteile“ nutzt seinen externen Compliance-Service für seine 5000 als Gefahrgüter und -stoffe eingestuften Ersatzteile. Serviceanbieter TechniData bündelt im Bereich der Chemikaliensicherheit das Know-how zu den gesetzlichen Vorschriften in den einzelnen Staaten. Kunden können Änderungen in ihre Systeme übernehmen und so sicherstellen, dass das jeweilige Ersatzteil gemäß Zielland und Transportroute mit den richtigen Dokumenten ausgerüstet und nach gültigen Vorschriften transportiert wird.
Losgelöste Prozessbausteine Nicht Applikationen, sondern Geschäftsprozesse liefern letztlich die geschäftsrelevanten Leistungen wie etwa eine Auftragserfassung. Die Serviceorientierung muss mit der Modularisierung der Prozesse anfangen: Das zeigen Erfahrungen aus Projekten, die sich um die Service-orientierte Architektur (SOA) drehten.
Wenn jeder Kundenwunsch eine neue Prozessvariante erzeugt, entstehen keine Skaleneffekte. Denn je mehr Varianten nötig sind, umso höher steigen durch zunehmende Komplexität die Kosten. Innovative Geschäftslösungen wie jene des Wäsche-Miet-Services Boco, einem Unternehmen aus dem Mischkonzern Haniel, zerlegen Unternehmensleistungen in kombinierbare Standard-Services wie Waschen, Bügeln und Abholen. Die Kombination standardisierter Prozessbausteine ermöglicht effiziente und individualisierte Leistungspakete, ohne zusätzliche Komplexität durch Prozessvarianten in Kauf nehmen zu müssen.
Hat das Unternehmen diese Modularisierung geschafft, kann es für jeden Prozessbaustein entscheiden, ob es den Service weiterhin selbst erbringt oder von Partnern bezieht. Die Modularisierung von Prozessen ist also zudem eine Voraussetzung für Outsourcing.
Softwarebausteine als Services universell machen
Große Anwendungshäuser sowie Software- und Beratungshäuser eliminieren Redundanzen und damit unnötige Komplexität in ihrer Software, indem sie gleiche Teile in den Applikationen identifizieren und in Repositories als mehrfach einsetzbare Web Services bereitstellen.
Beispiel Auftrags-Management: Zu oft nutzen Unternehmen zur Preisfindung unterschiedliche Module, etwa in ihren ERP- und CRM-Systemen. Durchschnittlich fünf verschiedene Systeme zur Auftragserfassung und vier zur internen Auftragsabwicklung haben Marktbeobachter von AMR Research gezählt. Demnach haben etwa 90 Prozent aller Unternehmen mehrere, parallele Auftragserfassungssysteme. 68 Prozent der US-amerikanischen und 42 Prozent der europäischen Unternehmen transferieren Daten zwischen diesen Systemen manuell, so AMR Research. Das bewirkt eine „schlechte Konsistenz“ der Daten. Die Konsequenz ist, dass die Mitarbeiter im Verkauf für ein und dasselbe Produkt und ein und denselben Kunden unterschiedliche Preise und Rabattstaffeln genannt bekommen. Ein Ausweg liegt in der Kapselung der Preisfindung als ein Service, den alle nutzen.
Plattformen als Drehscheibe für Prozesse
Das Ziel sind Geschäftsprozessplattformen, auf denen der Business Engineer der Zukunft neue Geschäftsmodelle schnell und sicher in neue Prozesse umsetzt, ohne zu sehr auf die Ebene heutiger Systementwicklung der Kodierung und Modifikation hinuntersteigen zu müssen.
Der Umbau der Wirtschaft in Services gelingt durch einen Paradigmenwechsel in der Informationstechnik hin zu Service-orientierten Architekturen. Diese Entwicklung verspricht die Anpassungsfähigkeit neuer Lösungen auf veränderte Geschäftsmodelle.
Während vielerorts noch über den wirtschaftlichen Wert von SOA diskutiert wird, verändert sie de facto bereits die gesamte Wirtschaft. Während früher Mitarbeiter immer wieder den Aufträgen hinterhertelefonieren mussten, da keines der Systeme alle Auftragsinformationen vollständig und aktuell besaß, fällt dieser Koordinationsaufwand jetzt weg. Der Schweizer Mischkonzern ABB beispielsweise führte eine Order- Management-Schicht ein. Darunter ist eine Frühform einer Geschäftsprozessplattform zu verstehen, die Services wie eine Auftragsverfolgung für sämtliche Systeme bereitstellt.
Vision: Wendiger durch Services
Diese Service-orientierte Herangehensweise führte zu einem Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt. Noch dient der Mensch in vielen Organisationen oft lediglich als Datenerfasser und Befehlsausführer der IT-Applikationen. Das demotiviert die Menschen, die Teil mechanischer Prozesse werden. Durch menschliche Intervention verzögern sich allerdings die Prozesse, in der Abwicklung treten Fehler auf. Zudem sind die Personalkosten hoch.
Das wird sich in den kommenden Jahren ändern:
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Arbeitsplätze werden mehr den Sachbearbeiter bei der Lösung von Ausnahmefallen und Konflikten unterstützen und die Zusammenarbeit von Teams fördern.
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Hinzu kommt, dass IT-Applikationen sich nicht nur mehr auf den Büroarbeitsplatz ausrichten, sondern Mobilität und vernetzte Geschäftslösungen unterstützen.
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Das Instrument der Zukunft sind Prozessplattformen.
Deren Vorteil: Sie steuern Routineprozesse schnell und exakt bis hin zur Integration in die Automatisierungstechnik mit Embedded Systems (beispielsweise mit Hilfe von Funketiketten, RFIDs).
Wenn es die Softwareindustrie schafft, durch neue Werkzeuge des Software Engineering betriebswirtschaftliche Enterprise-Services in kombinierbarer und vor allem standardisierter Form bereitzustellen, kommen wir dem alten Ideal des Business Engineering näher. Darin kann der Business Engineer ohne Systemrestriktionen Geschäftsmodelle und Prozesse weiterentwickeln und diese schneller und flexibler als heute aus vorgefertigten Bausteinen auf Geschäftplattformen konfigurieren. Wenn diese Standards ausreichend Verbreitung gefunden haben, werden große wie auch kleine Unternehmen mit den gleichen Software- und Prozesskomponenten offene, unternehmensübergreifende Prozesse realisieren, wie es zuvor fast ausschließlich Abteilungen in großen Unternehmen getan haben.
Flexibilität aus der Serviceorientierung gefragt
Globalisierung, Mergers & Acquisitions und Neugründungen benötigen die Flexibilität aus der Serviceorientierung und verhelfen den Unternehmen zu einer nochnie da gewesenen Dynamik und damit der Gesamtwirtschaft zu steigender Prosperität. Voraussetzung: Der CEO und die anderen Gestalter des Geschäftsmodells erkennen die Potenziale der IT. Und der CIO und sein Team verstehen das Geschäftsmodell.
Autoren: Hubert Österle, Universität St.Gallen, und Peter Zencke, SAP