Mediennutzung in Deutschland

Das TV-Lagerfeuer flackert wieder auf

08.04.2020
Früher holten Shows oder Krimis gefühlt ganz Deutschland vor den Fernseher. TV-Lagerfeuer um TV-Lagerfeuer - es ist lange her. Doch jetzt taucht das Phänomen laut Experten wieder auf.
Ramon Roselly, der DSDS-Superstar 2020, hat die Quoten für RTL deutlich nach oben getrieben.
Foto: RTL, TVNOW / Stefan Gregorowius

Früher war das in vielen Haushalten hierzulande so: Abends versammelte sich die Familie um den wohl wichtigsten Einrichtungsgegenstand im Wohnzimmer - den Fernseher. Gemeinsam sah man eine Show wie "Wetten, dass.?", eine Familienserie wie "Schwarzwaldklinik" oder einen Krimi - und griff dabei zu Schnittchen und Salzstangen auf dem Couchtisch. In den Folgetagen sprach man mit Tante, Bruder, Nachbarn, Arbeitskollegen und den Leuten im Supermarkt über die Sendung.

TV-Lagerfeuer, wohin man schaute. Heute ist diese Zeit gefühlt ewig her. Die digitale Transformation mit Mediatheken, Streaming und Apps hat die Möglichkeiten der Nutzung grundlegend verändert - die TV-Welt ist eine andere geworden.

Neue Infos zur Coronavirus-Krise ziehen die Menschen vor den Fernseher

Doch jetzt - so bilanzieren nun TV-Experten die vergangenen Wochen - flackert wieder was. Der Grund ist ein trauriger: das sich weltweit ausbreitende Coronavirus. Die Vorsitzende der Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft AGF Videoforschung, Kerstin Niederauer-Kopf, sagt der Deutschen Presse-Agentur: "Dieser Tage lodert das TV-Lagerfeuer wieder heftig." Das lineare Fernsehen werde oft gemeinsam konsumiert, "um danach über etwas sprechen zu können". Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass man in Kollektiven zuhause wieder TV konsumiere.

Die Arbeitsgemeinschaft hat einen guten Überblick, weil sie die täglichen Nutzungszahlen der TV-Sender auswertet. Sie hat die Daten der vergangenen Wochen zusammengetragen und analysiert.

Extrem hohe Quoten

Immer wieder fiel zuletzt auf, wie viele Zuschauer Nachrichtensendungen sehen, die über das Coronavirus berichten. Sender legten sofort mit Sondersendungen nach. Nur ein Beispiel, wie hoch die Nutzung sein kann in diesen Tagen: Die 20-Uhr-"Tagesschau" am 22. März schalteten mehr als 12 Millionen Zuschauer im Ersten ein. Sonst erreicht die Nachrichtensendung rund 10 Millionen Zuschauer - aber nur, wenn man auch die Zuschauer auf allen dritten ARD-Kanälen hinzurechnet. Niederauer-Kopf spricht zur derzeitigen TV-Nutzung von einer "Ausnahmesituation" auf einem extremen Niveau.

Eigentlich gab es vor Corona-Zeiten einen ganz anderen Trend. Die Nutzung von klassischem TV, das linear, also gemäß dem laufenden Programm, ausgestrahlt wird, geht zurück. Die TV-Sender investieren in Mediatheken und Streaming-Angebote, um den veränderten Sehgewohnheiten zu entsprechen. Fernsehen schauen heute viele Leute auch über das Smartphone oder am Laptop.

Die TV-Nutzung ist in der Corona-Krise größer geworden. "So ist die Nettoreichweite, also der Anteil der Menschen, die im März 2020 mindestens einmal Kontakt mit dem Medium hatten, spürbar gestiegen, und zwar von 72,0 Prozent im Februar auf 75,0 Prozent im März 2020", heißt es von der AGF Videoforschung. Im Jahr davor seien es noch 70,9 Prozent gewesen. Auch die Sehdauer ist insgesamt gestiegen, allerdings im Vergleich der Märzmonate nicht in allen jüngeren Altersgruppen.

Jüngere Zielgruppen kehren zum linearen Fernsehen zurück

Die AGF Videoforschung bilanziert in ihrer Analyse: "Vor allem jüngere Zielgruppen kehren auf der Suche nach qualitativ hochwertiger Information zum linearen Fernsehen zurück. Der langfristige Abwärtstrend, das Abwandern junger Zielgruppen in andere Medienkanäle, ist vorerst gestoppt." TV erreichte über alle Formate hinweg 37 Prozent der 14- bis 19-Jährigen im März. Im Vorjahr waren es noch 32,9 Prozent. Treiber sind die Nachrichtenformate.

Niederauer-Kopf sagt über den Effekt bei den Nachrichten in Zeiten von Urlaubsabsagen und Kontaktreduzierung: "Sie vermitteln relevante Informationen, werden zur Tagesklammer und zur Richtschnur für das weitere Handeln der Menschen. Fernsehen wird das Fenster zur Welt."

Das Ganze fällt in eine Zeit, in der das Fernsehgerät gerade bei den Jüngeren nicht den Stellenwert wie bei den Älteren hat. Aus dem Digitalisierungsbericht Video 2019 der Landesmedienanstalten ist ersichtlich: Knapp ein Drittel (32,2 Prozent) der 14- bis 19-Jährigen sieht das Smartphone als wichtigstes Empfangsgerät für den Videokonsum. Der Fernseher verlor damit in dieser Altersgruppe seine Spitzenposition. Nur 25,7 Prozent nennen ihn laut Studie als wichtigstes Gerät zur Videonutzung.

Superstar Ramon Roselly treibt die DSDS-Quoten für RTL nach oben

Die private Kölner Sendergruppe RTL bemerkt seit Mitte März hohe Reichweitenzuwächse bei den Zuschauern ab drei Jahren zum Beispiel bei den RTL-Unterhaltungsshows "Deutschland sucht den Superstar" (+ 17 Prozent), "Let's Dance" (+ 4 Prozent) und der Vox-Kochshow "Kitchen Impossible" (+ 13 Prozent). "Die Detail-Analyse zeigt, dass wir dabei auch sehr viele Zuschauer gewinnen, die zuvor kaum auf unseren Sendern unterwegs waren." Auch RTL-Geschäftsführer Jörg Graf spricht von einem TV-Lagerfeuer, das "heller denn je" brenne.

Beim ZDF sind derzeit neben Nachrichtensendungen vor allem Wissenssendungen, aber auch unterhaltende und fiktionale Formate erhöht nachgefragt. "Das ZDF ist auch in der Coronakrise mit Abstand der meistgesehene Sender. Das Vertrauen in unsere Berichterstattung ist groß, und auch die Unterhaltungssendungen haben stark zugelegt", sagt Programmdirektor Norbert Himmler.

Ähnlicher Effekt am 11.09.2001

Gab es schon früher mal eine Ausnahmesituation im TV-Konsum? Niederauer-Kopf nennt als Zeitpunkt die Terroranschläge vom 11. September 2001. Aber im Vergleich zu der jetzigen Situation eher über einen begrenzten Zeitraum. Diese Pandemie sei länger und der Effekt auf die TV-Nutzung voraussichtlich damit auch.

Wird es einen langfristigen Effekt über die Corona-Krise hinaus geben? TV-Expertin Niederauer-Kopf sieht es so: Die Situation gebe "Hoffnung, dass Personen, die die TV-Kompetenz jetzt kennenlernen, ihre Mediennutzung anpassen". Vom ZDF heißt es: "Ob es sich bei der erhöhten Nutzung um einen reinen "Corona-Effekt" handelt, der sich nach der Krise wieder relativiert, bleibt abzuwarten." (dpa/rs)