Schlagwörter wie Industrie 4.0, Smart Energy, E-Health und Customer Experience beschreiben die Digitalisierungswelle in vielen Branchen. Im Zuge dieser Entwicklung verschieben sich auch die Schwerpunkte in den IT-Projekten der Anwenderunternehmen, die ihre IT-Budgets künftig stärker in Richtung Kundenkontakt und -service sowie Produkt- und Produktionsverbesserung verlagern. Ziel ist es, Kunden mit mobilen Apps, innovativen Web-Angeboten, intelligenten Produkten und digitalen Diensten zu begeistern.
Für die IT-Dienstleister bedeutet dieser Wandel in den Anforderungen Chance und Risiko zugleich. In den vergangenen 20 Jahren lag der Schwerpunkt der Arbeiten auf den Backend-Prozessen. Es ging darum, Effizienzschätze zu heben und Abläufe so schlank wie möglich zu gestalten. Inzwischen ist das Frontend in den Vordergrund gerückt - die Schnittstelle zum Kunden.
Dieser Trend hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Angebotsportfolio der IT-Service-Provider - und auf die Wettbewerbslandschaft insgesamt. In den vergangenen Jahren haben die IT-Dienstleister gut an Einführungs- und Konsolidierungsprojekten, etwa für ERP-, CRM-, SCM- und andere zentrale Business-Applikationen, verdient. Dafür haben sie die entsprechenden Strukturen und Kompetenzen aufgebaut, dafür haben sie Mitarbeiter eingestellt. Dieser Umsatzstrom wird nicht einfach versiegen, aber er wird allmählich schwächer.
Das Geschäft mit Frontend-Lösungen benötigt andere Fähigkeiten in der Projektarbeit, der Kundenbetreuung sowie in Marketing und Vertrieb. Die Kundenvorhaben werden nun kleinteiliger, kürzer, schneller und volatiler. Zudem tauchen neue Wettbewerber mit einer anderen Unternehmensgeschichte auf.
IT-Projekte am Frontend
Am deutlichsten sichtbar werden die Veränderungen bei Projekten rund um das Marketing. "Hier rasen zwei unterschiedliche Anbietertypen mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu", beschreibt Pascal Matzke, Vice President und Research Director bei Forrester Research.
Gemeint sind zum einen klassische Systemintegratoren wie Accenture und Capgemini, die ihre Wurzeln in der IT und in der Prozessgestaltung haben. Zum anderen drängen Marketing-Agenturen wie Razorfish oder Sapient Nitro in diesen Markt. Ihr Vorteil: Sie haben längst den Zugang zu den Chief Marketing Officers (CMOs), an deren Budgets nun alle heranwollen.
"Customer Engagement" oder "Customer Experience" sind die neuen Schlagwörter, um die sich alles dreht. Die IT-Dienstleister helfen ihrer Klientel, das Kundenverhalten zu durchschauen und Interesse, im besten Fall Begeisterung, für Produkte und Marken zu wecken. Die Projekte sind vielfältig. Eine Aufgabe kann es etwa sein, Apps und neue Dienste so mit den unternehmensinternen Prozessen zu integrieren, dass Kunden ortsbezogen Daten zur Produktverfügbarkeit erhalten und Einkäufe direkt abwickeln können.
Das Beispiel zeigt: Neue IT-Arbeiten fallen am Frontend wie am Backend an. Das eine können die Agenturen besser, das andere die IT-Integratoren. Und beide Gruppen bauen ihre Tätigkeitsfelder in die jeweils andere Richtung aus.
IT-Projekte im Backend
Doch nicht jedes IT-Infrastrukturprojekt hat künftig nur noch mit der Unterstützung des Kunden-Frontends zu tun. Wafa Moussavi-Amin, Deutschland-Chef des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens IDC, relativiert. Er erwartet eine Diversifikation zwischen den klassischen Vorhaben rund um die unterstützten Kernprozesse und solchen IT-Projekten, die die Digitalisierungsstrategie der Unternehmen vorantreiben.
Geht es um typische Vorhaben im Bereich der betriebswirtschaftlichen Anwendungen, haben sich die indischen Dienstleister weit in den Vordergrund gespielt. Die lokalen Player haben den Preisen der Asiaten auf Dauer nichts entgegenzusetzen. "Die indischen Service- Provider haben im vergangenen Jahr um mehr als 20 Prozent in Deutschland zugelegt", bilanziert Moussavi-Amin. "Die heimischen Anbieter können deren Preise nicht unterbieten. Sie müssen dagegenhalten, haben aber viel höhere Kosten."
Argumente für die lokalen Dienstleister waren in diesem Zusammenhang bislang die Kundennähe und das Branchen-Know-how. Doch die Anwender fragen sich inzwischen, wie wichtig diese Faktoren für ihren Geschäftserfolg sind. "Die indischen Anbieter haben künftig die Aufgabe, die Maschinen am Laufen zu halten, die im Hintergrund die Unternehmen antreiben", fasst Moussavi-Amin zusammen.
Standardlösungen dringen in Kernbereich des Geschäfts vor
Allerdings stehen auch die indischen Anbieter vor Herausforderungen. Laut IDC tendieren die Kunden dazu, ihre Standardsoftware möglichst unangetastet zu lassen und den Aufwand für Customizing und Individualsoftware einzuschränken. Beispielhaft nennt Forrester-Analyst Matzke die Deutsche Bank. Sie habe sich schon vor Jahren entschieden, ihr Kernbankensystem nicht mehr als wettbewerbsdifferenzierend zu betrachten und es mit anderen Banken zu teilen.
Für Service-Provider steigt so die Notwendigkeit, wiederverwertbare, standardisierte Lösungen zu schaffen. "Sie müssen Asset-based Services bieten können, also modulare Baukästen zur Gestaltung von Unternehmensprozessen", sagt Matzke. Damit werde das Servicegeschäft auf Dauer weniger personalintensiv. Der heute noch gültige Kostenvorteil von Anbietern mit hohen Offshore-Kapazitäten wird langfristig unwichtiger.
Matzke untermauert diese Einschätzung mit seinen Beobachtungen aus Analysten-Calls zur wirtschaftlichen Situation von IT-Dienstleistern: Früher sei das Mitarbeiterwachstum ein wichtiges Indiz für den Erfolg eines indischen Providers gewesen. Heute interessierten sich die Finanzanalysten besonders für den Anteil der Asset-based Services am Gesamtumsatz.
Digitalisierung verlangt andere Skills
Neue Projekte im Bereich Digitalisierung versprechen Wachstum, sie erfordern aber auch neue Kompetenzen. IDC-Experte Moussavi-Amin erwartet keine Full-Service-Provider, die sämtliche Anforderungen in diesem Segment abdecken können: "Die Vorhaben spielen sich vor allem im Bereich der Applikationen ab. Noch ist der Markt klein, er wird sich aber schnell entwickeln."
Zudem treten hier neue Wettbewerber mit Branchenspezialisierung in Erscheinung. Im Bereich Industrie 4.0 ist das etwa die Bosch Software Innovations GmbH, die das eigene Know-how als Zulieferer in die Waagschale wirft und mit viel Rückenwind in den Markt drängt. Theoretisch könnten auch die ausgelagerten IT-Einheiten großer Konzerne in diese Rolle schlüpfen, doch diese IT-GmbHs sind meist auf die klassischen IT-Betriebsdienste im Data Center konzentriert.
Viele IT-Verantwortliche ändern auch nichts an diesem Status quo. "Die CIOs trauen sich nicht aus dem Backend raus und schauen eher, wo sie die IT-Durchdringung mit ihren klassischen Leistungen weiter vorantreiben könnten", schildert Moussavi-Amin.
Gutes Fundament für den Wandel
Trotz allen Veränderungsdrucks steht die IT-Servicebranche auch in Zukunft gut da. Die Prognosen der Marktforscher unterscheiden sich leicht, doch alles in allem dürfte das Geschäft 2014 um rund fünf Prozent zulegen. Auch in den kommenden Jahren erwarten die Marktforscher gesundes Wachstum, zumal die meisten Anbieter den Wandel längst eingeleitet haben. Das gilt vor allem für IBM und Accenture.
IBM investiert schon seit vielen Jahren massiv in Software, nicht zuletzt rund um das Zukunftsthema Big Data und Data Analytics.
Accenture baut seit einiger Zeit das Know-how der Mitarbeiter konsequent aus. Ende 2013 hat der IT-Dienstleister den Start seiner Beratungssparte "Accenture Digital" mit 23.000 Mitarbeitern bekannt gegeben.
Ähnlich gut aufgestellt ist Capgemini. Die Franzosen haben ihren Portfolio-Mix entsprechend ausgebaut. Ein Beispiel ist "Capgemini Immediate", ein Cloud-basierendes E-Business-Framework, mit dem Kunden digitale Services verwalten können.
Auch die indischen Provider Infosys, Wipro, Cognizant und Tata entwickeln sich nach Beobachtung von Forrester-Analyst Matzke in diese Richtung und investieren zunehmend in wiederverwendbare Services.
Handlungsbedarf sehen die Marktbeobachter hingegen bei den heimischen Anbietern:
Atos stehe noch relativ weit am Anfang des Umbaus. Vielversprechende Ansätze zeigten jedoch das Cloud-Joint-Venture Canopy und die Aktivitäten rund um die Social-Collaboration-Suite Bluekiwi.
BeiT-Systems bemängeln die Analysten den späten Schwenk. Erste Aktivitäten reichten zwar schon weit zurück, etwa die Dynamic-Infrastruktur-Leistungen oder die Marktplatz-Initiative. Doch der Provider habe zu lange auf das klassische IT-Projekt- und Servicegeschäft vertraut. Erst seit Kurzem gebe es ein klares Bekenntnis zum digitalen Wandel.
Dennoch haben beide IT-Dienstleister aufgrund ihrer starken Bindung zur deutschen Industrie gute Voraussetzungen etwa im Umfeld von E-Health, Industrie 4.0 und Smart Energy. Sie werden in den kommenden Jahren zeigen müssen, dass sie ihr Potenzial ausschöpfen und den Wandel mit Nachdruck vorantreiben können.