Zumindest eines ist klar: Wenn die britische Premierministerin Theresa May sich am Mittwoch in Brüssel mit den Staats- und Regierungschefs der 27 übrigen EU-Staaten trifft, wird eine Entscheidung zum Brexit fallen. Und sie wird weitreichende Konsequenzen haben.
Gibt es eine erneute Fristverlängerung, müssen die Briten, die der EU eigentlich den Rücken kehren wollen, am 23. Mai noch einmal an der Europawahl teilnehmen. Sie könnten dann gar bei der Entscheidung über den künftigen EU-Kommissionspräsidenten das Zünglein an der Waage sein.
Der Gipfelbeschluss muss auf jeden Fall einstimmig fallen. Sagt auch nur einer aus der inzwischen reichlich genervten 27er-Runde Nein, ist es so gut wie unmöglich, einen Chaos-Brexit am Freitag um Mitternacht mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft und zahlreiche andere Lebensbereiche noch in letzter Minute abzuwenden. So kann die schier unendliche Brexit-Geschichte weitergehen:
Ein harter Bruch - oder Einigung in letzter Minute
Sollte die EU einer Verlängerung nicht zustimmen, droht am Freitag endgültig ein harter Bruch mit der Staatengemeinschaft - es sei denn, der Brexit-Deal, den May mit der EU ausgehandelt hatte, wird in London vor Fristablauf kurzfristig doch noch abgesegnet. Doch dass das heillos zerstrittene britische Parlament das in letzter Minute noch schaffen könnte, glaubt inzwischen kaum mehr jemand. Dass May sich angesichts des totalen Stillstands im Unterhaus entschlossen hat, der oppositionellen Labour-Partei die Hand zu Gesprächen zu reichen und mit ihr nach einem überparteilichen Kompromiss zu suchen, ändert daran wenig. Schließlich hat das Unterhaus schon dreimal "No" gesagt.
Ob einer aus der Runde der 27 bleibenden EU-Staaten tatsächlich sein Veto gegen einen erneuten Fristaufschub einlegen wird, ist noch unklar. Von allen Seiten schallte es zuletzt, eine Verlängerung sei nur drin, wenn Großbritannien einen glaubhaften und nachvollziehbaren Weg dafür aufzeichnen kann, wie der Austritt geordnet vonstatten gehen soll. Mit einem bedingungslosen Ja kann May in Brüssel also nicht rechnen. Grund genug für sie, am Dienstag kurzfristig nach Berlin und Paris zu reisen, um bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron Überzeugungsarbeit zu leisten.
Macron hatte sich mehrfach skeptisch zu einem weiteren Aufschub geäußert. Die EU könne nicht dauerhaft "Geisel" einer politischen Krisenlösung in Großbritannien sein. "Unsere Priorität muss das gute Funktionieren der Europäischen Union und des (EU-)Binnenmarkts sein", sagte der Präsident. Ähnlich zweifelnd gab sich Österreichs Kanzler Sebastian Kurz von der konservativen ÖVP. Für einen Aufschub gebe es "aus derzeitiger Sicht (..) überhaupt keinen Grund", sagte er Mitte vergangener Woche. "Es gibt keinen klaren Weg, der mehrheitsfähig ist im britischen Unterhaus."
Eine rote Linie haben die EU27 jedenfalls gezogen: Es komme nicht in Frage, den fast 600 Seiten dicken und in ebenso zahllosen wie mühsamen Runden ausgehandelten Brexit-Vertrag nochmals aufzuschnüren. Anders ist das bei der Politischen Erklärung zu den künftigen Beziehungen zu Großbritannien. Da sei die EU bereit, eine "Dosis Flexibilität" hinzuzufügen, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erst vor wenigen Tagen.
Kurzer Aufschub bis zum 30. Juni
Doch wie viel Zeit sollen die Briten noch bekommen? May will den Aufschub möglichst kurz halten und hat deshalb bei der EU nur eine Verlängerung um zweieinhalb Monate bis zum 30. Juni beantragt. Damit müssten die Briten die Teilnahme an der Europawahl zumindest vorbereiten. Mays Kalkül: Gelingt rechtzeitig vor dem ersten Wahltag am 23. Mai doch noch der Befreiungsschlag, könnte London die im Land nur schwer zu vermittelnde Wahlteilnahme der Briten kurzfristig abblasen. Das Parlament in London sicherte sich kurz vor dem Gipfel ein Mitspracherecht bei der Austrittsfrist. Die Regierung legte Mays Vorschlag dem Unterhaus noch in der Nacht als Antrag vor.
Langer Aufschub bis zu zwölf Monate
EU-Ratschef Donald Tusk hat einen ganz anderen Plan. Aus seiner Sicht würde eine kurze Verlängerung die Gefahr bergen, dass womöglich bald wieder über eine nochmalige Verlängerung entschieden werden muss. Er schlägt deshalb ein flexibles Modell vor: Die Briten sollen bis zu zwölf Monate Zeit bekommen, um einen Kompromiss zu schmieden, der für alle Seiten tragbar ist. Wenn es früher klappt, dürfen sie auch früher gehen.
Die Kehrseite der Medaille: Die Hängepartie ginge dann wohl noch eine ganze Weile weiter. Bei einer langen Fristverlängerung müssten die Briten am 23. Mai zudem auf jeden Fall an der Europawahl teilnehmen. Diese Vorstellung schmeckt auch Vielen in der EU nicht. Die Briten könnten dann weiter über die Finanzen der Gemeinschaft mitentscheiden, die sie eigentlich schnellstmöglich verlassen wollen.
Aufschub bis zum Sankt-Nimmerleinstag?
Und dann gibt es noch diejenigen, die fürchten, dass Großbritannien womöglich ewig - mehr oder weniger eng - an die EU gebunden bleiben könnte, wenn erst einmal ein sehr langer Aufschub beschlossen ist. Vor allem den Brexit-Hardlinern graut davor, dass es in London zu einem Kompromiss kommen könnte, der einen Verbleib des Landes in der Zollunion vorsieht, was Handelsabkommen mit Staaten außerhalb der EU unmöglich machen würde. Ganz ausgeschlossen ist auch das nicht. (dpa/rs)