Alles begann mit einem Tisch, zwei Stühlen und dem Anspruch, dass sich ein Konzern wie Volkswagen mehr Eigenkompetenz in der Softwareentwicklung aufbauen müsse und zwar am besten mit neuen, sprich agilen Arbeitsmethoden. Dreieinhalb Jahre später sitzen Jochen Scherl, Leiter des Digitallabs von VW in Berlin, und Peter Garzarella, Leiter der Software-Entwicklung, mit VW-Personalvorstand Gunnar Kilian in einem umgebauten Lagerhaus im alten Hafen Friedrichshain am Berliner Spreeufer und überlegen, ob sich agile Softwareentwicklung auch außerhalb der Digital Labs bei VW durchsetzen könnte.
Überschaubare Teams und flache Hierarchien
Doch so gut das agile Arbeiten heute in Berlin und in den anderen sechs Digitallaboren des Autokonzerns auch funktioniert, so schwierig lässt sich es sich in die Konzern-IT, die 12.000 Menschen beschäftigt, übertragen. "In jedem unserer Labs sollen möglichst nicht mehr als 120 Leute arbeiten" sagt VW-Vorstand Gunnar Kilian. "Denn für effiziente und qualitativ hochwertige Softwareentwicklung müssen Teams überschaubar sein. Das heißt: flache Hierarchien, agiles Arbeiten, Teamgeist, Start-up-Spirit. Genau das macht unsere Labs aus." Aber Kilian weiß auch, dass gerade junge Informatiker solche Arbeitsbedingungen erwarten und sich von der Konzernwelt mit ihren Hierarchien und Bürokratien abgeschreckt fühlen.
Pilotbereiche für agiles Arbeiten im Konzern
Da Volkswagen mindestens 2000 Digital-Arbeitsplätze schaffen will, muss sich der Autobauer auch jenseits der Labs öffnen. Dazu Kilian: "Wir wollen agiles Arbeiten überall im Unternehmen ermöglichen, wo es sinnvoll ist. Noch in diesem Sommer wird jedes Vorstandsressort Pilotbereiche für agiles Arbeiten definieren. Das haben wir in der Roadmap Digitale Transformation so vereinbart. Spezielle Coaches werden dann die Mitarbeiter in agilen Arbeitsformen trainieren."
Was macht die Arbeit im Digitallabor so anders? Für Lab-Leiter Jochen Scherl ist es die enge Verzahnung der Softwareentwicklung mit den Wünschen des Kunden: "Im Zentrum unserer gesamten Arbeit steht von Anfang an der Kunde. Was will er, was braucht er? Um das herauszufinden, befragen wir auch Leute auf der Straße und holen Kollegen aus den Fachbereichen zu uns ins Lab."
Erste Software nach drei Wochen
Nach drei bis sechs Wochen Entwicklung könne man die erste laufende Software bereitstellen. "An dieser erproben wir dann gemeinsam mit den Kunden, ob wir deren Bedürfnisse erfüllen, und arbeiten daran weiter", so Scherl. Darum führt auch eine Rampe zu dem Großraumbüro im Erdgeschoß, auf der dann ein Auto zum Testen reinfahren kann. Der Büroboden ist darum so belastbar wie im Autohaus.
"Pair Programming und wechselnde Teams sind in unseren Labs Grundprinzipien der Softwareentwicklung. Die Teams steigern damit ihre Ergebnisqualität, und zugleich bleibt jeder Einzelne auf Ballhöhe, erweitert stetig seinen Erfahrungsschatz und kann sich konstruktiv einbringen. Das fördert den Teamgeist und motiviert", nennt Andrea Morgan-Schönwetter, Leiterin Recruiting & Talent Marketing, zwei weitere Unterschiede.
Beim Pair Programming teilen sich zwei Entwickler einen Schreibtisch und einen Rechner, der eine schreibt den Code, der zweite schaut zu und entdeckt Fehler. Solche Arbeitsmethoden wurden anfangs in Wolfsburg skeptisch beäugt, schon die Bestellung von Schreibtischen, die nur 1,20 Meter lang sind und nicht der Norm entsprechen, war im Büromittelkatalog des Konzerns nicht vorgesehen. Da mussten die Pioniere des Labs viel erklären und Überzeugungsarbeit leisten. Entwicklungschef Peter Garzarella ist stolz darauf, dass "wir hier sehr viele kreative Köpfe haben."
Die Mitarbeiter bekämen im Lab großen Freiraum, was aber nicht heißt, dass sie arbeiten können, wann und vor allem wie lange sie wollen. In dem Punkt grenzt sich das VW-Lab bewusst von den zahllosen Startups in Berlin ab, so Garzarella weiter: "Pair Programming bedeutet aber auch hochkonzentriertes Arbeiten und permanenten Austausch. Das ist anstrengend. Deshalb endet der Arbeitstag hier im Digital Lab um 17 Uhr, denn für kreative Kopfarbeit sind Erholungsphasen unverzichtbar."
Start mit Frühstück und Stand-up-Meeting
Gemeinsam in Pairs zu arbeiten bedeute auch, zu gleichen Zeiten zu arbeiten: Also treffen sich alle morgens, und der Tag beginnt mit einem kurzen Frühstück und einem gemeinsamen Stand-up-Meeting. Im Regal finden sich dann auch diverse Müslisorten, im Kühlschrank die Fruchtsaftschorlen und Colagetränke der Hipster-Marken. Typische Zutaten der Startup-Arbeitskultur, aber angereichert mit tariflich vereinbarten Arbeitszeiten und Gehältern.
Auch wenn die Lab-Welt weit von Wolfsburg entfernt scheint, will man keine IT der zwei Welten. Lab-Leiter Jochen Scherl betont darum: "Unsere Arbeit hier im Lab ist nur möglich, weil die Kolleginnen und Kollegen in der Produktion einen erstklassigen Job machen. Deshalb besuchen unsere Leute auch die Werke."
Mittlerweile scheint sich die Skepsis gegenüber den Digilabs verringert zu haben, die Anfragen und Entwicklungsaufträge kommen heute von allen Marken des Konzerns. Für Entwicklungschef Garzarella sind die Labs auch deshalb ein Erfolgsmodell, weil die Software Hand in Hand entwickelt wird: "Ich bin überzeugt: Heldenkarrieren einzelner Software-Entwickler gehören der Vergangenheit an. Vieles ist heute zu komplex. In Zukunft werden nur Gruppen gemeinsam Großes erreichen. Deshalb kommt es darauf an, dass die Teams gut funktionieren."
60 Menschen aus 27 Nationen
Die agilen Teams sind auch bei VW mit Mitarbeitern besetzt, die unterschiedliche Berufsprofile haben und damit verschiedene Sichtweisen auf das Thema mitbringen. So arbeitet Yonatan Chelouche aus Tel Aviv als Product Manager im Team "Vehicle Connectivity Framework" mit UX/UI Designerin Melissa Zee aus Singapur und Softwareentwickler Oliver Schnell zusammen. Gemeinsam bauen sie eine Plattform, die den Kunden einen Remote-Zugriff zum Fahrzeug ermöglicht. Zugehörige Services wie WeDeliver sollen es ermöglichen, dass sich Autofahrer Pakete in den Kofferraum liefern lassen können.
Melissa Zee hat schon im Vorstellungsgespräch gemerkt, dass "die künftigen Kollegen die gleiche Einstellung haben. Die unterschiedlichen Kulturen - im Lab arbeiten 60 Menschen aus 27 Nationen - verbinden sich hier gut. Wir sprechen deshalb auch alle Englisch." Nach "Feierabend" trifft man im Lab viele Leute an, die in der Community weiter an IT-Themen arbeiten oder ihre Freizeit miteinander verbringen. Entwickler Oliver Schnell hat das Lab-Konzept auch sofort angesprochen: "Für mich war es spannend, dass ich hier in Berlin arbeiten kann wie im Silicon Valley."