Insgesamt 30 - 40 Prozent weniger Komplikationen bei OPs, dank der Digitalisierung der Operationssäle. Und die Ärzte könnten - eine vollständige Digitalisierung der Prozessketten im Krankhaus vorausgesetzt - ihre Arbeitszeit deutlich effizienter nutzen, statt wie heute die Hälfte ihrer Zeit für Dokumentationsarbeiten aufzuwenden. Angesichts solcher Zahlen stellt sich die Sinnfrage nach der Digitalisierung im Healthcare nicht mehr, dafür aber die Frage, warum die Entwicklung so zögerlich voranschreitet?
Zu den Vorreitern in Sachen Digitalisierung im Healthcare zählt sicherlich die Münchner Brainlab AG. Die Münchner vermarkten Lösungen zu Digitalisierung des OPs und haben sich dabei auf eine Nische konzentriert: Hard- und Software für die bildgesteuerte Operation sowie die Strahlentherapie in der Onkologie. Heute beschäftigt das mittelständische Unternehmen rund 1.400 Mitarbeiter an 18 Standorten weltweit und kann auf mehr als 11.800 installierte Systeme zurückblicken.
Digitaler OP Made in Germany
Und dabei ist der Digitale OP bereits heute Realität, wie eine Tour durch die OP-Demoräume der Münchner Brainlab AG zeigt. Im OP des 21. Jahrhunderts sind die Zeiten vorbei, in denen die Krankenschwester noch per "Laufzettel" kontrollierte, wer der Patient ist und was seine wichtigsten Vitaldaten sind. Heute wird der Patient digital im OP eingecheckt und eine elektronische Checkliste - vergleichbar den Listen, die Piloten abarbeiten - soll sicherstellen, dass nichts vergessen wird.
Dabei reicht die Digitalisierung von der OP-Planung bis zur Durchführung. So wird die OP-Vorbereitung etwa durch eine interaktive und automatische Segmentierung der Patientenbilddaten unterstützt. Während der OP hilft dem Arzt eine Art "Navigationssystem", die richtigen Schnitte zu setzen und dies möglichst minimal invasiv. Bei Mikroskop-gesteuerten Eingriffen helfen zudem Mixed-Reality-Bildinformationen. Und last but not least offerieren die Münchner Roboter für den Operationssaal. Im Gegensatz zum bekannten Da-Vinci-Operationssystem, bei deren Entwicklung die Remote-Fähigkeit im Vordergrund stand, ist der Roboter der Münchner eher als eine Art dritter Arm beziehungsweise Hand gedacht.
Gerade die bildgebenden Systeme lassen selbst einen Technik-Nerd stauen, wenn etwa ein zu entfernender Tumor dreidimensional in 4K-Qualität auf dem Bildschirm dem Chirurgen die Orientierung im Gehirn erleichtert. Zudem nehmen hochauflösende Kameras die OP auf. Dabei kann der Arzt das Videobild auch streamen - etwa an Studenten, oder um die Expertise von entfernten Kollegen einzuholen.
Zudem lassen sich die Videos speichern, so dass sich ein klassischer OP-Bericht eigentlich erübrigen würde. Dieses Handling hat noch einen Vorteil: Da der digitale OP lernen kann, lassen sich die Informationen per Machine Learning analysieren. So können bessere Eingriffsverfahren oder auch verfeinerte Analysen entwickelt und den anderen Systemen mitgeteilt werden, so dass jeder Arzt davon profitiert.
Fehlende Vernetzung
Ein Nutzen der sich allerdings nur mit Verzögerung einstellt, denn hier wir der Technik-Nerd unbarmherzig auf den Boden der Realität zurückgeholt: Und der heißt bei vielen Krankenhäusern - Fehlanzeige in Sachen Vernetzung zum übergreifenden Datenaustausch. Wie in den Anfangsjahren der IT ist hier dann "Turnschuh-Support" angesagt, sprich die Service-Techniker müssen bei ihren Besuchen die Daten manuell auf Datenträger überspielen, um sie dann nach München zur Auswertung zu schicken.
Aktualisierte und verbesserte Soft- und Firmware muss dann auf umgekehrten Wege wieder in die Systeme eingespielt werden - ein langwieriger Prozess. Kompliziert wird die Sache zudem noch durch die unterschiedlichen Datenschutzregeln, die sich hierzulande sogar von Stadt zu Stadt unterscheiden können. Deshalb zählt Brainlab wohl zu den wenigen Unternehmen, die sich auf die GDPR/DSGVO freuen. Die Münchner versprechen sich davon eine Harmonisierung, die ihnen die Arbeit zumindest an diesem Punkt erleichtert.
Der OP wird zum IT-Projekt
Denn Arbeit bleibt genügend beim IT-Projekt Operationssaal. So rechnen die Münchner etwa mit einer Bauzeit von 2 bis 3 Jahren für einen neuen digitalen Operationssaal. Neben der Anbindung an die Krankenhaus-IT, etwa die entsprechenden SAP-Systeme, sind bei der Planung noch etliche andere Feinheiten zu beachten. So müssen etwa Glasfasern für die Datenverbindungen verwendet werden, da MRT und Co. mit ihren starken Magnetfeldern klassische Ethernet-Kabel stören könnten. Ein Aspekt, der nicht nur bei den Kabeln zum Tragen kommt, sondern auch für die anderen IT-Komponenten gilt, weshalb die Rechner etwa 100 Meter vom OP entfernt installiert werden, um Wechselwirkungen zuverlässig auszuschließen.
Bis zum digitalen OP von heute war es ein langer Weg, der bis ins Jahr 1986 zurückreicht. Damals schrieb Brainlab-Gründer Stefan Vilsmeier das Buch "3D-Konstruktion mit GIGA-CAD-Plus auf dem C64/C128" das im Markt & Technik Verlag erschien. Mit über 50.000 Exemplaren verkaufte sich das Werk überraschend gut. Mit diesen Einnahmen gründete Vilsmeier, der in München Informatik mit Nebenfach Theoretische Medizin studierte, 1989 noch im ersten Semester Brainlab. Sein Ziel: Er wollte computergestützte Medizintechnik entwickeln.
Eine seiner Ideen war dabei, aus den schichtbasierten, zweidimensionalen Aufnahmen wie sie ein Röntgengerät oder MRT liefern, per Rechner ein dreidimensionales Bild zu liefern, um den Ärzten eine bessere Vorstellung von der Lage eines Tumors etc. zu ermöglichen. Mit Infrarot-Punkten, die etwa einen festen Bezugspunkt auf dem Kopf des Patienten ermöglichen, verfeinerte Vilsmeier sein Verfahren und entwickelte es zu einer Art Navi für den OP-Eingriff weiter.
Roboterarm zur Unterstützung
Diese "Navigation" erlaubt zum einen sehr genaue minimal invasive Eingriffe als auch eine genaue Strahlentherapie, da der Arzt an der 3D-Abbildung jederzeit genau sieht, wo er sich mit seinem Instrument bewegt. Entsprechend vielfältig sind die Einsatzmöglichkeiten in der Chirurgie - etwa im Bereich der Wirbelsäulen- und Rückenmark-Operationen. Im Lauf der Zeit wurde das Ganze noch durch Brainlab Robotics verfeinert beziehungsweise ergänzt. Bei Brainlabs Robotics handelt es sich um einen Roboterarm für spinale und kraniale Applikationen. Parallel zu diesen Entwicklungen entstand bei Brainlab der oben angesprochene Digitale OP.
Nachdem der Digitale OP bereits hören und sehen kann steht als nächster Schritt das Lernen auf der Agenda. Hier befindet sich die Entwicklung noch am Anfang. Was das System stand heute etwa kann, ist die Bildverteilung auf den verschiedenen Bildschirmen im OP je nach Art des Eingriffs automatisch zu optimieren. Oder per ML-Technologie Anomalien an Objekten zu erkennen. Bis die KI den OP wirklich erobert, dürfte aber noch einige Zeit dauern, denn neben der fehlenden Vernetzung sind dort auch noch etliche regulatorische Vorgaben zu klären. Dann fragen die Patienten womöglich vor einem Eingriff nicht mehr nach einer Chefarztbehandlung, sondern wollen wissen, ob der OP auch wirklich das aktuellste Software-Release hat.