Wundpflaster, Verbände, Windeln und Desinfektionsmittel für Krankenhäuser und Pflegeheime gehören zu den Kernprodukten der Hartmann Gruppe aus Heidenheim an der Brenz. Wie kann eine Digitalisierungsstrategie für so ein Unternehmen aussehen? Sinanudin Omerhodzic, seit Januar 2017 als CIO an Bord, sieht die Lösung in besseren medizinischen Produkten: "Die Menschen leben länger und brauchen mehr Leistungen des Gesundheitssystems", erläutert der Diplominformatiker die Ausgangslage. Dadurch steigen die Kosten. Die Nachfrage nach Versorgungsleistungen nimmt zu, es werden mehr Ärzte und Pflegekräfte gebraucht.
Die Patienten, so Omerhodzic, benötigten nicht nur mehr, sondern auch bessere medizinische Services. Auf die Anbieter von Medizin- und Pflegeprodukten kommen zugleich wachsende Ausgaben für das Umsetzen neuer regulatorischer Anforderungen zu, darunter etwa die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR). Mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen verlangen auch Themen wie Datensicherheit und generell der digitale Wandel auf verschiedenen Ebenen.
Wie groß der Nachholbedarf ist, zeigt der Blick auf den Digitalisierungsindex des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie aus dem Jahr 2018. Die Healthcare-Branche liegt mit 34 Punkten abgeschlagen auf dem letzten Platz. Daraus ergeben sich Herausforderungen, aber auch enorme Chancen, sagt Omerhodzic: "Die Gesundheitsbranche wird im Vergleich zu anderen Sektoren den stärksten Wandel erfahren." Schon heute ließen sich beispielsweise künstliche Ohren per 3D-Druck herstellen. Auch komplexere Organe wie Herz oder Lunge würden schon bald gedruckt, erste Prototypen gibt es bereits.
Chancen der Digitalisierung
Das Problem des Ärztemangels auf dem Land könnten Telemedizin-Systeme lindern. Online-Termine mit dem Arzt und KI-basierte Systeme, die selbständig erste Diagnosen erstellen, werden künftig für eine Entlastung sorgen, erwartet der CIO. Großes Potenzial sieht er auch in Gesundheits-Apps, kombiniert mit Wearables, die beispielsweise die Herzfrequenz von Patienten überwachen und bei Auffälligkeiten Alarm schlagen: "Am Ende wird ein Ökosystem aus Apps entstehen, von dem sowohl die Patienten als auch Ärzte und Versorgungseinrichtungen profitieren."
Digitale Prozesse im Krankenhaus
Wie kann ein Unternehmen wie die Hartmann Gruppe von dieser Entwicklung profitieren? "Wir müssen neue Wege finden, unsere Produkte im Markt zu positionieren", sagt Omerhodzic. Ein erfolgversprechender Weg sei es, klassische Produkte um digitale Services und Lösungen zu ergänzen, beispielsweise im Bereich Logistik und Einkauf. Viele Krankenhäuser kämpften mit hohen Prozesskosten, die Nachbestellung eines medizinischen Produkts koste im internationalen Durchschnitt stolze 100 Dollar.
Hartmann hat für solche Szenarien in Spanien eine "SensorBox" entwickelt, in der Krankenhäuser medizinische Produkte aufbewahren. Werden Artikel entnommen, bestellt das System ab einem bestimmten Wert automatisch nach. Ähnlich dem viel zitierten Kühlschrank, der via Internet-Anschluss selbständig die ausgegangene Milch nachbestellt, hat Hartmann damit eine intelligente Inventarisierungslösung für seine Produkte geschaffen, die den Bestellprozess automatisiert und hilft, Kosten zu sparen.
Wie sich etablierte Produkte mit Software aufwerten lassen, zeigt sich auch im Bereich der Desinfektionsmittel. Durch Infektionen entstehen Krankenhäusern enorme Kosten, berichtet Omerhodzic. Vor diesem Hintergrund entwickelt Hartmann eine KI-basierte Software zur Früherkennung und Prävention von Infektionen. Das System wertet unterschiedliche patientenrelevante Daten aus und ist in der Lage, Infektionen in einem frühen Stadium zu identifizieren.
Selbst für Commodity-Produkte wie Windeln arbeitet der Hersteller an einer digitalen Ergänzung: Im Pflegealltag muss das Personal in der Regel alle zwei Stunden prüfen, ob eine Windel gewechselt werden muss. Das ging bislang nur manuell. Eine mögliche Lösung ist ein Sensor in der Windel. Omerhodzic: "Unser Produkt wird damit digital."
Welche Rolle die IT-Organisation in diesem Veränderungsprozess spielt, erläutert der CIO anhand des Reifegradmodells von Gartner. Von einem reinen "ServiceProvider" (Reifegrad 1) soll sich die Hartmann-IT bis 2022 zu einem "Technology Innovator" (Reifegrad 4) weiterentwickeln: "Die IT stellt künftig die Technologien bereit, um gemeinsam mit dem Business Wettbewerbsvorteile zu generieren und neue Geschäftsmodelle zu generieren".
Dass diese Entwicklung nicht von heute auf morgen zu schaffen ist, räumt der Manager ein. Schon 2017 startete er das Transformationsprogramm "Accelerate 2022", das sich auf die zwei Dimensionen "Operational Excellence" und "Digital Excellence" konzentriert. Im ersten Teil geht es vor allem darum, Ressourcen für digitale Projekte freizuschaufeln. Omerhodzic setzt dabei stark auf Cloud Computing und hat etliche Business-Anwendungen in die Cloud verlagert.
"Wir haben uns für eine hybride Strategie entschieden", erklärt er die Hintergründe. "Ziel ist es, alle Applikationen, die Standardgeschäftsprozesse abbilden, in der Cloud zu betreiben." Eine Ausnahme bildeten nur Anwendungen, die einem regulatorischen Einfluss unterliegen. In einem groß angelegten Infrastrukturprojekt hat die Hartmann Gruppe bereits 30 Rechenzentren aufgegeben und die Workloads in einem vom Dienstleister Axians IT Solutions gehosteten Data Center konsolidiert.
Kostenvorteile durch Konsolidierung
Erhebliche Kosteneffekte erhofft sich der CIO auch durch eine Harmonisierung und Konsolidierung der komplexen IT-Landschaft, in der zu Beginn des Transformationsprogramms rund 2.000 verschiedene Systeme arbeiteten. Ähnliches gilt für die IT-Organisation, die aus 14 verteilten Einheiten bestand. Im Rahmen der Initiative "OneIT" hat Hartmann diese zu einer globalen Einheit zusammengeführt.
Erfolgskritisch auf dem Weg der digitalen Transformation sind für Omerhodzic zwei neue Rollen, die er innerhalb der IT etabliert hat. Zum einen soll ein "Technology Leader Market" künftig Vertriebskollegen zum Kunden begleiten, Probleme identifizieren und technische Lösungen vorschlagen. Daneben gibt es den "Technology Leader Scout", der sich darauf konzentriert, technische Trends im Markt zu identifizieren und zu bewerten.
Wo die Reise hingeht, zeigt die Digital Hartmann Healthcare Platform (DHHP). Sie soll künftig sämtliche Services für Kunden digital zusammenfassen. Zu den Kunden gehören neben Krankenhäusern und Pflegeheimen auch Apotheken und Patienten. Technisch basiert die Cloud-gestützte Plattform auf Microsoft Azure. Erste Apps auf DHHP hat Hartmann im November live gestellt, weitere sollen 2020 folgen.
Investiert hat Omerhodzic auch in das Thema Security. Die Position des Chief Security Officer wurde mit zusätzlichem Personal verstärkt. Mit einem neu konzipierten Security Framework will Hartmann zudem die immer noch fragmentierte Applikations- und Infrastrukturlandschaft schützen. Dabei kommen auch externe Dienstleister zum Einsatz, die testweise Angriffe gegen die Architektur fahren.
Auf der Agenda des CIO steht zudem die anspruchsvolle Aufgabe, die IT vom Kostenblock zu einem Profit- Center weiterzuentwickeln. Omerhodzic: "Wir brauchen dazu unter anderem geeignete Charging-Systeme." Zu berücksichtigen seien nicht nur Kosten, sondern auch die Umsatzeffekte von IT-Initiativen.
Good IT versus Bad IT?
Eine IT der zwei Geschwindigkeiten, wie sie Gartner einst mit dem Konzept der Bimodal IT beschrieben hat, hält Omerhodzic für den falschen Weg: "Eine Trennung in Good IT und Bad IT ist kontraproduktiv und führt nur zu internen Konkurrenzkämpfen."
Am Ende müssten alle IT-Mitarbeiter die zwei grundlegenden Methoden zum Umsetzen von IT-Projekten beherrschen: konservativ, etwa nach dem Wasserfallmodell, oder progressiv mit Hilfe agiler Methoden. Entschieden werde dabei stets projektspezifisch: "Ist ein Projekt klar umrissen, bietet sich womöglich eine klassische Herangehensweise an. Bei neuen Themen mit vielen Unbekannten eignen sich agile Methoden besser." Wichtig sei, dass sämtliche Mitarbeiter sich weiterentwickelten und neue Methoden kennenlernten, ohne die herkömmlichen Arbeitsweisen als minderwertig anzusehen.
Change-Programm für die IT
Last, but not least gehört zum digitalen Umbau auch ein Change-Programm für die IT, das der CIO aufgesetzt hat. "Es geht darum, das richtige Mindset zu kreieren, den Mitarbeitern Tools und Methoden an die Hand zu geben und von Best Practices aus anderen Bereichen zu lernen", beschreibt er die Schwerpunkte. Dafür habe man auch zusätzliche Experten eingestellt.
In einem Unternehmen, das seit 200 Jahren mit starken Marken erfolgreich ist, spiele die Haltung der Mitarbeiter eine besondere Rolle, so Omerhodzic: "Wenn einer um die Ecke kommt und sagt, ab sofort machen wir alles anders, kann das schon zu Spannungen führen." Mitarbeiter von außen könnten helfen, eine neue Kultur ins Unternehmen zu tragen. Um schneller Fachkräfte zu gewinnen, plant Hartmann unter anderem Digital Hubs an internationalen Standorten, beispielsweise in Spanien und Tschechien.