Es ist eine Art Hassliebe: "Man schimpft oft über das System, hat es aber auch ganz gern", sagt Thomas Hemmerling-Böhmer, Bereichsleiter Informations-Service beim Sensorikhersteller Sick aus Waldkirch bei Freiburg. "Bei dem Gedanken an die Macht von SAP und die Abhängigkeit, in die wir dadurch geraten, ist uns nicht immer wohl." Andreas Resch, CIO und Geschäftsführer des Grevener Logistikers Fiege, nennt das Softwarehaus einen "attraktiven Moloch".
Die Methapher von der - laut Duden - "grausamen Macht, die immer wieder Opfer fordert und alles zu verschlingen droht", fällt auch bei Ralf Herzer, Leiter Betriebswirtschaft und Organisation der GNS Gesellschaft für Nuklear-Service, Essen. Hemmerling-Böhmer, Herr über 1000 Lizenzen: "SAP ist in der Tat der Moloch, der uns hilft, unsere Geschäftsprozesse abzudecken - aber auch zu einem hohen Grad beschäftigt."
Die Schwäche aller großen ERP-Anbieter in den Augen von Christian Glas, Berater bei Pierre Audoin Consultants (PAC): "Die Implementierung der Software ist immer noch zu komplex, zu aufwendig und zu teuer." Die Anpassung durch externe Partner dauere einfach zu lange. Für die Unternehmen seien das Produktivitätsverluste, und die könne sich derzeit keiner leisten. Hier müsse SAP aufpassen. "Die Total Cost of Ownership sind verglichen mit denen kleinerer Anbieter zu hoch", so Glas. SAP müsse die Anpassung der Programme an die Geschäftsprozesse simpler gestalten. "Doch vom großen Brocken Beratung lebt ja eine ganze Industrie", weiß Jens Jansen, IT-Vorstand beim CAD-Distributor Mensch und Maschine Software.
7,8 Milliarden Euro schwer ist der deutsche ERP-Markt nach Angaben von PAC in diesem Jahr. Auf 11,6 Milliarden soll das Marktvolumen bis 2006 klettern. Es gibt wenige Alternativen zum Walldorfer Anbieter, dessen Software von fast zwei Dritteln (63 Prozent) der großen deutschen Unternehmen eingesetzt wird. Der nächste Wettbewerber - Microsoft mit der Mittelstands-ERP-Lösung Navision - folgt mit 3 Prozent.
Wie abhängig sind die Unternehmen von SAP? Nutzt der ERP-Hersteller sein Quasi-Monopol aus? Nein, behauptet SAP-Europachef Michael Kleinemeier: "Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass wir unsere Marktstellung nicht ausnutzen wollen und werden."
Michael Kleinemeier, SAP-Präsident der Region EMEA Central „Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass wir unsere Marktstellung nicht ausnutzen wollen und werden.
Michael Kleinemeier, SAP-Präsident der Region EMEA Central „Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass wir unsere Marktstellung nicht ausnutzen wollen und werden.
Viele CIOs und IT-Leiter sehen das anders: "Wir stehen in einer absoluten Abhängigkeit", sagt zum Beispiel Michael Mielke, IT-Leiter der Kieler Raiffeisen Hauptgenossenschaft Nord AG. Für die Umstellung des Betriebssystems müsse man bei SAP in Walldorf einen Migrationsplan einreichen, den Plattformwechsel von einem zertifizierten Migrierer durchführen lassen und natürlich SAP-zertifizierte Maschinen einsetzen, berichtet er kopfschüttelnd. Für ihn gibt es ein "SAP-Kartell, das seine Machstellung ausnutzt und die Kunden immer wieder zur Kasse bittet".
"SAP ist wirklich gut, aber zu teuer." Der IT-Leiter, der das sagt, möchte nicht namentlich genannt werden, denn sein Arbeitgeber, ein IT-Beratungshaus, lebt davon, dass es anderen Unternehmen Dienstleistungen rund um SAP verkauft. Doch es klingt schon paradox, wenn er ergänzt: "Wir würden bei uns gern alle Prozesse mit SAP abdecken, doch das können wir uns selbst nicht leisten."
IT-Vorstand Jansen bestätigt: "SAP kostet eine Menge, und an der Wartung kann man nicht viel machen." Beim Wesslinger Mittelständler Mensch und Maschine Software laufen seit gut sieben Jahren Buchhaltung, Rechnungswesen, Einkauf und Logistik in elf Buchungskreisen und sechs Sprachen europaweit mit R/3. 70 Prozent des Umsatzes von 150 Millionen Euro kommen über den SAP-Shop ITS.
Jansens Rat: "Werdet unabhängig von den Beratern!" Bei Mensch und Maschine Software hilft das Systemhaus Plaut nur in Ausnahmefällen. Denn der Vorstand predigt: "Wir könnten erheblich sparen, wenn wir vieles selbst erledigen würden. Deshalb haben wir drei Leute ausgebildet, die nichts anderes machen als SAP und Integration." Nur wenn Mensch und Maschine Software die ERP-Software im Ausland ausrolle - wie 2004 in Polen und Großbritannien -, komme ein Berater mit Ortskenntnissen hinzu.
Ein Drittel der IT-Kosten für SAP
27,7 Prozent ihres IT-Budgets geben die Teilnehmer der CIO-Umfrage im Jahr durchschnittlich für Abschreibungen, Betrieb und Wartung ihrer SAP-Anwendungen aus. "IT hat einen hohen Stellenwert für uns; dennoch sind wir nicht gewillt, die immensen Kostenerhöhungen immer weiter mitzumachen", betont Hemmerling-Böhmer.
Im verarbeitenden und produzierenden Gewerbe liegt der Mittelwert laut Umfrage sogar bei 31,9 Prozent, bei den Finanzdienstleistern sind es immerhin 10,8 Prozent. Accenture hat sogar herausgefunden, dass mehr als ein Drittel (40 Prozent) aller IT-Ausgaben auf SAP-Lösungen und -Dienstleistungen entfallen. Jedes dritte Unternehmen findet die Betriebsausgaben für komplexe SAP-Lösungen (im Schnitt 3900 Euro jährlich pro Anwender) zu hoch.
Das US-amerikanische Forschungsinstitut Nucleus Research bescheinigt der SAP-Software denn auch ein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis. Das Besondere: Die Analysten befragten 21 der 93 Referenzfirmen, die SAP auf der eigenen Website nennt. Das Ergebnis: 57 Prozent der interviewten Kunden glauben, dass sie keinen positiven Return on Investment (RoI) erreicht hätten. Dabei betrugen die Lizenzkosten lediglich 18 Prozent der Investitionssumme; Berater und Schulung verschlingen bis zu 73 Prozent. Laut einer Maturity-Befragung unter Top-1000-Unternehmen im deutschsprachigen Raum erzeugen die Mitarbeiter den größten Kostenblock im R/3-Umfeld.
SAP war verunsichert; die Partner wanderten ab. "Wir haben uns über die Diskussionen gewundert", sagt Kleinemeier."Denn ein Prozess ist ein Prozess, egal ob er im Internet startet und im Backend aufhört - oder ob er nur im Backend oder nur im Internet stattfindet." Inzwischen, so Glas weiter, habe SAP mit neuen Themen wie CRM und SCM Großes geleistet und sich erfolgreich gegen die Best-of-Breed-Anbieter durchgesetzt.
Schlechte Informationspolitik
Dennoch fänden viele IT-Leiter die Kommunikations- und Informationspolitik nach wie vor unzureichend, beklagt sich etwa Ralf Herzer, IT-Chef der Essener GNS Gesellschaft für Nuklear-Service. Seine Firma kümmert sich um die Entsorgung von Kernkraftwerken und fertigt die Behälter zum Transport abgebrannter Brennelemente. Bei der 380 Mitarbeiter starken Tochter der Stromriesen Eon, EnBW und RWE laufe SAP (160 Lizenzen) zwar relativ problemlos.
Doch den Überblick über die Angebotspalette der Walldorfer scheint der IT-Chef des Mittelständlers längst verloren zu haben: "Bei einem solchen Funktionsumfang ist es schwierig zu erfahren, was der Moloch insgesamt bietet, welche Neuheiten es gibt. Ich habe nur einen Bruchteil der Zeit, die erforderlich wäre, um mich intensiv damit zu beschäftigen."
Die Kommunikationsschwierigkeiten des Softwareherstellers mögen auch damit zu tun haben, dass die Menschen vom Planeten SAP eine ganz eigene Sprache sprechen. Nicht nur die neue Klientel im Mittelstand, versteht diese Welt nicht mehr. "Das ist tatsächlich ein wunder Punkt bei uns", räumt Kleinemeier ein. "Es gibt kaum einen Satz, der kein Kürzel enthält. Wir wollen eine einfachere Sprache finden und unsere Mitarbeiter dazu anhalten, weniger Anglizismen und Abkürzungen zu benutzen."
Herzer wünscht sich mehr gezielte Informationen, mehr Transparenz und Übersicht. "Die Kommunikationspolitik von SAP ist nicht sonderlich gelungen", findet er. "Sie tun sich schwer, Anwender und Berater durch aussagekräftige Informationen zu unterstützen." Die SAP-Kundenzeitschrift, Herzer nennt sie "Postille", schmeiße er gleich in den Papierkorb, denn da werde das Interessante immer gut versteckt. "Da steht nur drin: ,Wir sind die Tollsten und Größten‘", schimpft er.
Info-Offensive der Anwendergruppe
Alfons Wahlers, IT-Leiter beim Autozulieferer Keiper in Kaiserslautern, will zusammen mit SAP noch in diesem Jahr eine Informationsoffensive starten. Wahlers ist Mitgründer und Vorsitzender der Deutschen SAP Anwendergruppe (DSAG). Der 1997 gegründete Verein, der wie SAP seinen Sitz in Walldorf hat, versteht sich als unabhängige Interessenvertretung von 1200 Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wahlers ist stolz, dass SAP im ständigen Dialog mit der User-Group steht und auf seine Vereinigung hört.
So habe die DSAG großen Anteil daran, dass die Kunden nicht von R/3 auf My SAP.com umsteigen müssen, sondern zunächst zu R/3 Enterprise migrieren können. Dass sich daraus allerdings ein Bündel neuer stratgischer Optionen ergebe, sei vielen CIOs nicht klar, so Wahlers. Ob My SAP.com, X-Apps oder Netweaver: Vieles sei noch erklärungsbedürftig, sagt auch Kleinemeier.
Alfons Wahlers, IT-Leiter Keiper, Vorsitzender DSAG „Wir haben maßgeblichen Anteil daran, dass die Kunden nicht von R/3 auf My SAP.com umsteigen müssen.
Herzer gibt zu bedenken, er wisse ja heute nicht, wie das Kräftemessen zwischen DSAG und SAP in Sachen My SAP.com ausgehe. Was er aber mit Sicherheit wisse: "SAP will neue Lizenzen verkaufen." Und da der IT-Leiter eine ausgereifte Version haben will, wird er beim Wechsel von R/3 4.6b zu R/3 Enterprise warten, bis es die ersten Patches gibt. Das wird erst im Herbst der Fall sein. "Aber wie sollen die Dienstleister alle Anwender in den letzten zwei Monaten des Jahres umstellen?", fragt sich Herzer. Wenn GNS jedoch bis 2004 wartet, muss das Unternehmen jährlich zwei Prozent höhere Wartungskosten bezahlen.
Die Release-Politik von SAP ist ein ständiges Ärgernis. Bei Mensch und Maschine Software sind die 100 Lizenzen für die 400 Beschäftigten immer noch auf dem Stand von 3.1, das nächstes Jahr ausläuft und durch R/3 Enterprise ersetzt wird. Jansen: "Das machen wir mit Absicht. Wir zögern den Wechsel so lange wie möglich hinaus, weil wir lieber länger auf einem stabilen Release sind." Drei bis vier Jahre seien ideal, weil man in dieser Zeit gut über die Prozesse nachdenken und sie bei Bedarf anpassen könne, so der Vorstand. Wer ständig wechsele, um auf dem neuesten Stand zu sein, finde dazu keine Zeit.
SAP zur Miete
Dass sich mit SAP-Anwendungen die Geschäftsprozesse, "das Core-Business oder Rückgrat der Unternehmen", wie Kleinemeier es nennt, abbilden lassen, darüber besteht weitgehend Einigkeit unter den Befragten. Der Mittelwert der Antworten liegt hier bei guten 4,38. Auch der Mittelwert für die Zufriedenheit mit der Qualität der Produkte ist mit 4,29 recht hoch; die Zufriedenheit mit den SAP-Dienstleistungen liegt bei 4,03. "SAP ist für uns eine Success-Story", sagt Jansen.
Die ERP-Anwendungen des CAD-Software-Distributors laufen zentral in Wessling; die Standorte sind über ein Virtual Private Network angebunden. "Dank des SAP-Internetshops kommen 70 Prozent aller Aufträge per Internet. Wir machen bei der Auftragsannahme kaum Fehler, was 30 Prozent weniger Retouren bedeutet. Europaweit konnten wir die Auftragsabwicklung von 25 auf 10 Leute reduzieren", so Jansen.
SAP werde die Preise nicht senken, sagt Kleinemeier, wolle den Kunden aber entgegenkommen und bald die Zusammenarbeit mit einem Finanzdienstleister verkünden. SAP-Software gibt es dann zur Miete. Auch Projekt-, Wartungs-, Implementierungs- und Hardwarekosten könnten bald in monatlichen Raten bezahlt werden. Von den Kunden wünscht sich der Europa-Chef, dass zum Start eines Projekts die Vorstellungen offen gelegt würden, "denn dann deckt sich am Ende die Realität mit der Erwartung. Wir wollen vom Kunden-Lieferanten-Verhältnis hin zu einer Partnerschaft kommen, in der sich alle frühzeitig sagen, wenn irgendetwas nicht stimmt" - damit aus der Hassliebe eines Tages wahre Liebe wird.