Ein Journalist veröffentlicht über Jahre in Zeitungen, Zeitschriften und Nachrichtenagenturen packende Reportagen, mit vielen Einzelheiten, süffig und elegant geschrieben. Er berichtet über einen Jungen in Syrien, von Bürgerwehren an der US-Grenze zu Mexiko, über Trump-Wähler in der amerikanischen Provinz. Seine Texte sind begehrt, mit 33 hat er mehrere Preise gewonnen, Jurys vergleichen seinen Stil mit Literatur. Der junge Mann gilt als "Edelfeder" und Vorbild für Spitzenjournalismus. Bis zu diesem Mittwoch.
Da präsentiert "Der Spiegel" eine Enthüllung in eigener Sache. In "großem Umfang" habe der Reporter, der seit 2007 bis zum vergangenen Montag für das Blatt in aller Welt unterwegs war, seine eigenen Geschichten gefälscht und Protagonisten erfunden.
Der Fall stürze das Nachrichtenmagazin in die vielleicht schwerste publizistische Krise seit seiner Gründung 1947, schreibt die Chefredaktion um den neuen Leiter Steffen Klusmann. "Das trifft ins Mark", sagt "Spiegel"-Geschäftsführer Thomas Hass. Eine Kommission aus internen und externen Experten soll klären, wie die Fälschungen überhaupt ins Blatt gelangen konnten. In einem langen Bericht zeichnet der "Spiegel" den Betrug nach und entschuldigt sich.
Institution erschüttert
Dass Redaktionen Betrügern und Fälschern aufsitzen, kommt immer wieder vor. Kein Medium ist frei davon, auf solche Fälschungen reinzufallen, sagte der Medienwissenschaftler Horst Röper (Formatt-Institut, Dortmund) im Sender HR Info. Von den gefälschten Hitler-Tagebüchern im "Stern" bis zu den erfundenen Promi-Interviews des Hochstaplers Tom Kummer im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" - Sensationslust, vermeintliche Exklusivität und Konkurrenzdruck wurden und werden auch Qualitätsmedien zum Verhängnis. Doch dem "Spiegel"?
"Sagen was ist", hatte "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein (1923-2002) das Credo des Blattes auf den Punkt gebracht. Informationen im "Spiegel" müssten stimmen, immer. Bei der "Spiegel"-Affäre 1962 stand die Redaktion im Mittelpunkt einer der ersten großen Kämpfe um die Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Die Zeitschrift wurde zum "Sturmgeschütz der Demokratie". Im Internet-Zeitalter hat sich die Öffentlichkeit aber radikal gewandelt.
"Lügenpresse", Fake-News - über Facebook und Twitter, auf Blogs und Webseiten sehen sich die Medien massiven, oft anonymen Vorwürfen und verbreiteter Skepsis ausgesetzt. Redaktionen geraten unter Druck - jetzt auch "Der Spiegel". Mit der Affäre wird das Blatt wohl sein Selbstverständnis neu definieren müssen. Sinkende Auflagen, die komplizierte Verzahnung von Print und Online - das Magazin hat bereits mehrere Baustellen und gerade wieder einen neuen Chefredakteur berufen. Nun kommt der Kampf um die Glaubwürdigkeit dazu.
Fakten ungeprüft veröffentlicht
"'Der Spiegel' ist für sein hohes Wahrheitsethos bekannt, für seine Verfahren des 'Fact Checking', die er wohl so aufwendig wie kein anderes Medium betreibt", sagte der Medienwissenschaftler und frühere Nachrichtenagentur-Journalist Volker Lilienthal (Universität Hamburg) der Deutschen Presse-Agentur. Der belastete Journalist habe vorzugsweise aus fernen Ländern berichtet, Faktenprüfung erreiche da eine Grenze. Die Redaktion müsse dem Reporter dann vertrauen können.
Lilienthal spricht von einem "Flurschaden" - nicht nur für den "Spiegel", auch für die gesamte deutsche Medienöffentlichkeit. "Wir kennen die ganze Schimpfrede von der Lügenpresse". Der bisherige "Spiegel"-Journalist habe dieses Gerede "fahrlässig munitioniert". Auf Twitter könne er sehen, wie sich nun Nutzer auf die Affäre stürzten. Der Gedankengang gehe dabei so: Weil der jetzt als Fälscher überführte Reporter auch an Titelgeschichten über den von Menschen verursachten Klimawandel mitgearbeitet habe, sei jetzt auch der Klimawandel eine Fälschung.
Er sei schon verzweifelt, sagt Cordt Schnibben, der lange auch "Spiegel"-Reporter war. Erst vor wenigen Wochen hatte das von Schnibben mitgegründete Reporter-Forum dem Betrugsverdächtigen den Deutschen Reporterpreis zuerkannt - zum vierten Mal. Am Donnerstag meldete sich der selber dann per SMS und gab seine Preise zurück.
Märchen statt Reportagen
"Die Reportage ist eine in der Jetztzeit angelegte Form, die Leser wollen ja gerade diese Zeugenschaft, sie wollen, dass jemand irgendwo hinfährt und möglichst unvoreingenommen sagt, was da los ist." Mit einem betrügerischen Reporter schlage dieses Genre aber gegen sich selbst aus. Das Reporter-Forum wolle jetzt grundsätzlich über das Genre Auslandsreportage nachdenken, sagt Schnibben.
Auch Medienwissenschaftler Lilienthal hat Zweifel. In Konkurrenz mit dem Fernsehen und Videos sei das Genre "immer filmischer" geworden und in einen "Aufmerksamkeitswettbewerb" mit den audiovisuellen Medien getreten. "Die Reportage ist nicht nur ein verführerisches, sondern auch ein gefährliches Genre." (dpa/rs)